Bewusster Kapitalismus

Wirtschaft

Bewusster Kapitalismus

Ken Wilber und Bert Parlee

Einleitung und Zusammenstellung: Michael Habecker

Jedes Business hat aus sich heraus die Fähigkeit, tiefere Bedeutungen, Sinn und Zweck zu entdecken und zu erschaffen, der über die Profitmaximierung hinausrecht. Dies führt zu ethischen und bewussten geschäftlichen Aktivitäten, welche langfristigen Wert und Bedeutung erzielen für alle darin involvierten Teilhaber im weitesten Sinn: Kunden, Mitarbeiter, Investoren, Zulieferer, Gemeinden, Gemeinschaften und die Umwelt. Diese Werterschaffung für alle Teilhaber, bei der es nicht alleine um Profit geht, erschafft – paradoxerweise – langfristig den größten Wert auch für Investoren. (IntegralLife.com)

Einleitung

Der Begriff „Kapitalismus” ist sowohl individuell wie auch kulturell emotional bedeutungsbeladen wie kaum ein anderer Begriff. Gleichzeitig wird er auf unabsehbare Zeit Bestandteil des Wortschatzes und auch der Diskussionen bleiben, und daher ist es wichtig sich klar zu machen, was damit jeweils gemeint ist, wenn das Gespräch darüber Früchte tragen soll. Aus dem integralen Rahmen heraus sind mindestens zwei ganz unterschiedliche Definitionen erkennbar, die beide ihren Platz haben, jedoch voneinander zu differenzieren sind:

  • Kapitalismus als eine Kombination von hohen technologischen und funktionalen Einsichten mit einer niedrigen Moralvorstellung. Das Ergebnis ist ein rücksichtsloser Wirtschaftsliberalismus, bei dem in einem „freien Spiel der (Markt)kräfte“ der Stärkere die Oberhand (und den Profit) für sich behält. Soziale und ökologische Belange spielen dabei keine Rolle.
  • Kapitalismus als die Außenseite wirtschaftlicher Aktivität auf jeder Entwicklungsebene. Weil die Quadranten ganz nach oben und ganz nach unten reichen, hat jede kulturell-wirtschaftliche Aktivität immer auch eine sichtbare Außenseite und Form, doch die ist von Entwicklungsebene zu Entwicklungsebene ganz unterschiedlich, auch mit ihren Auswirkungen auf die beteiligten (oder unbeteiligten) Menschen. Nimmt man die moralische Entwicklungsskala dabei als einen Maßstab, dann werden mit immer höherer Entwicklungsstufe immer mehr Menschen und Wesen in die Betrachtungen zum Wirtschaftsgeschehen mit einbezogen. Das Wirtschaftssystem ist dann nicht mehr nur mit liberalen Freiheiten ausgestattet, sondern ebenso mit sozialen Pflichten und ökologischer Verantwortung als einer Integration der großen Drei: Ich, Wir und Es. Bei dieser Betrachtung ist Kapitalismus lediglich ein Werkzeug, bei dem es darauf ankommt, was Menschen daraus machen.

Es geht also einmal mehr um die Frage der Bewusstheit, d.h. um einen bewussten Kapitalismus. Wie bewusst sind wir uns unserer wirtschaftlichen Handlungen, deren Auswirkungen auf andere Menschen und Wesen, individuell und kollektiv? Worum geht es uns in unserem Leben und welche Ziele verfolgen wir mit unseren wirtschaftlichen Aktivitäten? Leben wir auf Kosten anderer Menschen oder der Umwelt oder können von dem, was wir tun, andere Menschen und die Umwelt profitieren? Wie findet in einer Unternehmung der Interessenausgleich statt zwischen den Arbeitnehmern, den Kapitalgebern, den Unternehmern, den Kunden, Lieferanten und der Gesellschaft insgesamt? Was bedeutet „Gerechtigkeit“ jeweils bezogen auf konkretes wirtschaftliches, individuelles und kollektives Handeln? Wie sieht der gegenwärtige Stand des „Kapitalismus“ in der westliches Welt aus, und wohin könnte/sollte sich dieser entwickeln (wenn überhaupt)? In welchen Formen und Strukturen sollen unsere wirtschaftlichen Aktivitäten stattfinden? Wie lassen sich individuelle Freiheiten, kollektive Pflichten und ökologische Notwendigkeiten in einer Wirtschaftsverfassung beschreiben und wie können sie konkret miteinander integriert werden? Wie können – endlich – die so bedeutenden geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse über den Menschen und sein Bewusstsein (den linksseitigen Quadranten) Eingang finden in den akademischen wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs, der fast ausschließlich von Verhalten und systemischen Beschreibungen bestimmt wird (die rechtsseitigen Quadranten)?

Bewusster Kapitalismus ist ein erster Versuch zur Schaffung eines systemischen Business. Damit wird der Materialismus und Reduktionismus des 17. und 18. Jahrhunderts überwunden.

Wie kann ein wirtschaftlicher Interessenausgleich stattfinden zwischen den unterschiedlichen Entwicklungsebenen, von egozentrisch zu soziozentrisch bis zu weltzentrisch, so dass jede Ebene zu ihrem Recht kommt, die Wirtschaftspolitik jedoch die Interessen aller berücksichtigt und damit von der höchstmöglichen Entwicklungsebene her ausgeübt wird?

Das Gespräch

Bert Parlee: In seinem berühmten Buch Wohlstand der Nationen beschreibt Adam Smith 1776, wie durch individuelles Eigeninteresse und eine „unsichtbare Hand“ Transaktionen zum gegenseitigem und allgemeinen Vorteil entstehen können. Wie ist es dazu gekommen, dass davon nur noch Profit als Zweck übrig geblieben ist?

Ken Wilber: Bewusster Kapitalismus entstand mit der pluralistischen (relativistischen, individualistischen, grünen) Entwicklungswelle, in den sechziger Jahren. Diese Entwicklungswelle kennzeichnet die Boomer-Generation, sowohl mit ihren Licht- wie auch mit ihren Schattenseiten. Was wir hier im Guten finden, ist die Sensitivität gegenüber sozialer Verantwortung, die Würdigung von ethnischen Minderheiten und den Schutz der Umwelt – alles das, was wir mit einer „ethischen Orientierung“ bezeichnen. Schauen wir von hier aus zurück, warum Business und ökonomische Theorien dies in den zurückliegenden Jahrhunderten nicht berücksichtigt haben und warum „Ökonomie“ bis auf den heutigen Tag nach wie vor lediglich das Studium des Austausches von Gütern und Dienstleistungen umfasst. Ich denke, es besteht kein Zweifel, dass der Beginn von dem, was wir heute unter „Ökonomie“ verstehen, etwa zeitgleich im 18. Jahrhundert mit dem Auftauchen der formal operationalen Entwicklungsstufe begann, der egoisch-industriellen Entwicklungsstufe, dem orangen Mem, dem erfolgsorientierten Selbst [achiever]. Dies war unglücklicherweise im Westen begleitet von einem schlimmen Reduktionismus der nur äußerlich-objektive Wahrheit anerkannte, die Naturwissenschaften. Von der Dreiheit des Wahren, Schönen und Guten wurde nur das Wahre als real betrachtet, und das Gute und das Schöne blieben unberücksichtigt. Daraus entwickelte sich der wissenschaftliche Materialismus als das offizielle westliche Dogma, die offizielle westliche Sichtweise von dem, was als real angesehen wurde. Bezogen auf das Geschäfts- und Wirtschaftsleben bedeutete dies den materiellen Austausch. Der Antrieb dazu kam vom erfolgsorientierten Selbst, immer wieder und immer wieder. Doch das führt nicht zu mehr Gutemund zu mehr Schönem, zu mehr Harmonie und Einheit, sondern zu mehr Materie, was bedeutet, zu mehr Geld. Hier sind Ökonomie und Business steckengeblieben, in diesem Flachland einer wissenschaftlich-materialistischen Betrachtungsweise von Wirklichkeit, einschließlich der Motivationen, welche Individuen antreiben. Diese Sichtweise hat die Ökonomie reduziert. Statt einer Betrachtung eines systemischen Ganzen, einem Studium, welches die Austauschbeziehungen vielfältiger Anteilseigner betrachtet, wird lediglich nur noch der einzelne individuelle und materialistische Eigentümer betrachtet, unter Ausschluss anderer Teilhaber wie der Gemeinschaft, den Kunden, den Angestellten und der Umwelt. Mit dem Auftauchen der grünen Entwicklungsebene kam die holistische und systemische Sichtweise hervor, als eine neue Weise des Denkens, Fühlens und Handelns und die Anforderung an menschliche Aktivitäten daraus. Das Geschäftsleben ist eine menschliche Aktivität, die von dem Hervortreten der grünen Erntwicklungswelle profitierte. Natürlich hat bewusster Kapitalismus auch mit der nächsthöheren Entwicklungswelle, der integralen Entwicklungswelle zu tun, doch es begann mit den „kulturell Kreativen“, mit der pluralistischen Entwicklungswelle, und mit den vielen Teilhabern im weitesten Sinn und ihrer Verbindung, Vernetzung und Abhängigkeit untereinander. Geschäftliche Aktivitäten müssen dabei den Bedürfnissen aller Teilhaber gerecht werden und nicht nur den Bedürfnissen von einem von ihnen. Kapitalismus ist ein Werkzeug, bei dem es darauf ankommt, was Menschen daraus machen.

BP: Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass im Verhältnis zu dem, was vorher war, vor dem Beginn des Kapitalismus, kein freier und freiwilliger Austausch, kein wechselseitiger Nutzen bei den Transaktionen stattfand, und dass hier sogar der frühe Kapitalismus vieles verbessert hat. Der Lebensstandard stieg dramatisch. Vor etwa dreihundert Jahren befanden sich glaube ich, 95 Prozent der Weltbevölkerung in Armut. Heute sind wir bei vielleicht 60 Prozent. Der Kapitalismus hat hier also einiges erreicht. Aber das ist noch nicht genug, und die Evolution geht weiter, und heute müssen wir neue Antworten geben.

Betrachten wir den bewussten Kapitalismus unter dem Gesichtspunkt des Wahren, Schönen und Guten, dann ist das Gute in einem Markt (die unteren Quadranten) der Dienst an anderen, was bedeutet, dass die Bedürfnisse anderer wahrgenommen werden, und die Dienstleistung ist daher auch in gewisser Weise ein Ausdruck von Liebe, Fürsorge und Mitgefühl. Dies unterstützt das Wachstum emotionaler Intelligenz in Menschen und Organisationen.

Was das Wahre betrifft, gibt es viele Unternehmen, die wissenschaftliche Entdeckungen machen und damit die Lebensqualität positiv beeinflussen. Das Schöne spricht unseren ästhetischen Sinn an, schönes Design macht uns Freude.

KW: Ja, der frühe Kapitalismus wird oft ausschließlich als böse und furchtbar dargestellt, arme Menschen wurden in die Fabriken gezwungen. Doch viele kamen freiwillig, weil sich dadurch ihr Lebensstandard erhöhte. Also selbst am Beginn des Kapitalismus brachte dieser auch Positives, und viele der Gründerfiguren waren moralisch weit entwickelt. Doch dann kam die Ausbeutung, und die Moral wurde schnell zu einem Thema. Man sollte sich dabei daran erinnern, dass der Kapitalismus selbst nicht notwendigerweise ein Übel an sich ist, es kommt darauf an, wie man dieses System anwendet, was man damit macht, welche Entscheidungen man trifft. Das ist gut oder böse. Wir müssen die Vorstellung überwinden, dass der Kapitalismus an sich eine schlechte Idee ist.

Was Kapitalismus lediglich meint ist, dass die Produktionsmittel von Individuen besessen werden sollten. Der große Konkurrent des Kapitalismus über Jahrhunderte war der Kommunismus, der der Meinung ist, dass die Produktionsmittel dem Staat gehören sollten. Die Linken haben dabei den Kommunismus favorisiert, weil der Staat in den meisten Fällen ethischere Wahlmöglichkeiten hat gegenüber Individuen, die sich auf präkonventionellen Entwicklungsstufen befinden (mit sehr unethischen Einzelpersonen, die kapitalistische Unternehmungen führen). Der Staat kann demgegenüber, so wird angenommen, bessere Entscheidungen treffen und beispielsweise Minderheiten integrieren. Ein bewusster Kapitalismus nimmt das Beste von beidem. Das Beste beim Kommunismus ist der angenommene höhere Entwicklungsstand, den der Staat einnehmen kann gegenüber einem kriminellen Individualbusiness, doch dabei werden die guten Eigenschaften des Kapitalismus bewahrt, die in einer Förderung von Eigeninitiative, individueller Leistungsbereitschaft und dem Etwas-erreichen-wollen bestehen. Das Ganze wird dabei in einem integralen Kontext gesehen, in einem Kontext von Ich, Wir und Es oder Kunst, Moral und Wissenschaft oder dem Guten, dem Wahren und dem Schönen. Dabei wird anerkannt, dass jede Businessaktivität ein Teil dieses systemischen integralen Rahmens ist. Bewusster Kapitalismus ist in diesem Sinn ein erster Versuch zur Schaffung eines systemischen und zusammenhängenden Business, gegenüber einem atomistischen Business. Damit wird der Materialismus und Reduktionismus des 17. und 18. Jahrhunderts überwunden, und wir gelangen zu einem holistischen Business. Beginnt man erst einmal, holistisch, integral oder zumindest grün zu denken, dann erkennt man, wie die eigenen Handlungen nicht nur einen Einfluss auf die Investoren haben, sondern auch auf die Kunden, die Angestellten, die Lieferanten, die ganze Gemeinschaft und Gesellschaft und die Umwelt und den ganzen Planeten. Dieses Business steht wieder in Verbindung mit allem, es hat eine soziale Verantwortung, es ist Teil eines Netzwerken von Entscheidungen und Wirklichkeiten, die einen wesentlichen Einfluss auf unser alltägliches Leben haben. Ein derartiges Business führt uns heraus aus dem Reduktionismus und dem wissenschaftlichen Materialismus, hin zum Wahren, Guten und Schönen.

Mit dem Eintreten in die transpersonalen Entwicklungsstufen geht es nicht mehr nur um uns selbst und unseren Mangel und das, was uns fehlt, sondern das Geben wird immer wichtiger.

BP: Ja, ich kenne viele Ansätze mit guten Absichten, die aber letztendlich reduktionistisch sind. Wenn wir uns beispielsweise den Kommunismus anschauen, der ja eine Wertetheorie hat, die auf Arbeit basiert, dann ist dort nicht der Wert enthalten, der erst durch ein Management erschaffen wird, strategische und planerische Arbeit, unternehmerischer Geist, das Investitionsrisiko; Menschen setzen Kapital ein, Eigentümer, die sich mit ihrem Eigentum wie Grundstücken einbringen – dies alles bleibt unberücksichtigt, wenn ausschließlich Arbeit als werteschaffender Faktor berücksichtigt wird. Marxismus hat eine gute grüne Sensitivität, doch mit der Tendenz, alles zu nivellieren.

Worüber wir jetzt sprechen, sind umfassendere Ansätze. Was John Mackey[1] in seiner Arbeit hinsichtlich bewusstem Kapitalismus macht und auch auf sein eigenes Business anwendet: Er beginnt mit der Aufmerksamkeit auf den Kunden, ohne den wir kein Business hätten, und der dadurch wert-voll ist. Um Kunden einen guten Dienst zu erweisen, braucht es ein motiviertes Team und gute Partnerschaften mit anderen Geschäftspartnern, Zulieferern, wert-volle Beziehungen, die wiederum zu wert-vollen Produkten und Dienstleistungen führen. Eine derSchattenseiten des konventionellen Kapitalismus ist eine Art Gewinner-Verlierer Mentalität, ein Nullsummenspiel, bei dem ein Gewinn nur auf Kosten eines Verlustes an anderer Stelle entsteht. Dies ist eines der Dinge, die von einem bewussten Kapitalismus zu korrigieren wären. Geschäftspartner sind vor allem auch Partner, und es wird eine Win-Win-Situation angestrebt.

Mit dem Eintreten in die transpersonalen Entwicklungsstufen geht es nicht mehr nur um uns selbst und unseren Mangel und das, was uns fehlt, sondern das Geben wird immer wichtiger, wir kümmern uns um immer mehr Menschen und Dinge, die Gemeinschaft, in der wir leben, und den Planeten insgesamt, und das gilt auch für Unternehmen.

[1] A. d. Ü.: John Mackey ist Chef von Whole Foods Market, einer der weltweit größten Ketten für Bio-Lebensmittel.

(Quelle: Dieser Beitrag basiert auf dem ersten Teil eines Gesprächs zwischen Bert Parlee und Ken Wilber, veröffentlicht auf www.IntegralLife.com unter dem Titel: Like It or Not, You‘re a Capitalist. But Are You a Conscious One?)

(aus: IP Nr. 16/ 2010)

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