Aufklärung und Erleuchtung

Wissenschaft

Aufklärung und Erleuchtung

Warum wir beides brauchen

Sonja Student und Michael Habecker

  • Wer bin Ich? 
  • Wer bist Du und wer sind Wir?
  • Was ist Es?
  • Und warum ist überhaupt etwas?

Was im Englischen einfach Enlightenment heißt, hat im Deutschen zwei Bedeutungen – Aufklärung und Erleuchtung. Ersteres hat mit Wissenschaft und Letzteres mit Erlösung zu tun. Beides sind die größten Abenteuer der Menschheit auf ihrem Weg zur Bewusstwerdung und es sind Abenteuer des GEISTES auf seinem Weg zur Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung in der Manifestation. Heute, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, ist uns beides zugänglich und wir brauchen beides: eine „erleuchtete“ Aufklärung und eine „aufgeklärte“ Erleuchtung. Nur gegründet in beiden Dimensionen unseres ewigen Seins und ständigen Werdens – dem Absoluten und Relativen – sind wir frei von der Welt und damit auch frei in der Welt und können zugleich die ganze Fülle unseres immer komplexer werdenden Lebens umfassen und schöpferisch hervorbringen.

Frei von der Welt – frei in der Welt: Die absolute Dimension

Erleuchtung, als eine persönliche Erfahrung von höherer Einsicht oder Erkenntnis, hat eine lange Tradition. Mit der Bewusstwerdung der Innerlichkeit wandten sich einige unserer Vorfahren der Erforschung dieser Innenräume zu und machten dabei bemerkenswerte Entdeckungen. Einige davon waren so außerordentlich, dass sie dafür Worte wie „Erleuchtung“ prägten und ihre Erfahrungen in Beziehung zu etwas Höherem setzten, dem sie unterschiedliche Namen gaben. Spirituelle oder religiöse Tradition, die der Frage nachgeht, was für den Menschen oder das Leben von letztendlicher Bedeutung ist, ist eine der ältesten Menschheitsbemühungen auf der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis, und diese Suche begann als eine Suche im eigenen Inneren. Auch heute gibt es Menschen, die sich diesem Erkenntnisweg verschrieben haben, ihn praktizieren und uns von ihren Erfahrungen berichten. Es sind Berichte von großen Schwierigkeiten, Krisen und inneren Kämpfen, aber auch Berichte von endgültiger Befreiung und Freiheit, mit Erlebnisdimensionen, die „nicht von dieser Welt“ und dennoch dem menschlichen Bewusstsein zugänglich sind. Es sind Erlebnisse, die das eigene Leben unwiderruflich verändern können, und dem, was Menschsein ausmacht, eine völlig neue Bedeutung geben. Es sind Wirklichkeiten, die wir, wenn wir an Wissen und Erkenntnis interessiert sind, nicht zurückweisen können – dafür gibt es zu viele Berichte und „Daten“ zu vieler Einzelpersonen und Kulturen über eine zu lange Zeit. Und es gibt Methoden und Praktiken, wie Menschen diese Erfahrungen machen können.

Die Aufklärung: forschen und wissen statt glauben

Bei der Weitervermittlung dessen, was diese innerlichen und mystischen Erkenntniswege an Einsichten gebracht haben, z. B. durch die Religionsstifter, wurden deren Erfahrungen und Einsichten institutionalisiert. Das ist in gewisser Weise unvermeidlich, denn nur so kann aus Einzelerlebnissen kulturell tradierte Weitervermittlung werden. Doch in der Folge der Institutionalisierung mystischer oder religiöser Erfahrungen geschah und geschieht weiterhin oft Destruktives: Authentische direkte Erkenntnis wurde zu Dogma, Unterdrückung, Inquisition, Glaubenskrieg und religiösem Terror. Mit der Aufklärung entwickelte sich jedoch eine neue, weitere Perspektive.

Mit dem Begriff „Aufklärung“ bezeichnen wir historisch eine Zeit, die etwa um 1500 begann und die für die Entwicklung der wissenschaftlichen Methode steht. (Das bedeutet nicht, dass einzelne Menschen nicht schon vor dieser Zeit „aufgeklärt“ waren und sich bereits wissenschaftlichen Denkens bedienten, das war definitiv der Fall.)

Die Anfänge der Wissenschaft

Irgendwann vor langer Zeit muss es geschehen sein. Ein Mensch wurde sich erstmals, wenn auch noch sehr vage, seiner selbst bewusst. Ein Mensch entdeckte zum ersten Mal, dass er oder sie ein bewusstes Individuum ist, mit einem eigenen Innenleben, dem er sich zuwenden konnte. Dies war die Geburtsstunde von Innenschau, Meditation, Kontemplation, Psychodynamik, Psychotherapie und Religion. Es gibt eine Innenwelt, derer man sich bewusst werden kann. Die gleiche Dynamik muss es auch hinsichtlich der Außenwelt gegeben haben, wo ein einzelner Mensch oder eine Gruppe von Menschen der Frühzeit sich ihrer Außenwelt bewusst wurde und begann, diese bewusst zu gestalten. Dies war die Geburtsstunde von Naturwissenschaft und Technik. Und dann gibt es noch ein drittes großes Erwachen: zu der Erkenntnis, dass es andere, ebenso bewusste Individuen gibt, mit denen man in Beziehung und Gemeinschaft ist. Dieses Miteinander-Sein lässt sich ebenfalls bewusst erleben und gestalten, und daraus entstanden Ethik und Moral, Kultur- und Sozialwissenschaften.

Mit der Zeit der Aufklärung begann die wissenschaftliche Methode einen beispiellosen und bis dahin ungekannten Siegeszug überall auf der Welt. Wissenschaft wurde zum vorherrschenden Erkenntnis- und Erklärungsweg und löste damit traditionelle mythische und metaphysische Annahmen ab und alles, was ungeprüft geglaubt oder vorgeschrieben wurde, einschließlich vieler religiöser Vorurteile und Dogmen.

Und damit geschah etwas Neues, etwas, das man mit „forschen und wissen statt glauben“ bezeichnen könnte. Galt bisher die Gleichung Glaube = Wissen = Leben als unhinterfragt gegeben, wurde sie nun mit einem Fragezeichen versehen oder sogar als Unwahrheit und Widerspruch gesehen: Glaube als das Gegenteil von Wissen. Immer mehr Menschen verließen sich in ihrer leidenschaftlichen Suche nach neuen Antworten daher nicht länger auf den Weg ungeprüfter metaphysischer Annahmen. Sie wollten nicht nur die eigenen meta-physischen Wahrheiten jenseits dieser Welt erkunden, sondern wollten auch die Welt und die in ihr lebenden Menschen immer besser verstehen: die Innenwelt, die Außenwelt und die Beziehungswelt.

Das ist nicht nur von historischem Interesse, als die Geschichte dessen, was wir wissen, sondern es ist auch ein Prozess, den jeder Mensch auf seinem persönlichen Lebensweg im Verlauf seiner individuellen Entwicklung durchläuft.

Er lässt sich in drei Fragestellungen formulieren:

  • Wer bin Ich?  
  • Wer bist Du und wer sind Wir?
  • Was ist Es?

Damit haben wir es mit (mindestens) drei unterschiedlichen Erkenntnisbereichen und damit auch mit drei unterschiedlichen Untersuchungsbereichen von Wissenschaft zu tun:

  • dem subjektiv innerlichen Bereich (Ich),
  • dem intersubjektiv innerlichen Bereich (Wir)
  • und dem äußerlichen Bereich (Es).

Injunktion, Praxis, gemeinschaftliche Überprüfung

Eine wissenschaftliche Methodik, die sich auf alle drei Bereiche anwenden lässt, hätte als das Mindeste drei aufeinander folgende Schritte zu durchlaufen:

  • Schritt 1: Injunktion, Vorschrift, „Kochrezept“
  • Schritt 2: Praxis, konkrete Durchführung
  • Schritt 3: Gemeinschaftliche Überprüfung (mit Bestätigung oder Zurückweisung)

Injunktion bedeutet, dass Erkenntnisse nicht einfach gegeben sind, sondern durch bestimmte Praktiken, Anweisungen, Experimente und Vorgehensweisen gefunden werden bzw. sich zeigen. Will man dieses wissen, dann muss man jenes tun – das „Kochrezept“: eine objektive Messung, eine Interpretation und Deutung, ein meditatives Untersuchen der eigenen Subjektivität. (Daraus wird deutlich, dass sich das, was schon die Prämoderne diesbezüglich geleistet hat, ohne Schwierigkeiten wissenschaftlich betrachten und überprüfen lässt).

Praxis bedeutet die tatsächliche Ausführung einer Injunktion oder Praxis. (Das scheint selbstverständlich, ist es aber nicht. Das Reden über etwas ist das eine, das Experimentieren und Praktizieren von etwas ist das andere.) Man muss eine bestimmte Praxis auch tatsächlich ausführen, um zu Erfahrungen, Erkenntnissen, Einsichten und Daten im weitesten Sinn zu gelangen.

Mit dem dritten Schritt einer gemeinschaftlichen Überprüfung erfolgt die Bewegung vom Ich zum Wir: Ich habe die Praxis durchgeführt und subjektive Erfahrungen gemacht – aber sind diese Erfahrungen auch allgemeingültig? Um das herauszufinden und meine persönlichen Erkenntnisse auf eine breitere Basis zu stellen, vergleiche ich meine Ergebnisse mit den Ergebnissen derjenigen, die – das ist entscheidend – sich einer vergleichbaren Praxis unterzogen haben.

Diese drei Erkenntnisschritte – Injunktion, Praxis und Verifikation – unterscheidet Wissenschaft von Vorurteilen und Dogmen. Anders gesagt, zu jeder Aussage mit einem wissenschaftlichen Anspruch gehören der Weg und die Methodik zur Überprüfung dieser Aussage. Entscheidend bei dieser Betrachtungsweise ist, dass diese Methodik auf alle menschlichen Erfahrungsbereiche angewandt werden kann und sollte. Dazu gehören Geisteswissenschaften, die sich den innerlichen Bereichen zuwenden, genauso wie Naturwissenschaften, die sich den äußerlichen Bereichen zuwenden, die Einzelwissenschaften, die sich den isolierten Dingen zuwenden, ebenso wie die Systemwissenschaften, die sich mit den Zusammenhängen der Dinge beschäftigen.

Die Integrale Ära: Vor-Moderne, Moderne und Postmoderne integrierend und darüber hinausgehend

Mit Vor-Moderne ist die historische Zeitepoche bis etwa zum Jahr 1500 charakterisiert und eine nach wie vor aktuelle vor-wissenschaftliche Erkenntnis- und Seinsweise, die sich überwiegend auf unhinterfragte subjektive und kollektive dogmatische Vor-Urteile gründet und Dogma vor kritische Überprüfung setzt.

Mit Moderne ist die historische Zeitepoche ab etwa 1500 gemeint und eine nach wie vor aktuelle, auf wissenschaftlichen Grundlagen basierende Erkenntnis- und Seinsweise, die sich auf allgemeine und für alle Menschen gültige Grundsätze stützt.

Mit Postmoderne ist die historische Zeitepoche ab etwa 1960 gemeint, die sich vor allem mit der Kritik an der Moderne beschäftigt hat, und eine nach wie vor aktuelle Erkenntnis- und Seinsweise, die vor allem Multikulturalität, Kontexte und Relativität betont.

Integrale Ära meint die Möglichkeit in unserer heutigen Zeit die Größen und die Grenzen, die Würde und die Katastrophe von Vor-Moderne, Moderne und Postmoderne zu erkennen, zu heilen und zu integrieren. 

Integrierte Aufklärung

Das „Projekt Aufklärung oder Integrale Aufklärung“ ist mehr als eine zu rekonstruierende Historie: Es ist ein schöpferischer und erkenntnisgewinnender Prozess der Menschheit und des gesamten Universums von Anbeginn an. Sein (historisches und andauerndes) bewusstes Ziel war und ist es Licht in das Dunkel der Unwissenheit zu bringen – die Gesetzmäßigkeiten des Seins und Werdens zu enthüllen: in der Natur, in unserem Innern und in dem, was zwischen uns geschieht. Als eine Integration des Besten von Vor-Moderne, Moderne und Postmoderne kennt sie ihre Stärken und Schwächen, ihre Pathologien und Herausforderungen und stellt sich ihnen. Sie weiß auch um das unerschöpfliche Potenzial und Neuland, das vor ihr liegt, und das es zu erschaffen, zu entdecken und zu verwirklichen gilt. Als bewusst erlebter Vorgang ist sie das Abenteuer der Selbstentdeckung, der Entdeckung der Zwischenmenschlichkeit und der Entdeckung der äußeren Gegebenheiten als eine gemeinsame Entwicklung ohne Ende. In ihr äußert sich sowohl der Wille zu immer mehr Umfassendheit, wie auch die Hingabe und Demut für alles Gewachsene und Entstandene und für dasjenige, was jenseits aller Manifestation immer schon war, ist und sein wird.

Im September 2010 erscheint im Verlag J.Kamphausen das Buch von Michael Habecker und Sonja Student: Aufklärung und Erleuchtung: Voll in der Welt – frei von der Welt. Auf den Spuren von Ken Wilbers Integraler Philosophie und Erkenntnis

(aus: IP 15, 2010)

Ähnliche Beiträge