Die Unternehmerin Hilde Weckmann im Interview

Wirtschaft

Die Unternehmerin Hilde Weckmann im Interview

[Hinweis: Bei der Einordnung von Entwicklungsebenen bezieht sich dieser Beitrag auf das Modell Spiral Dynamics.]

Durch eine integrale Perspektive kann die Wirtschaft an Tiefe gewinnen, so die Erfahrung der Unternehmerin Hilde Weckmann. Nach dem Studium an der Wirtschaftsuniversität in Wien zog es die gebürtige Österreicherin nach Berlin, wo sie nach einem weiteren Studium der Politikwissenschaft in den frühen achtziger Jahren einen Naturkostgroßhandel gründete.

Ökonomie und Ökologie, Politik und Feminismus miteinander zu verbinden, war ihr von Anfang an ein Anliegen, das durch die Beschäftigung mit der integralen Theorie Ken Wilbers zu einem tieferen Verständnis der Komplexität der Gegebenheiten fand. Im Interview mit Nadja Rosmann erklärt sie, wie der integrale Blick zu einer neuen Wertschätzung für die im Business gegenwärtig verbreiteten unterschiedlichen Entwicklungswellen führen kann und warum wir trotz der Krise des Ego-Kapitalismus mit all ihren negativen Entwicklungen unseren Blick auch auf die positiven Impulse richten sollten, die sich im Hinblick auf eine gerechtere, weltzentrischere Wirtschaftsweise bereits zeigen.

Frage: Du bist Unternehmerin und sehr engagiert in der deutschen integralen Community. Inwieweit prägt das integrale Denken deine Haltung im Business?

Hilde Weckmann: In den Anfangstagen war ich sicherlich eine typisch grüne Pionier-Unternehmerin und habe im Laufe der Jahre auch alle damit verbundenen Vor- und Nachteile erlebt. Ich war sehr in der Frauenbewegung aktiv und hatte Kontakte zu vielen als Kollektive organisierten Unternehmen. Als ich dann meine ganzen Ersparnisse und damit gewissermaßen meine Zukunft in den Naturkostgroßhandel gesteckt habe, war es mir wichtig, das Unternehmen auf gesunde Füße zu stellen. Ich hatte das Glück, dass durch mein Elternhaus das unternehmerische Selbstverständnis stark geprägt worden ist. MeineEltern hatten einen kleinen Handwerksbetrieb und traditionelle Werte wie Disziplin, Durchhaltevermögen und Sparsamkeit spielten da eine große Rolle. Das sind meiner Meinung nach wichtige Grundlagen, um mit einem Unternehmen erfolgreich zu sein. Ich bin Händlerin aus Passion, das liebe ich. Und meine Ausbildung im Bereich Wirtschaft hat meine Haltung zum Unternehmertum natürlich wesentlich geprägt. Einige alternativ engagierte UnternehmerInnen haben einen postmodernen Hintergrund, da sind die Bezüge zu einer gesunden Moderne, ohne die man sich in der Wirtschaft eher schwer tut, nicht so ausgeprägt. Man muss aber auch die Vorzeichen der damaligen Zeit richtig verstehen. Mit unserem grünen Elan waren wir uns unserer Sache sehr sicher, wir waren ambitioniert und damit auch teilweise rechthaberisch. Ein starker Bezug auf Gemeinschaft, den linken unteren Quadranten, war sicherlich auch eine Quelle der Kraft und Inspiration für die alternative Bewegung.

„Es vollziehen sich spannende Wandlungsprozesse“

Frage: Wie hat sich deine unternehmerische Perspektive dann durch das Gesamtbild, das die integrale Landkarte eröffnet, erweitert?

HW: Ich habe viele Dinge, die ich damals mehr intuitiv gemacht habe, heute würde ich sagen, aus einem evolutionären Impuls heraus, nachträglich viel besser einordnen können. Heute habe ich die Möglichkeit, die verschiedenen Perspektiven, die ich einnehme, bewusster zu erkennen und kann so besser auf unterschiedliche Menschen eingehen. Aber auch, wenn man sich beispielsweise der verschiedenen Entwicklungswellen, auf denen sich MitarbeiterInnen bewegen, bewusst ist, bleibt es dennoch eine Herausforderung, mit diesen Unterschiedlichkeiten auch konkret umzugehen.
Frage: Die Branche, in der du aktiv bist, war seinerzeit eher eine Nische für UnternehmerInnen, die aus tiefer Überzeugung gehandelt haben. Heute erfährt sie im Zuge des Lohas-Trends (Lifestyles of Health and Sustainability – Gesunde und nachhaltige Lebensstile) viel Aufmerksamkeit und Unternehmen, die vielleicht nicht so durch Überzeugungen getrieben sind, engagieren sich verstärkt in diesem Feld. Was verändert sich dadurch?

HW: In dieser Frage bin ich Querdenkerin. Viele Menschen sind damals aus ganz persönlichen Gründen zur Ökobewegung gekommen. Einige Landwirte beispielsweise haben gemerkt, dass die Pestizide, die sie versprühen, auch sie selbst krank machen, was sie zur ökologischen Landwirtschaft gebracht hat. Mein Antrieb war eher politischer Natur. Ich wollte das Thema Ökologie in die Welt tragen. Vor diesem Hintergrund befürworte ich es, wenn diese Entwicklung eine breitere Basis bekommt. Dabei zeigen sich dann verschiedene Facetten: Sicherlich wird der Konkurrenzdruck für Nischenanbieter größer und manche Firmen betreiben natürlich auch Greenwashing, aber es kommen eben auch viele gute ökologische Produkte auf den Markt. Mir ist letztlich die Gesamtentwicklung wichtiger, als nur persönliche Interessen zu verfolgen. Mit dieser Haltung mache ich mich nicht immer beliebt. Als wir seinerzeit mit Renate Künast, als sie noch Landwirtschaftsministerin war, die Biobrotbox auf den Weg gebracht haben, stellte sie von Anfang an klar, dass wir möglichst viele Firmen einbeziehen müssen, wenn das Projekt ein Erfolg werden soll. Im Sponsorenkreis haben wir auch Unternehmen, mit denen die Zusammenarbeit für mich durchaus eine Herausforderung darstellt. Man sollte sich davor hüten, die postmoderne Perspektive als die allein gültige anzusehen. Wenn ich für die Ökologie wirklich etwas erreichen möchte, muss ich gerade mit den wirklich großen Unternehmen kooperieren, denn selbst wenn diese nur einen kleinen Schritt in die richtige Richtung machen, hat dies wahrscheinlich eine viel größere Hebelwirkung, als wenn ich nur mit den zutiefst überzeugten zusammenarbeite. Uns Vorreiter sehe ich nach wie vor als die Avantgarde und wünsche mir natürlich auch, dass wir den anderen immer einen Schritt voraus sind, aber es ist eben auch einErfolg, wenn sich dadurch bei den Großen etwas bewegt.

Frage: Du hast gerade die Biobrotbox, ein Social Business, erwähnt. Was sind da die Hintergründe?

HW: Dieses Projekt läuft seit fast zehn Jahren. Ziel ist es, dafür zu sensibilisieren, dass Kinder ein gesundes Frühstück brauchen. Von uns erhalten sie zur Einschulung eine Brotbox mit gesunden Frühstückszutaten, um das Thema zu verankern. Letztes Jahr haben wir auf diese Weise ein Viertel aller neuen SchülerInnen in Deutschland erreicht. Darüber hinaus gibt es bereits Verbindungen nach Österreich und Polen, wo dieInitiative ebenfalls Fuß fasst. Finanziert wird dies durch Firmen, die hauptsächlich, aber nicht ausschließlich aus der Biobranche stammen. UPS beispielsweise übernimmt seit vielen Jahren in Berlin die Logistik, denn wir brauchen natürlich Partner mit einer gewissen Größe, um den jährlichen Roll-out sicherzustellen. Allein im Berliner Raum verteilen wir inzwischen 53.000 Biobrotboxen, die alle pünktlich am gleichen Tag ausgeliefert werden müssen. Diese Zusammenarbeit ist sehr bereichernd, denn amerikanische Unternehmen sind im Hinblick auf Aktivitäten zur Corporate Social Responsibility teils weiter als wir. Da können wir voneinander lernen. Darüber hinaus gehören auch Banken und andere Unternehmen zu den Sponsoren.

Frage: Erleichtert dir deine integrale Perspektive es, hier zwischen den unterschiedlichen Standpunkten und Ausgangsvoraussetzungen der Beteiligten zu vermitteln?

HW: Unbedingt, aber das hängt natürlich auch von meiner Tagesform ab. (lacht)

Frage: Verändert sich durch die Zusammenarbeit auch die Perspektive von Großunternehmen?

HW: Ja, und das ist sowohl unser explizites als auch implizites Ziel. Wir machen Veranstaltungen mit den Unternehmen, tauschen uns überregional im Netzwerk aus und gewinnen so alle neue Perspektiven. Da vollziehen sich spannende Wandlungsprozesse. Eine Bank beispielsweise, die seit einigen Jahren die Biobrotbox finanziell unterstützt, hat manche unserer Argumente übernommen und positioniert sich nun auch ökologischer. Für mich persönlich sind solche Prozesse natürlich immer auch eine Gratwanderung, aber letztlich können wir durch solche Kooperationen und die damit verbundene Kommunikation zur Bewusstseinsentwicklung beitragen, und das zählt. Man muss einfach sehen: Evolution ist ein langsamer Prozess – ich bin da manchmal auch etwas ungeduldig.

Für jede Regel, für jedes neue Gesetz sucht die Wirtschaft sofort wieder nach Schlupflöchern – und findet sie auch.

Frage: Die Metaperspektive der Wirtschaft ist gegenwärtig ja sehr leistungsgeprägt: an Konkurrenz und individuellem Profit orientiert. Was trägst du mit deiner Arbeit in diesen Mainstream hinein, um Veränderungen zu bewirken?

HW: Ich bin immer wieder bestrebt, dazu beizutragen, dass Evolution verstanden wird und wir eine gesunde Entwicklung individuell, kollektiv, objektiv und interobjektiv, also in allen Quadranten und auf allen Ebenen erreichen. Je mehr Menschen sich auf diese Weise engagieren und je mehr wir wirken, umso einfacher wird es. Der Moderne verdanken wir einen hohen Intelligenzfaktor und ihre Perspektive ermöglicht es uns, Wohlstand zu generieren – und zwar nicht nur durch Ausbeutung, sondern auch durch Fortschritt. Auch Leistung oder traditionelle Werte wie Disziplin spielen hier eine große Rolle. Durch die Postmoderne folgt die Erweiterung in eine empathische Perspektive, das Verstehen von Beziehungen und Motiven. Ich glaube, über die Tragweite dessen sind wir uns heute noch gar nicht wirklich bewusst. Für mich bringt der integrale Blick die Chance mit sich, all diese unterschiedlichen Perspektiven überhaupt zu erkennen und zu bewerten und mit Weisheit zu entscheiden, was wertvoll ist für die weitere Entwicklung. Ich erlebe immer wieder, dass ein Unternehmen als soziales Holon durch die Aktivitäten einzelner Menschen auch relativ schnell eine neue Richtung einschlagen kann.

Frage: Und wie schätzt du das Veränderungspotenzial im Hinblick auf die Systemebene, also den unteren, rechten Quadranten ein? Hier dominieren ja gegenwärtig vor allem Wettbewerbsstrukturen und eine Orientierung am Gemeinwohl ist wie ein Schwimmen gegen den Strom …

HW: Das ist eine große Herausforderung – beispielsweise zu neuen Formen der Regulierung zu finden. Ein großes Problem ist es sicherlich, dass viele intelligente Köpfe vor allem in der Privatwirtschaft und international agieren, schlicht weil hier deutlich besser gezahlt wird. In Verwaltung und Politik gibt es zwar sehr viele sehr engagierte Menschen, aber sie sind leider oft nur national und einen Tick langsamer unterwegs, was unter anderem an der eher traditionellen Orientierung dieser Institutionen liegt, aber auch daran, dass sie meist schlechtere Voraussetzungen haben als Firmen, beispielsweise im Hinblick auf ihre Ausstattung. Für jede Regel, für jedes neue Gesetz sucht die Wirtschaft sofort wieder nach Schlupflöchern – und findet sie auch. Die Politik und die Verwaltung so zu positionieren, dass sie in diesem Wettlauf bessere Ausgangsbedingungen haben, ist eine der großen Aufgaben unserer Zeit.

IP: Es wäre also hilfreich, wenn all die integral Informierten, die sich gegenwärtig lieber in grünen Nischen bewegen, sich hier stärker einbringen?

HW: Ja, aber ich kenne die Hemmschwelle aus eigener Erfahrung. Ich arbeite auch lieber in überschaubaren Strukturen und als der Naturkostgroßhandel für meine Begriffe zu groß wurde, habe ich mich aus der Geschäftsführung zurückgezogen und sie in andere Hände gelegt. Aus meiner Affinität zur Frauenbewegung heraus bin ich natürlich sehr dafür, dass Frauen mehr Verantwortung für größere Strukturen übernehmen, aber die Studien der jüngsten Zeit zeigen auch, dass Frauen hier in ihrer Entfaltung nicht nur durch Männernetzwerke behindert werden, sondern sich viele auch bewusst dagegen entscheiden, beispielsweise in großen Unternehmen führende Positionen einzunehmen.

Frage: Die Studien zeigen aber auch, dass Frauen ja neue Denkweisen in die Wirtschaft tragen . für die allerdings in den momentanen Strukturen kaum Raum zu sein scheint. Heißt das nicht, dass wir dann einfach damit beginnen müssten, diese Strukturen zu verändern, aus einer erweiterten Perspektive, die in der Lage ist, auch diese neuen Gesichtspunkte zu integrieren?

HW: Das Neue entsteht ja schon durch verschiedene Ansätze und wird in vielen Bereichen auch sichtbar und spürbar. Ich denke, dass dies längerfristig auch strukturelle Veränderungen nach sich zieht und wir hier etwas bewirken werden.

Frage: Diese Veränderungen sind teilweise schon recht konkret. Ich beobachte in jüngster Zeit verstärkt eine Bewegung hin zu einer weltzentrischeren Perspektive. Die erstarkende Diskussion über Gemeingüter oder Bürgerbewegungen, die sich wirtschaftlich engagieren, beispielsweise im Rahmen der Privatisierung der Elektrizitätswerke Schönau, sind hier gute Beispiele. Da zeigt sich doch eine neue Form der Verpflichtung gegenüber einem Wir, das, so hoffe ich zumindest, mehr Spannweite hat, als die Postmodernen. Wie siehst du das?

HW: Ja, das Wir ist die große Herausforderung der Postmoderne. (lacht) Ich habe da verschiedene Phasen erlebt. Wir haben in unseren Anfangstagen beispielsweise auch versucht, die Verantwortung zu teilen, und ich habe die Erfahrung gemacht, dass kollektive Verantwortung auch zu kollektiver Verantwortungslosigkeit führen kann. Als ich die verschiedenen Entwicklungsebenen verstanden habe, ist für mich da vieles deutlicher geworden. Ich bin ein wenig skeptisch, wenn die Wir-Perspektive als etwas Neues oder gar Höheres betrachtet wird und denke da an die Kollektive der siebziger Jahre, die Mitbestimmungsbewegung … Auf mich wirkt die Gemeingüterdiskussion zum Teil noch romantisch. Und dennoch halte ich sie für sehr wertvoll, weil sie ganz wichtige Perspektiven einbringt.

Frage: Aber grundsätzlich wäre es doch denkbar, über grüne Romantik hinaus zu einer wirklich praktizierten Wir-Perspektive zu kommen, die tatsächlich Verantwortung übernimmt und so etwas bewirkt, oder?

HW: Das glaube ich auch, ich bin nur vorsichtig, was die Zahl der Menschen angeht, die dazu in der Lage sind. Die Entwicklung geht in die richtige Richtung, aber ich warte noch auf die Persönlichkeiten, die diese differenzierten Sichtweisen gleichzeitig im Bewusstsein halten und auch mit vielen Menschen umgehen können. Wenn man sich auf dieses Wir konzentriert, sind beglückende Zustandserfahrungen möglich, aber diese sind häufig prä-rational. Ich bin sehr sensibel dafür, welches Leid beispielsweise Bewegungen wie der Faschismus oder der Kommunismus mit sich gebracht haben. Dadurch habe ich gelernt, dass ein falsch verstandenes Wir auch sehr gefährlich sein kann, insbesondere wenn auf Zustände hingearbeitet wird, ohne an der Strukturentwicklung zu arbeiten.

Frage: Es wäre also eigentlich unser aller Aufgabe, mit den integralen Methoden, die uns zur Verfügung stehen, an einer umfassenderen Perspektive zu arbeiten, die diese Fehler nicht wiederholt, sondern tatsächlich Lösungen aus multiplen und bewerteten Perspektiven heraus fördert?

HW: Auf jeden Fall. Und wir müssen darauf achten, wohin sich die Menschheit als Ganzes entwickelt. Wenn man das Bevölkerungswachstum betrachtet, muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass der Anteil derer, die fundamentalistisch oder egozentrisch orientiert sind, erst einmal zunimmt. Was die Entwicklung der Wirtschaft angeht, bin ich im Grunde eher optimistisch, denn hier treiben wir ja schon geraume Zeit einen Entwicklungsprozess voran. Das Integrale poppt ja nicht einfach hoch und ist plötzlich da. Es zeigt sich bereits in vielen Einzelaspekten. Meine Erfahrungen in der Ökologiebewegung nähren diesen Optimismus. Vor 30 Jahren sind wir noch als verrückt angesehen worden und heute sind wir gesellschaftsprägend und haben real viel verändert. Das Integrale hat so viel Kraft, dass es auf jeden Fall wirksam wird. Außerdem: Es ist ja nicht so, dass jetzt alle Menschen auf einmal die ganze Entwicklungsspirale durchlaufen müssten. Es reicht ja, wenn diejenigen, die dazu in der Lage sind, umfassendere Perspektiven einnehmen und danach handeln und auf diese Weise regulierend eingreifen und gesündere Entwicklungen in allen Bereichen anstoßen.

Frage: Also besteht eigentlich Grund zu Optimismus?

HW: Ich bin da zuversichtlich und begeistert, weil wir sehr komplexe Entwicklungen mit ihren umfassenden Rückkopplungen inzwischen etwas besser und menschliche Motive und Verhaltensweisen zunehmend verstehen. Das, was sich dadurch an Möglichkeiten eröffnet, ist immens.

aus: IP 16 – 07/2010

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