Wir sind der kommende Buddha!

Religion / Spiritualiät

Wir sind der kommende Buddha!

Integrale Spiritualität gemeinsam gestalten

Hanna Hündorf

Kennst du auch das Glücksgefühl, wenn du die richtigen Worte gefunden hast – und der vorher angespannte und verschlossene Gesichtsausdruck des Schülers, Klienten, Seminaroder Vortragsbesuchers vor dir öffnet sich und beginnt von innen zu leuchten? Ist für dich die Beschäftigung mit der integralen Theorie auch untrennbar verbunden mit einer eigenen spirituellen Praxis?

Vielleicht geht es dir (wie mir) auch vor allem darum, nicht nur die Landkarte zu studieren, sondern tatsächlich loszuwandern, die Tiefe des eigenen Wesens zu erforschen, die Auflösung der Einsamkeit und Begrenzung zu spüren, körperliche und geistige Glückseligkeit zu schmecken und diese Zustände dann in den Alltag hineinzutragen. Vielleicht hast du dir auf diesen Wanderungen bereits Kenntnisse des Territoriums angeeignet und begonnen, die Karten neu zu zeichnen und zu ergänzen, Reisegruppen zu führen und vor den Felsspalten und Wegelagerern zu schützen. Dann reiche ich dir meine Hand – lass’ uns gemeinsam schweigen und tanzen, lachen und weinen, lauschen und Offenbarungen enthüllen.

Von der Selbstentwicklung zur Unterstützung anderer

Wir alle sind bewusst dabei, uns selbst weiter zu entwickeln, und häufig entsteht dann auch der Wunsch, die Methoden, die wir für uns selbst als wirksam erkannt haben, auch an andere weiterzugeben. Vielleicht nur auf privater Ebene, im Freundeskreis oder als Hobby, als ehrenamtliche Tätigkeit, die immer weitere Kreise zieht und mehr und mehr Zeit und Interesse einnimmt, bis hin zur professionellen Anwendung in klassischen Rollen als Ärztin, Therapeut, Pädagogin oder Sozialarbeiter, in neuen Modeberufen wie Coach, Seminarleiterin, Personal Mind Trainer und wiederentdeckten alten Rollen als Schamanin, Heiler oder Guru.

Dies ist ein Aufruf an alle Menschen, die integral informiert und engagiert sind und in irgendeiner Form anderen Menschen helfen, ihrem evolutionären Impuls zu folgen und sich weiter zu entwickeln. Gemeinsam verfügen wir über eine ungeheure Kompetenz und Erfahrungen. Lasst uns diese zusammentragen und voneinander lernen, Methoden kategorisieren für verschiedene Ebenen, Linien und Typen. Es gibt Methoden, die wirken fast wie Universalschlüssel, die Blutgruppe 0 der spirituelle Notfallmedizin. Andere sind ungeheuer wirksam, aber nur in einem bestimmten Bereich (Linie oder Ebene) – dies ist den Anwendern und Kunden aber nicht immer klar.

Was ist integrale Spiritualität?

Bei dieser Arbeit – dem Zusammentragen, Vergleichen und Verbinden – muss das Ziel sehr klar sein. Es kann nicht darin bestehen, einen Einheitsbrei herzustellen, wie das Vermischen aller Farben zu braun. Eher ein Ordnen wie in einem Regenbogen oder ein lebendiges Ineinanderfließen wie in einer Seifenblase oder einem Kaleidoskop. Durch die integrale Sichtweise wird es möglich, einander widersprechende Ansätze nebeneinander stehen zu lassen, starre Dogmen zu transzendieren und wertvolle Inhalte aus allen Ebenen zu erhalten. Hierbei denke ich zum Beispiel an die purpurne Ebene, deren Pflege durch Rituale, Geschichten und Bilder ein wichtiges Element einer umfassenden Spiritualität sein muss, um die Anbindung an unsere tiefen Wurzeln zu sichern. Nur wenn eine Ebene unter Ausschluss der anderen verherrlicht und als absolut dargestellt wird, gibt es ein Problem. Diese Gefahr besteht aber auch auf den höheren Ebenen! Gott (wer immer sie ist) behüte uns vor integralen Fundamentalisten!

Im Frühjahr 2010 gründeten Michael Habecker, Sonja Student und Helmut Dörmann gemeinsam mit einer Reihe von spirituell Lehrenden die „Schule für Integrale Spiritualität“, brachten ein Positionspapier zum Thema „spirituelle Lehrer“ heraus und baten einige ausgewählte Lehrerinnen um eine Stellungnahme. Ich war und bin begeistert von dieser Initiative und würde gern daran teilhaben und die Diskussion neu ankurbeln, um viel mehr Stimmen zu hören und ein sich ständig weiter entwickelndes Bild davon entstehen zu lassen, was integrale Spiritualität ist und werden könnte, und welche ethischen Regeln gelten sollten.

Was zeichnet spirituell Lehrende aus?

Um die Messlatte ein wenig herunterzusetzen, würde ich den Begriff „spirituelle Lehrerin“ folgendermaßen definieren:

Eine spirituelle Lehrerin bzw. ein spiritueller Lehrer ist eine Person, die sowohl über theoretische Kenntnisse als auch langjährige praktische Erfahrungen eines spirituellen Weges verfügt und dieses Wissen an andere Menschen vermittelt, um sie darin zu unterstützen, ihren eigenen spirituellen Weg zu finden und sich darauf weiterzuentwickeln.

Bei der Frage, ob man sich als spiritueller Lehrer verstehen kann, ist meiner Ansicht nach der Grad der Verwirklichung (wie will man diesen auch messen?) oder der Bekanntheit nicht das entscheidende Kriterium, sondern ob eine Person in der Lage ist, Menschen nachhaltig zu helfen, selbstständiger, glücklicher und reifer zu werden. Außerdem geht es um die Frage der Integrität: Lebe ich, was ich predige? Kann ich mit Macht umgehen, und bin ich mir meiner Schatten bewusst?

Dies erfordert ein ausgewogenes Verhältnis von gesundem Stolz und Demut. Diane Hamilton ist für mich ein schönes Vorbild – sie ist sehr bekannt und charismatisch und erreicht sehr viele Menschen. Dabei tritt sie selbstbewusst und strahlend auf, aber gleichzeitig zutiefst demütig und voller Achtung und Interesse gegenüber jedem einzelnen Menschen, den sie trifft.

Vom Buddha zur Sangha

Manchmal wird gesagt, der nächste Buddha wird eine Sangha sein – womit wohl gemeint ist, dass es auf den integralen Bewusstseinsstufen nicht mehr angemessen ist, eine Einzelperson als Vorbild und Führung zu nehmen, sondern eher eine ganze Gruppe von Weggefährten, die ihre transzendenten Zustandserfahrungen immer mehr stabilisiert und vertieft haben.

Die schon erwähnte „Schule für integrale Spiritualität“ versucht unter anderem, objektive, wissenschaftliche Kriterien für spirituelle Lehrer aufzustellen – vor allem im oberen rechten und den beiden unteren Quadranten, denn im Zentrum stehen das konkrete Verhalten von Lehrenden, ihre Wertebezüge sowie systemische Fragen der Schüler-Lehrer-Beziehung. Dies ist ein ganz wichtiges Unterfangen, um eine Spiritualität oder wahre Geistes-Wissenschaft zu schaffen, die für rational denkende, aufgeklärte Menschen akzeptabel ist. Parallel fände ich es aber sehr wichtig, sich auch dem oberen linken Quadranten zu widmen, der Innenperspektive der Lehrenden.

Meine Idee hierzu: Ich beginne damit, mir selbst ganz ehrlich ein paar tiefe Fragen zu stellen – sie vielleicht laut zu beantworten oder aufzuschreiben. Dann spreche mit meiner Peer Group – anderen spirituellen Lehrerinnen – darüber. Dies könnte zum Beispiel in einer geschlossenen Gruppe im Forum des IF stattfinden. Besser natürlich in realen Treffen … Wir könnten Fortbildungsreihen entwickeln, in denen wir uns gegenseitig fehlende Aspekte vermitteln, Ähnlichkeiten zwischen den Traditionen entdecken, spirituelle Inhalte vom mythischen Ballast befreien und durch moderne psychologische Erkenntnisse ergänzen.

Eine Bewegung, die etwas bewirken kann

Als nächsten Schritt (oder parallel) könnten wir damit an die Öffentlichkeit gehen, in Artikeln, Blogs, Vorträgen und Seminaren, um unsere Erkenntnisse Suchenden mit integralen Kapazitäten zur Verfügung zu stellen. Wir verabschieden uns von Einzelkämpfertum und Konkurrenz und werden zu einer Bewegung, die wahrgenommen wird und etwas bewirken kann.

Folgende Fragen fallen mir spontan ein:

  • Was bedeutet Spiritualität für mich? Was macht sie integral?
  • Gehöre ich einer spirituellen Organisation an? Fühle ich mich dort ganz und gar zu Hause oder ist mein Verhältnis zwiespältig? Habe ich mich vielleicht aus einer Organisation verabschiedet und sehne mich nach einer neuen Sangha?
  • Welche Ordensregeln und/oder ethischen Richtlinien befolge ich? Welche Regeln halte ich für unabdingbar für eine integrale Spiritualität?
  • Welchen Stellenwert haben Tradition, Übertragungslinie und Hingabe zum eigenen Lehrer für mich?
  • Gibt es für mich eine höhere Instanz, und wie benenne/beschreibe ich sie?
  • Sehe ich einen Weg (bzw. die Notwendigkeit), die alten Traditionen von der blauen Ebene auf die höheren Ebenen zu übersetzen und weiterzuentwickeln? Oder braucht es meiner Ansicht nach eine ganz neue Form der Spiritualität?
  • Inwieweit vereinigt mein spiritueller Weg den aufsteigenden (Eros) und absteigenden (Agape) Aspekt?
  • Wie definiere, praktiziere und lehre ich die drei Gesichter Gottes/Spirit?
  • Was ist das Ziel meiner eigenen spirituellen Praxis?
  • Was ist das Ziel meiner Lehrtätigkeit?
  • Wie passen diese Ziele in den integralen Rahmen, insbesondere die Quadranten?
  • Worin liegt meine Verantwortung gegenüber meinen Schülern und der Welt?
  • Bin ich bereit, öffentlich über meine inneren Erfahrungen und den Grad meiner Verwirklichung Rechenschaft abzulegen? Oder sehe ich dies als unpassend an beziehungsweise ist es mir sogar in meiner Tradition untersagt, dies preiszugeben?
  • Welcher persönlichen Stärken und Schwächen bin ich mir bewusst? Welche Schattenthemen habe ich bereits bearbeitet? Wo ahne ich nur etwas, das mich in meiner Entwicklung und/oder meiner Lehrtätigkeit behindert?
  • Was sind meine Erfahrungen mit Segen, Einweihung, Offenbarung und Gnade? Lassen sich diese beschreiben?Lassen sie sich herbeiführen oder zumindest ermöglichen?
  • Welche Gedanken und Erfahrungen habe ich zum Thema Charisma, Macht (auch im positiven Sinne!), Demut und Bescheidenheit?
  • Inwieweit fördere ich zeitweilige Abhängigkeit (Übertragung) bzw. Eigenverantwortung in meinen Schülern? Geschieht dies bewusst und habe ich die Situation im Griff?
  • Was ist meine persönliche Einstellung in Bezug auf sexuelle Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern? Habe ich positive oder negative Erfahrungen in dieser Hinsicht?
  • Finanziere ich meinen Lebensunterhalt aus meiner spirituellen Lehrtätigkeit? Habe ich damit ein Problem oder bin ich damit ganz im Reinen?
  • Inwieweit ist mein Privatleben transparent und im Einklang mit meinem öffentlichen Auftreten?
  • Bin ich im Austausch mit anderen spirituellen Lehrerinnen innerhalb und außerhalb meiner eigenen Organisation?
  • Habe ich den Wunsch nach mehr Austausch mit anderen integralen spirituellen Lehrern (Peer Group)?
  • Was sind meine Vorbehalte gegen einen solchen Austausch? Wo sehe ich Schwierigkeiten?
  • Worin besteht für mich die Funktion einer Schule für Integrale Spiritualität? Was möchte ich dazu beitragen?
  • Welche zusätzlichen Fragen sind für mich relevant?

Ich würde mich freuen, von euch zu hören, auch gern per E-Mail: hanna@kiel.samye.org

Hanna Hündorf kam kurz nach dem Abitur auf der Suche nach einer alternativen Lebensgemeinschaft in das tibetisch-buddhistische Kloster und Seminarzentrum Samye Ling in Schottland, wo sie insgesamt 18 Jahre bleiben sollte. Hier hat sie den traditionellen Weg sehr konsequent gelebt und erforscht und so einen tiefen Einblick in dessen Möglichkeiten und Hindernisse erhalten. Nach einem traditionellen Dreijahresretreat war sie fünf Jahre im buddhistischen Zentrum in Hamburg als Lehrerin, Ansprechpartnerin und Übersetzerin (aus dem Englischen) für den tibetischen Lama tätig. Danach hatte sie die kostbare Gelegenheit, ihre Erfahrungen in einem zweiten Dreijahresretreat zu vertiefen. Seit 2006 wohnt sie in Kiel, um sich um ihre Mutter zu kümmern. 1997 begann sie, die Bücher von Ken Wilber zu lesen und seit 2009 ist sie aktiv im Integralen Forum und leitet den Kieler Salon.

(aus: Quelle: IP 23 – 12/2013)

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