Katharina Ceming
Mehr Spiritualität rettet die Welt! Diese Vorstellung ist vermutlich der verhängnisvollste Irrtum der modernen Spiritualitätsszene. Er gründet in der Überzeugung, Spiritualität sei so etwas wie ein Torpedoantrieb, der den Menschen in seinem gesamten Menschsein transformiere und ihn aus den Niederungen des Daseins in die Vollkommenheit der Wirklichkeit befördere – eine Ansicht, die in ähnlicher Weise auch in den traditionellen spirituellen Systemen gelehrt wurde und wird.
Doch wenn wir uns in der spirituellen Welt umsehen, so begegnen uns dort immer wieder Zeitgenossen, die zwar mit viel Energie und Engagement an der Perfektionierung ihrer spirituellen Seinsweise arbeiten und es darin tatsächlich auch zu Meisterschaft gebracht haben, die aber in anderen Bereichen des Lebens weitaus weniger Entwicklungshöhe erkennen lassen. So können Personen, die sich nur um ihr spirituelles Wachstum kümmern, mitunter sogar unangenehme und überhebliche Zeitgenossen sein, teilweise mit einem äußerst geringen Sensorium für die Bedürfnisse anderer.
Spiritualität – eine Frage der Bewusstseinsebene
Wieso verändert die Spiritualität einen Menschen nun nicht automatisch hinsichtlich seiner ethischen Prinzipien, seinen Haltungen zur Um- und Mitwelt oder im Hinblick auf weitere Lebensbereiche? Dies hängt mit zwei Faktoren zusammen. Der erste gründet darin, dass die spirituelle Erfahrung der Wirklichkeit, wie tief sie auch sein mag, immer von der den Menschen prägenden Bewusstseinsebene, die ihn wesenhaft bestimmt, mitgeprägt ist. Der zweite darin, dass die spirituelle Entwicklung nur eine Entwicklungslinie unter vielen umfasst. Dazu gleich mehr.
Meditation ist kein Ersatz für Schattenarbeit, denn sie löst die dunklen Seiten der Ichentwicklung nicht auf.
Wieso spielt die Bewusstseinsebene eines Menschen in der spirituellen Erfahrung eine Rolle? Unsere individuellen Bewusstseinsebenen bestimmen wesentlich unseren Bezug zur Weltwirklichkeit. Ob wir die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl oder nun in Japan als technische Katastrophe oder als Strafe Gottes verstehen, hängt u. a. von unserer Bewusstseinsebene ab. Erstere würden wir als rational, letztere als mythologisch bezeichnen. Beinhaltet aber die spirituelle Erfahrung nicht gerade die Überwindung aller relationalen Begrenzungen? Scheint in ihr die Wirklichkeit nicht unverstellt und völlig ungetrübt auf? Erleuchtung ist zwar ein Eintauchen in die Dimension des Nicht-Relativen, aber das Verständnis dieser Erfahrung vollzieht sich im Relativen. Dummerweise oder glücklicherweise lösen wir uns bei dieser Erfahrung nicht in nichts auf, sondern leben ganz „normal“ in und mit unserem Körper weiter, d. h. mit all unseren Vorstellungen, Konzepten, auch den genetischen und sonstigen Dispositionen. Zwar wird in den großen spirituellen Traditionen immer wieder darauf verwiesen, dass in der non-dualen Erleuchtungserfahrung die Identifikation mit diesen Aspekten durchbrochen wird – der Erleuchtete weiß, dass er mehr ist als das Ego mit all seinen Anschauungen etc. –, aber die Vorstellungen, Konzepte, Dispositionen verändern sich deshalb nicht automatisch.
Spirituelle Entwicklung führt nicht automatisch zu einem Fortschreiten auf anderen Entwicklungslinien.
Spiritueller Fundamentalismus
Ein Mensch kann also durchaus tiefe Einheitserfahrungen machen, auch wenn sein Wertesystem z. B. patriarchal, hierarchisch, autoritär oder ethnozentrisch geprägt ist. Wer in einer patriarchalen Kultur lebt, deren Werte er teilt, wird diese nicht einfach in Frage stellen, nur weil er das Göttliche oder die Transzendenz erlebt hat. So kann ein spirituell erfahrener und geachteter Lehrer trotzdem davon überzeugt sein, dass Frauen niemals dazu in der Lage sind, weil es nicht ihrem Wesen entspricht. Und ein bibeltreuer evangelikaler Christ, der eine Einheitserfahrung mit Jesus macht, wird sein Erleben im eigenen Lebens- und Verstehenskontext interpretieren, d. h. er wird seine Jesuserfahrung als Bestätigung seines Werte- und Glaubenssystems wahrnehmen. Und dieses Werte- und Glaubenssystem – das patriarchal, konservativ und ethnozentrisch ist –, lehrt ihn, dass die Bibel wortwörtlich zu verstehen und ihre Gebote wörtlich zu leben sind. Er wird sich dafür einsetzen, dass diese Werte von allen befolgt werden, da der einzige, wirklich der einzige Weg zum Heil nur über Jesus und das Befolgen seiner Botschaft zu erlangen ist. Andere Religionen sind nur Verirrungen, die nichts zum Heil des Menschen beitragen können. Weshalb sich ein solcher Christ vielleicht dazu berufen fühlt, seinen Glauben nun missionarisch besonders denen zu verkünden, die ihn gar nicht hören wollen.
Was mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht eintreten wird, ist, dass dieser Mensch bedingt durch seine spirituelle Erfahrung zu der Überzeugung gelangt, dass Gottes Liebe auf viele verschiedene Weisen erfahrbar ist und seine nur eine davon ist. Er wird deshalb kaum dazu tendieren, sich aktiv im interreligiösen Dialog und der Begegnung mit andersgläubigen Menschen zu engagieren. Zudem wird eine solche Erfahrung bei einem evangelikalen, fundamentalistisch orientierten Menschen in den wenigsten Fällen dazu führen, sich aktiv in anderen Feldern zu engagieren, beispielsweise gegen gesellschaftlich bedingte soziale Ungerechtigkeiten oder für den Umweltschutz, da beide Aspekte in seinem Wertekontext kaum eine Rolle spielen dürften. Ein evangelikaler Fundamentalist wird durch seine Erfahrung mit größter Wahrscheinlichkeit also noch intoleranter werden statt toleranter, da er sich jetzt vollkommen im Besitz des Heilsweges weiß.
D.h. auch eine Erleuchtungserfahrung ist immer in den konkreten historischen und sozialen Kontext eingebunden, der uns prägt. Erleuchtung ist zwar ein Eintauchen in die Dimension des Nicht-Relativen, aber das Verständnis dieser Erfahrung vollzieht sich im Relativen. Nur wenn wir bereit sind, unsere eigenen Grundlagen, Werte, Anschauungen, Überzeugungen etc. kritisch zu reflektieren, kann die spirituelle Erfahrung zu einer Weiterentwicklung in anderen Bereichen führen. Wo dem nicht Rechnung getragen wird, kann es schnell zu Problemen kommen.
Wachstum – kein Automatismus auf allen Entwicklungslinien
Und damit sind wir beim zweiten Faktor: der Tatsache, dass die spirituelle Entwicklung nur eine von vielen anderen Entwicklungslinien (kognitiv, sprachlich, künstlerisch, sozial, ethisch, kinästhetisch, spirituell, etc.) im Menschen darstellt. Mit ihr ist nicht das Wachstum all unserer anderen Fähigkeiten, insbesondere im Bereich der Moral und Werte, in der Art verknüpft, dass es zu einem parallelen Wachstum aller im Menschen schlummernden Entwicklungspotentiale kommen muss. Jemand kann im beruflichen Handeln sehr rational agieren, religiös und weltanschaulich jedoch von einem Denken geprägt sein, das hinter jeder Ecke Dämonen und Teufel vermutet, die dem Menschen nachstellen, und im künstlerischen Bereich eine herausragende Begabung haben. So wie wir uns kognitiv entwickeln können, ohne aber unsere Moral mitentwickeln zu müssen, können wir spirituell wachsen, ohne zwangsläufig unsere Werte, die uns und unseren Weltbezug prägen, zu hinterfragen.
Das Kokettieren mit den eigenen Schatten oder das sich darauf Ausruhen führt eher zur Vertiefung des spirituellen Narzissmus denn zu seiner Überwindung.
Meditation und Schatten
Oder aber wir verwechseln ethische Indifferenz und Bequemlichkeit mit der spirituellen Haltung des Nicht-Anhaftens. So wird die einfache Akzeptanz der dunklen Seiten des eigenen Egos zur spirituellen Tugend des „Alles ist, wie es ist“ umgewandelt, da jede Form von Bewertung als Ausdruck des dualen und somit unerleuchteten Bewusstseins gesehen wird. Somit führt das Kokettieren mit den eigenen Schatten oder das sich darauf Ausruhen eher zur Vertiefung des spirituellen Narzissmus denn zu seiner Überwindung. Wer all seine negativen Emotionen wie Wut, Zorn, Hass, Aggression, die immer wieder und wieder auftauchen, nur ansieht, ohne etwas verändern zu wollen, weil damit schon wieder eine negative Bewertung dieser Emotionen verbunden wäre, lebt nicht in einem Zustand des non-dualen Bewusstseins, sondern in einer spirituellen Bewusstseinsvernebelung. Anschauen alleine reicht also nicht, man muss tiefer gehen, an den Punkt, wo bereits die negative Bewertung eines Zustandes anfängt, der sich in letzter Konsequenz als Wut artikuliert. Dieser Punkt lässt sich aber in der Regel nicht durch die Meditation finden, da der Mensch in der Meditation zwar nach innen blickt, aber bestimmte Aspekte seiner selbst mit dieser Methode nicht sehen kann. Den eigenen Schatten wegzumeditieren, gestaltet sich als äußerst schwierig, weil er nicht mehr als ein Teil vom ICH erscheint. Er wurde zu einem ES, ansonsten wäre es kein Schatten. Die Meditation hat aber mit dem ICH zu tun. Die Konzentration auf das reine Sitzen, den Atem, auf ein Mantra oder einen Satz aus der Bibel etc. führt vielleicht irgendwann zu einer spirituellen Erfahrung, nicht aber zur Erkenntnis, dass die Wut, die Sie einfach anschauen, Ihre Wut ist, die eine konkrete Ursache in Ihrem Leben hat. Diese Einsicht fördert vielleicht eine Psychotherapie zu Tage, weil sie ihren Fokus auf einen anderen Bereich der Icherkenntnis richtet als die Meditation.
Die Falle der Prä-/Trans-Verwechslung
Eine weitere Klippe im Kontext der Spiritualität, an der nicht wenige Sucher und mystische Theoretiker, aber auch Wissenschaftler, die sich mit Spiritualität beschäftigen, Schiffbruch erleiden, ist die Verwechslung der prärationalen und transrationalen Erfahrung. Kurzum die Glorifizierung aller nicht-rationalen Bewusstseinszustände als spirituell wertvolle Erfahrungen. Was ist hier das Problem? Das Vor-Bewusste wird mit dem Trans-Bewussten verwechselt. Alles klar? Oder doch nicht? Wie bereits gezeigt, vollzieht sich die menschliche Entwicklung mit ihren unterschiedlichen Strängen (kognitiv, emotional, moralisch etc.) über verschiedene Stufen. Jede Stufe oder Ebene, was hier das Gleiche meint, ist gekennzeichnet durch typische Erfahrungen und Zugänge zur Welt. Es gibt im Bereich unserer Bewusstseinsentwicklung vor- oder präbewusste und nach- oder transbewusste Erfahrungen. Der Unterschied besteht darin, dass bei den vorbewussten noch gar kein duales Bewusstsein entstanden ist, während im transbewussten dieses bereits „überstiegen“ ist.
Ein Baby, das sich noch nicht von seiner Umwelt unterscheidet, lebt in einem vor- oder präbewussten Zustand, der etwas völlig anderes ist als der transbewusste. Diese Phase des Babys, der Nicht-Wahrnehmung des eigenen Egos und der Verschmelzung mit der Außenwelt, erlebte die gesamte Menschheit auch schon in einer frühen Phase ihrer Entwicklung. Der transbewusste Zustand transzendiert jedoch in einem höchsten Bewusstseinsakt die Dualität unserer alltäglichen Erfahrung von Ich und Du, Ich und Außenwelt. Hier existiert das Wissen um die Getrenntheit von Ich und Nicht-Ich, die dann in einem spirituellen Akt aufgehoben wird. Zwischen der Bewusstseinsstufe des ozeanischen Gefühls und dem des transrationalen Bewusstseins liegt also der fundamentale Unterschied, dass das prärationale Bewusstsein diese nur unbewusst erlebt, also nichts davon weiß. Oftmals wird dieser Unterschied aber nicht gesehen, wenn das Unterscheidungskriterium nur rationale und nichtrationale Erfahrungen kennt. Die Erfahrung der Überwindung der Ich-Begrenzung ist somit etwas völlig anderes als der unbewusste ozeanische Zustand, weil sie Ausdruck höchster Bewusstheit ist, die nicht mehr durch Dualität eingegrenzt ist. Spiritualität impliziert Entwicklung und Bewusstheit. Ohne sie verliert sie sich allzu schnell in Irrationalität, die von Kritikern der Spiritualität zu Recht kritisiert wird. Nur sitzen diese eben demselben Irrtum auf, wie nicht wenige Freunde der Spiritualität, die präbewusste und transbewusste Zustände für dasselbe halten. Der Unterschied zwischen ihnen liegt in der Bewertung: Die einen verwerfen alles, was nicht rational erscheint, die anderen halten unterschiedslos alles Nicht-Rationale für das Höherwertige. Impulse für ein verantwortliches Leben im Hier und Jetzt wird aber nur eine transrationale Spiritualität setzen können.
Dr. Dr. Katharina Ceming ist außerplanmäßige Professorin an der Universität Augsburg und arbeitet als freiberufliche Seminarleiterin und Publizistin. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den spirituellen Strömungen der großen Weltreligionen.
(aus: Quelle: IP 19 – 07/2011)