Ein Interview mit Brian Robertson über Holacracy, eine Praxis für Organisationen
Die komplexen Anforderungen im heutigen Business, aber auch ineffiziente und wenig zielführende Prozesse, lassen Führung in Organisationen zum Drahtseilakt mit Absturzgefahr werden. Im Interview mit Dennis Wittrock (März 2010) erklärt Holacracy-Begründer Brian Robertson, wie diese neuartige Praxis für Organisationen Führung von Grund auf transformieren kann und es ihnen erleichtert, ihrem eigentlichen Zweck am besten gerecht zu werden.
Dennis Wittrock: Brian, bitte beschreibe Holacracy in Hinsicht auf seine Leadership- und Steuerungs-Prozesse.
Brian Robertson: Es gibt einige Kern-Aspekte, die wichtig sind, um Holacracy zu verstehen. Der erste ist das Steuerungsprinzip – das sich von dem, was wir im Business gewohnt sind, unterscheidet. Ein Großteil des Managements und von Leadership heute basiert auf dem, was ich ein Modell des Voraussagens und Kontrollierens nenne. Der Schwerpunkt liegt darauf vorauszusagen, wo wir sein wollen, welche Ziele wir haben, wo wir am Ende stehen wollen, und zu versuchen, eine entsprechende Struktur zu schaffen und zu kontrollieren, dass das geschieht. Normalerweise geht damit eine Top-Down-Qualität einher, eine Qualität des Befehlens und Kontrollierens. Stell’ dir als Metapher vor, wir würden so, wie wir moderne Organisationen managen, Fahrrad fahren. Wir haben in der Ferne ein Ziel und dann kalkulieren wir exakt den perfekten Winkel, in dem wir den Lenker halten müssen, um es zu erreichen, und kalkulieren auch vorab genau, wann wir jeweils lenken werden, und dann – aus Angst, dass etwas schiefgehen könnte – halten wir den Lenker rigide in dieser einmal beschriebenen Weise, wir schließen die Augen und treten in die Pedale.
Im Gegensatz dazu entspricht die Art und Weise, wie wir wirklich Fahrrad fahren, viel mehr dem, was ich dynamische Steuerung nenne und die Holacracy innerhalb der gesamten Organisation einzubetten versucht. Hier liegt ein viel stärkerer Fokus auf dem gegenwärtigen Moment. Wenn du Fahrrad fährst, bleibst du im gegenwärtigen Moment, du öffnest deine Augen. Du nimmst kontinuierlich reale Daten aus deiner Umgebung auf und das Lenken ist ein kontinuierlicher Prozess – nicht etwas, das du einmal vorab in einem voraussagenden Planungsprozess tust. Du bist im Fluss, im Moment, in der Gegenwart, mit Bewusstsein entlang des gesamten Weges. Das ist dynamische Steuerung, sie erfordert unmittelbares Feedback, sie erfordert Sichtbarkeit, weit geöffnete Augen und sie erfordert kontinuierliche Kurskorrekturen entlang des Weges.
Dazu ist ein Paradigma verteilter Kontrolle erforderlich, denn dieser Flow lässt sich nicht aus einer reinen Perspektive des Befehlens und Kontrollierens erreichen. Deshalb strukturiert Holacracy die Organisation in selbstorganisierende Kreise oder Teams. Und diese Teams sind miteinander in einer Holarchie der Aufgabenbereiche verbunden. Es gibt Projekt-Teams, die vielleicht eine Abteilung bilden oder im Hinblick auf ihre Funktionen geordnet sind, die Abteilungen in ihrer Gesamtheit bilden die Firma.
Wir brauchen eine Ausrichtung durch die gesamte Organisation hindurch. Es braucht ein Element dessen, was wie Top-Down aussieht und wir müssen zudem die Fähigkeit der Adaption innerhalb der gesamten Organisation erwecken. Es braucht auch einen engagierten selbst-organisierenden Fokus auf jeder Ebene.
Jeder dieser Kreise hat die Autorität, den jeweiligen Bereich der Organisation und seinen Ansatz zur Verwirklichung seines Zwecks zu steuern. Dann werden diese Kreise miteinander verbunden. Das ist das Paradigma der Doppel-Verbindung mit einem Lead-Link [Führungs-Glied] und einem Rep-Link [Repräsentativ-Glied]. Ein Lead-Link wird von dem höheren, bzw. breiter fokussierteren Kreis in einen Sub-Kreis geschickt, um zu helfen, ihn mit dessen Aufgabe zu verbinden und um die Bedürfnisse des höheren Kreises dort umzusetzen. Und der Rep-Link wird vom Sub-Kreis gewählt, um dessen Feedback auf die nächst höhere Ebene zu tragen und dort für eine förderliche Umgebung für den Sub-Kreis zu sorgen. Der Kern der Kontrolle ist Selbstorganisation durch alle Ebenen des Unternehmens mit Doppelverbindungen, um die verschiedenen Ebenen zu einer holarchischen Organisation zu verbinden.
DW: Kannst du uns ein Beispiel einer Firma geben? Wie sieht derImplementierungsprozess typischerweise aus und wie lange braucht eine Firma, um das Modell umzusetzen?
BR: Das kommt ganz darauf an. Einige Organisationen entscheiden sich dazu, wirklich schnell, vollständig und tief einzutauchen. Und wenn sie die Kapazität haben, das zu tun, kann das ein recht schneller Prozess sein.
Es gibt sehr einzigartige Meeting-Prozesse innerhalb von Holacracy, die aus unseren traditionellen, langsamen Meetings eine schnelle Form von Entscheidungsfindungsprozess jenseits des Egos machen. Diese Prozesse brauchen etwas Eingewöhnungszeit. Man braucht vielleicht drei Monate, um sich wirklich an diesen neuen Ablauf zu gewöhnen. Ob beispielsweise eine große Firma sich dafür entscheidet, diese neuen Strukturen auf einmal über das gesamte Unternehmen hinweg zu etablieren – das ist ein ziemlich großer Aufwand – oder ob sie mit einem Team beginnt und den Ansatz dann auf ein weiteres Team oder eine Abteilung ausweitet – beides sind gangbare Wege.
DW: Kannst du dazu ein Beispiel geben? Gibt es einen Unterschied zwischen der Implementierung in NGOs gegenüber For-Profit-Organisationen?
BR: Ein Beispiel für ein großes öffentliches For-Profit Unternehmen ist eine Firma in England in der Bauindustrie. Es handelt sich um eine ziemlich komplexe Organisation mit einem Ertrag von einer halben Milliarde Pfund pro Jahr. Es brauchte einen Monat, um sich daran zu gewöhnen. Sie haben vier Führungskräfte zu unserem 5-Tage-Training geschickt. Und jetzt sind sie gerade dabei, den Implementierungsprozess in verschiedenen Abteilungen zu beginnen, um etwas Übung und Erfahrung zu bekommen und dann zu schauen, wie man es in den anderen Teilen der Organisation umsetzen kann.
Grundsätzlich gibt es – interessanterweise – bei der Einführung von Holacracy keine Unterschiede zwischen NGOs und For-Profit-Unternehmen, was zum Teil daran liegt, dass Holacracy beginnt, viele der Unterschiede, die zwischen diesen bestehen, zu integrieren. Typischerweise denken wir, dass es für ein For-Profit-Unternehmen nur darum geht, Gewinne für die Aktionäre zu erwirtschaften, Non-Profits haben irgendeine Form von sozialer Mission. Holacracy integriert all das. Alle Firmen, die Holacracy einsetzen, sind auf einen evolutionären Zweck ausgerichtet. Mit anderen Worten: Was ist die einzigartige Rolle, die diese Firma dabei spielt, bei der Entfaltung der Zukunft zu helfen, die Evolution voranzubringen und irgendeine Form neuen Lebens in die Welt zu bringen?
DW: Dann ist es wie ein „Einzigartiges Selbst“ für Organisationen?
BR: Absolut. Ich denke, das trifft den Nagel auf den Kopf.
DW: Diese Assoziation kam mir gerade. Vielleicht gibt es eine Rolle für jede Organisation in der Welt.
BR: Ja, es ist eine perfekte Analogie. Holacracy versucht, das an die Oberfläche zu bringen und dem zu erlauben, die Steuerung zu übernehmen und nicht die Menschen um ihretwillen steuern zu lassen. Das ist die große Veränderung. Wir sind an Menschen-zentrische Organisationen gewohnt, insbesondere bei unseren progressiven Organisationen. Holacracy markiert einen Sprung darüber hinaus. Es lässt den evolutionären Zweck regieren oder das Einzigartige Selbst der Organisation. Was ist diese einzigartige Rolle, die eine Firma spielt? Das ist es, was wir meinen mit der „Befreiung der Seele der Organisation“, um sie dann die Ausrichtung der Organisation in Bezug auf diesen Zweck bestimmen zu lassen. Profit ist ein wichtiger Maßstab, gleich ob es um gemeinnützige oder gewinnorientierte Organisationen geht. Erschaffen wir mehr ökonomischen Wert, als wir verbrauchen? Wenn wir diesen Maßstab mit einem Zweck verwechseln, dann haben wir Probleme. Es ist kein Zweck, es ist schlicht ein Maßstab. Das ist es, was ich mit der Integration dieser Unterscheidung meine. Mit Holacracy sind alle Organisationen in erster Linie auf den evolutionären Zweck fokussiert, mit Profit als einem wichtigen Maßstab entlang des Weges. Das gilt für For-Profits und Non-Profits.
Holacracy ist ein neues, evolutionäres „Betriebssystem“ für Organisationen.
DW: Was sind die positiven Veränderungen für eine Firma?
BR: Es gibt Veränderungen, die sehr schnell eintreten und sehr kraftvoll sein können. Viele Organisationen sind sehr motiviert, weil ihre Meetings schmerzhaft sind. Sie sind lang, sie sind langsam, die Mitarbeiter leiden unter einer „Analysen-Lähmung“ [analysis-paralysis]. Es wird nicht viel erreicht. Und sie wollen einfach einen effizienteren, schnelleren Weg der Zusammenarbeit. Holacracy liefert das sehr schnell. Dann sind da die eher langfristigen Perspektiven wie der Wunsch nach mehr Anpassungsfähigkeit in der gesamten Organisation, nach einer größeren Fähigkeit, auf Marktbedingungen oder die Umwelt zu reagieren und nach größerer Kapazität für Innovation.
Andererseits hat Holacracy auch eine strukturierende Wirkung. Wir haben mit einer Technologie-Firma gearbeitet, in der zu viel Engagement das Problem war. Jeder lief in seine eigene Richtung. Ein Haufen brillanter, selbstbewusster junger Menschen aus dem Integralen Umfeld, die wunderbare Sachen gemacht haben, doch sie brauchten mehr Integration, sie brauchten mehr Koordination, mehr Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel und die Fähigkeit, am selben Strang zu ziehen. Und das ist es, was Holacracy ihnen gebracht hat.
DW: Welche Aspekte der Praxis sind wichtig, um ein anfängliches Verständnis von Holacracy zu bekommen?
BR: Die Meeting-Prozesse. Bei Holacracy haben wir verschiedene Pulse oder Rhythmen und verschiedene Typen von Meetings identifiziert. Wir haben Governance [etwa: „Steuerungs-“] Meetings, bei denen es um die Strukturierung des Teams geht, sie drehen sich darum, wie wir zusammenarbeiten, wie wir unsere Ziele erreichen wollen, wer welche Autorität hat, wer sich in welcher Hinsicht auf den anderen verlassen kann. Mit diesen Fragen beschäftigen sich Organisationen selten – und wenn sie es doch tun, dann gewöhnlich nur auf der höchsten Ebene. Doch diese Fragen sind genauso relevant in der Fabrikhalle wie in der Chefetage. Und nur selten bekommen sie viel Aufmerksamkeit. Governance Meetings schaffen den Raum und ein regelmäßiges Forum dafür.
Innerhalb von Governance Meetings gibt es einen Entscheidungsfindungsprozess, den wir integrative Entscheidungsfindung nennen, und der ist ziemlich cool. Es ist ein Prozess, um auf schnelle Weise multiple Perspektiven eines gesamten Teams zu integrieren, und das ist eine wirkliche Herausforderung, denn: Wie kann man jedem eine Stimme geben und all diese Perspektiven integrieren? Holacracy beinhaltet einen Prozess, der das erlaubt, doch er zielt nicht darauf ab, jederzeit alle Perspektiven zu integrieren, sondern darauf, die minimal ausreichenden Perspektiven zu integrieren, damit die Organisation sich weiterhin auf ihr Ziel zu bewegen kann. Wir wollen nicht wirklich alle Perspektiven integrieren, und wir wollen keine Perspektiven integrieren, die in den menschliche Egos gründen. Es geht nicht um Einzelinteressen, es geht um das Ziel. Wir wollen auf schnelle Weise die minimal ausreichenden Perspektiven, die sich auf das Ziel und darauf, wie es am besten erreicht werden kann, beziehen, integrieren – und zwar kontinuierlich. Wir versuchen also niemals, alles auf einmal zu integrieren. Stattdessen integrieren wir nur ein wenig, und dann bewegen wir uns vorwärts, bekommen Feedback durch die weitere Entwicklung, integrieren ein wenig mehr, bekommen wieder Feedback, so dass wir kontinuierlich lernen.
Als ich einmal als Pilot das Funktionslicht der Elektrik ignoriert habe und fast abgestürzt wäre, habe ich eine wichtige Lektion gelernt: Jedes meiner Instrumente am Armaturenbrett liefert andere Informationen, die ich alle brauche, um das Flugzeug effektiv zu fliegen – und wenn du eines ignorierst, dann bekommst du Probleme. Und doch tun wir das die ganze Zeit in Organisationen. Wir sehen, wie die eine Person, die etwas sieht, das keiner sonst sieht, ignoriert oder überstimmt wird. Das ist gefährlich für eine Organisation. Und das Gegenteil ist genauso gefährlich. Zu versuchen, auf einen Konsens abzuzielen, um jederzeit alles zu integrieren, hat genauso viele Nachteile, wie Perspektiven zu übersehen.
Wenn ich versuche, alle Daten meiner Flugzeuginstrumente auf einmal zu integrieren, baue ich genauso eine Bruchlandung. Ich will absolut nicht auf das Spielchen einsteigen, das da lautet: „Wie fühlst du dich, mein kleines Instrument?“ Es geht nicht um die Egos der Instrumente. Ich respektiere sie und bin interessiert daran, was sie mir in Bezug auf meinen Zweck sagen können und das brauchen wir auch in Organisationen. Wir müssen uns im Hinblick auf die Ausrichtung auf einen Zweck integrieren, nicht in Ausrichtung auf die Egos, wir brauchen die Daten dieser Instrumente, dieser Egos – die Egos werden zu Instrumenten für die Organisationen, werden unsere Sensoren für Information.
Wie nehmen wir diese Information, die wir brauchen, schnellstmöglich auf, sobald wir sie brauchen, nicht mehr, nicht weniger – ohne uns in menschlichen Egos zu verlieren? Das ist es, worum es in einem Governance Meeting bei Holacracy geht und was der integrative Entscheidungsfindungsprozess bei Holacracy tut, wenn er gut angeleitet wird. Das entwickelt eine neue Basis für ein Unternehmen. Jedes Team – jedes Team – hält Governance Meetings ab, die alle Perspektiven in Hinsicht auf das Ziel integrieren, wenn sie gebraucht werden, sobald sie gebraucht werden. Und das tun wir in allen Kreisen.
Dann gibt es noch Tactical Meetings, die dir dabei helfen, konkrete Dinge zu erledigen, und die darauf ausgerichtet sind, welche Aktionen und Projekte als nächstes kommen. Es gibt Strategic Meetings, die darauf fokussiert sind, welche Richtung wir am besten verfolgen, um unser Ziel zu erreichen. So gibt es verschiedene Typen von Meetings, die alle eine Rolle spielen, doch ich würde sagen, dass das Governance Meeting wahrscheinlich das fremdartigste und transformativste ist, das eingeführt werden kann. Und du hast diese ja auch erlebt, es sind ziemlich einzigartige Prozesse.
Profit ist kein Organisationszweck – aber ein guter Maßstab für jede Organisation.
DW: Ja, was sehr erkenntnisreich für mich war, war, dass wir während des Prozesses gewisse Probleme zu den anderen Meeting-Typen hinüber schieben konnten. Es gibt da eine Klarheit darüber, was in einer bestimmten Art von Meeting passiert. Es gibt gewisse Aspekte, die einfach in einer anderen Art von Meeting geparkt werden. Sie werden nicht ignoriert, sondern finden einen rechtmäßigen Platz, sozusagen.
BR: Ja, in der Tat machen wir das als erstes mit den Führungs-Teams, wenn wir sie in Holacracy einführen, und es ist die kraftvollste Übung, die wir anleiten. Wir haben das mit sehr großen Firmen getan. Wir nehmen das Führungs-Team und fragen einfach: Mit welchen Problemen ringt ihr gerade? Und sie machen eine lange Liste, und dann fangen wir an, sie aufzudröseln und wir fragen: Welche dieser Probleme sind in Wahrheit strategische Probleme? Welche sind Governance Probleme und welche sind operationaler Art? Und wir dröseln sie auf und zeigen ihnen, dass es verschiedene Meeting-Prozesse gibt, um jede Art von Problem zu adressieren. Selbst diese Klarheit ist selten. Viele Führungskräfte versuchen, Probleme innerhalb des falschen geistigen Rahmens zu lösen. Beispielsweise versuchen sie, Governance Probleme mit einem operationalen Mindset zu lösen, und sie mögen das Problem vielleicht dieses Mal lösen, doch sie lösen das Muster darunter nicht auf und darum geht es bei Governance einzig und allein: darunterliegende Muster zu lösen. Diese Klarheit zu gewinnen, ist oftmals transformativ für die Führungs-Teams, mit denen wir gearbeitet haben.
Brian Robertson, CEO der Beratungsfirma HolacracyOne, zuvor Gründer und CEO von Ternary Software, dem „Laboratorium“ für Holacracy, einer mehrfach preisgekrönten Software-Entwicklungsfirma in Philadelphia, USA. www.holacracy.org
Dennis Wittrock, geb. 1978, Magister der Philosophie, Anglistik und Kunstwissenschaft, 5 Jahre tätig als Geschäftsführer für das IF – Integrales Forum und DIA – Die Integrale Akademie, freier Journalist & regelmäßiger Autor für i*p, www.integral-con-text.de
(aus: IP 16, 2010)