Dr. Marc Lucas
Abstract: Der Beitrag will eine systematische Übersicht über die konkreten Ausformungen und Möglichkeiten einer entstehenden integralen Forschung bieten.
Zunächst wird der integrale Ansatz nach seiner Herkunft und seinem Geltungsanspruch beschrieben und dann für eine akademische Forschung zugänglich und praktikabel gemacht. Mit den 3 Domänen der integralen Forschung werden aktuelle Forschungsbemühungen systematisch dargestellt und ein einfaches Ordnungsmuster für weitere Forschung entworfen. Dabei werden ungelöste Forschungsfragen des Integralen aus Sicht einer akademischen Forschung aufgeworfen. Es wird bewusst nicht der Versuch unternommen einen weiteren Beitrag zu integraler (Meta-)Theorie zu leisten, sondern sich dem bislang wenig bearbeiteten Thema „Forschung“ praktisch gewidmet. Die Perspektive und Zielsetzung ist insbesondere durch den Versuch geprägt integrale Forschung „wissenschaftsfähig“ zu machen. Der Autor ist sich dessen bewusst, dass dabei für integrale Theoretiker durchaus neue Denkpfade beschritten werden und freut sich auf einen angeregten und inspirierenden Austausch.
Der integrale Ansatz weist eine für die Wissenschaften vergleichsweise relativ kurze Tradition auf. Auch hat sich noch keine einheitliche Definition des Begriffes „integral“ herausgebildet. Aus diesem Grunde scheinen einige Anmerkungen zu Perspektiven einer akademischen integralen Forschung angebracht. Der integrale Ansatz wurde namentlich erstmals in den wissenschaftlichen Diskurs durch den Kulturphilosophen Jean Gebser eingeführt. Ken Wilber aber auch Erwin Laszlo, Maik Hosang, Don Beck oder Michael Murphy haben den Begriff des Integralen früh verwendet und in unterschiedlicher Weise weiterentwickelt. In jüngster Zeit gibt es einige akademische Brutstätten für integrales Denken und Forschen, so die JFK University in den USA und die FernUniversität in Hagen mit ihrem Masterkurs „Integrale Führung“. Zudem befassen sich einige Journale (AQAL, Integral Leadership Review) mit integralen Ansätzen und es sind bislang verstreute Forschungsaktivitäten verschiedener Fachdisziplinen und vereinzelte Diplomarbeiten zumeist auf Betreiben der Diplomanden selbst anhängig oder abgeschlossen.
Aus akademischer Sicht ist der integrale Ansatz zunächst und am besten als eine Heuristik zu verstehen, die den Zugang zu komplexen Fragestellungen durch eine angemessene Systematik erleichtert. Diese im Grunde dem Gedanken des Konstruktivismus verpflichtete Haltung betont Wilber immer dann, wenn er betont, dass die Landkarte nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln sei. Auch wenn die Geltungsansprüche integraler Ansätze vorgenannter Gründungsvertreter umfassender sind, ist es aufgrund der konstruktivistischen Selbsteinordnung also durchaus gerechtfertigt, wenn man für eine wissenschaftliche Betrachtung wie üblich eine Ableitung aus den jeweiligen Gegenstandsbereichen der Forschung und Anwendungspraxis, auf die Bezug genommen werden soll, fordert. Mithin ist das Ziel einer wissenschaftlichen Zugangsweise zum integralen Forschen nicht der Erhalt des einmal postulierten integralen Ansatzes. Forschungsleitend ist eine mehrperspektivische und systematische integrative Orientierung, die die integralen Heuristiken in der vorliegenden Form nur zum Ausgangspunkt haben. Der Anspruch integraler akademischer Forschung ist folglich nicht als eine „Theorie für alles“ aufzustellen. Vielmehr wird eine ordnende aber auch entwickelbare Heuristik für spezifische Fragestellungen aufgestellt, mit dem Ziel der aktuellen wissenschaftlichen und auch anwendungsbezogenen Zersplitterung in Teildisziplinen, Minimalaussagen und Insellösungen soweit wie möglich und sinnvoll zu begegnen.
In diesem Sinne gibt es nicht die „eine“ integrale Forschung, sondern in der derzeitigen Forschungspraxis sind mindestens drei Domänen der integralen Forschung mit jeweils eigener Berechtigung erkennbar. Diese sind beschreibbar als:
a) Die Untersuchung eigener Forschungsgegenstände mit zumeist traditionellen und weniger triangulierten Forschungsmethoden auf Basis einer integralen Heuristik oder auf Basis von Ausschnitten des als Heuristik verwendeten AQAL-Modells.
Diese Form der Anwendung findet man in den meisten Diplomarbeiten bis hinauf zu teilweise sehr umfangreichen und anspruchsvollen Buchpublikationen (vor allem bei SUNY). Ggf. könnten im Rückschluss auch daraus bereits Erkenntnisse für eine Modifikation des integralen Ansatzes insgesamt entstehen. Zumeist ergeben sich aber aufgrund der Mehrperspektivität frische und neue Einsichten zum konkreten Forschungsgegenstand.
Herausforderung bei einer solchen Forschung bleibt einerseits zunächst zu prüfen, ob und welche Aspekte einer integralen Heuristik für das eigene Forschungsfeld hilfreich, d.h. passend und nicht bereits anderweitig besser beschrieben wären. Zudem müsste geprüft werden, ob die je zu entwickelnde eigene angepasste Heuristik nicht nur das Forschungsfeld, sondern auch den integralen Gedanken noch hinreichend repräsentiert bzw. ob diese Heuristik überhaupt als integral wiedererkennbar bleibt (s. z.B. teilweise stark abweichende Ansätze bei u.a. Lessem und Schieffer).
b) Die Untersuchung der integralen Theorie oder von Aspekten davon mit eher herkömmlichen Mitteln.
Dies wird u.a. in der interdisziplinären Forschungsreihe an der Uni Köln versucht, die ich begleiten darf (eine erste von mehreren geplanten Veröffentlichungen ist einsehbar unter: www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0018451).
Ziel solcher Bemühungen ist neben der reinen Erkenntnis zugleich die Integration bzw. Akzeptanz des Integralen in der akademischen Forschung. Pointiert könnte man aus Sicht der akademischen Forschung und Lehre formulieren, erst damit wird aus einem „Belief System“ eine akzeptable „Metatheorie“. Um dieses Ziel zu erreichen, muss man zunächst den Versuch unternehmen aus dem integralen Ansatz eine vollwertige Theorie zu machen und beforschbare Hypothesen abzuleiten. Das gelingt am besten an den Stellen, an denen sich der Ansatz vorhandener und gut etablierter Theorien bedient und diese in seine Theorie inkorporiert. Lohnend wäre es besonders Zusammenhänge und Interspaces zwischen den im integralen Ansatz nur lose verbundenen Theorien und Forschungsfeldern zu untersuchen. So wäre m.E. ein derzeit wesentlicher Schritt die 4 Quadranten mit den Linien ins Verhältnis zu setzen.
Hier müsste man aber sicher am meisten offen bleiben für so manche überraschende Veränderung, die das Modell für so manchen zunächst und vielleicht für immer sehr verändern würde. Das hieße von Forschungs- und Theorieliebeleien und von auf spirituellen Traditionen fußenden Heilswünschen an eine einfach verstehbare letzte Wirklichkeit Abstand zu nehmen.
c) Im Grunde genommen kann m.E. erst auf Basis einiger erbrachter Leistungen aus den ersten beiden Domänen einer integralen Forschung der ernsthafte Versuch erfolgen eine integrale Forschung im Sinne einer multiperspektivischen, transaktionalen Prozessforschung für das gesamte Modell erwachsen zu lassen.
Hierbei müsste neben dem ungeklärten Verhältnis der Wechselwirkungen der AQAL-Aspekte und Zonen untereinander zudem das Problem der Methodentriangulation besser gelöst werden. Eher kontraproduktiv zu werten sind dabei aktuelle Bemühungen um eine „Wiederverzauberung“ der Wissenschaft, das bloße Einführen meditativer Techniken traditioneller zumeist Zen-Schulen unter Auslassung der europäischen phänomenologischen Denktradition oder bloße simplifizierende Schlagworte, die einen m.E. eher regressiven Charakter verdecken, wie „second simplicity“ oder „1-2-3“. An die akademische Wissenschaft anschlussfähiger wäre es bei den Zonen des IMP nicht bloß zwischen jeweils Innen- und Außenseite der vier Quadranten zu unterscheiden, sondern zwischen mehreren Herausforderungen zu differenzieren. Einige davon sind bereits in den Wissenschaften erkannt und daran könnte man anschließen. Als Beispiele wären zu nennen die Probleme und Herausforderungen der Triangulation von qualitativer und quantitativer Forschung unter Berücksichtigung einer grounded theory, zudem die Bedeutung von induktiven und deduktiven Schlüssen und damit zum Verhältnis von (Meta-)Theorie und Empirie sowie das Verhältnis nomothetischer und ideographischer Herangehensweisen und Aussagen. Auch auf das Menschenbild und Bewusstsein des teilnehmenden Forschers im Feld seiner Forschung ist sicher hinzuweisen. Jedoch ist auch dieser in der integralen Forschung zentrale Gedanke nicht neu und beispielsweise in der Methodendiskussion zur Feldforschung bereits seit Lewin bekannt. Fahrenberg bzw. Kirchler diskutieren u.a. aktuell das Thema Menschenbild als Ausgangsbedingung für die Psychologie bzw. Arbeitswissenschaften. Teilweise wird die Bedeutung dieses Wirkfaktors jedoch auch überbetont. Es bleibt zumindest darauf hinzuweisen, dass wir ja immer mit reduktionistischen Modellen arbeiten und diese im konstruktivistischen Sinne immer nur hinreichenden Erklärwert für ihren Forschungsgegenstand erreichen müssen. Die Frage der Forschungsökonomie als ein bedeutendes Gütekriterium scheint mir insbesondere bei den integralen Forschungsansätzen bislang viel zu wenig berücksichtigt.
Kurzum, bei dem Ziel eine integrale Forschung zu betreiben bleiben neben den forschungspraktischen Fragen nach Akzeptanz und Zugang zu Forschungsmitteln viele soeben ausgeführte und sicher weitere noch ungelöste Herausforderungen. Im Sinne einer integralen Haltung wäre es sinnvoll hier mehrere Perspektiven, Wege und Vorgehensweisen zuzulassen und die nächsten Schritte und zu lösenden Fragen ggf. auch auf Basis dieser Ausführungen systematisch anzugehen. Dabei darf und sollte jeder Forscher (egal welcher Zustands- oder Strukturstufe, vom Fach-Experten bis zum Magier oder Spiral Wizard) begrüßt und jedes Vorgehen im Sinne einer der beschriebenen Domänen integraler Forschung gefördert werden.
Dr. Marc Lucas ist Diplom-Psychologe, Master of Business Administration (USA), Traumatherapeut, Trainer, Berater und Coach. An der Universität zu Köln begleitet und betreut er mehrere integral-orientierte, interdisziplinäre Forschungsprojekte, die auch mit Doktorarbeiten verbunden sind und teilweise von der Helmholtz Gesellschaft gefördert werden. Zudem ist er mitverantwortlich für die Gestaltung des Masterkurses „Integrale Führung“ und die weitere Betreuung am BWL-Lehrstuhl für Personalführung und Organisation der FernUni Hagen.
(aus: Online Journal 30, Oktober 2011)