Ken Wilber
Wenn die Physiker von diesen subatomaren Partikeln und Feldern sprechen, dann sagen sie: ‚Sie alle durchdringen einander und existieren zusammenhängend’. Jemand, der hier nur oberflächlich hinschaut, sieht, dass die Mystiker und die Physiker genau dieselben Worte verwenden, wenn sie über ihre Wirklichkeiten sprechen, und schlussfolgert daher, dass es sich um dieselben Wirklichkeiten handeln muss – aber dem ist nicht so.
Die Physiker sagen uns mit ihrer eindimensionalen Durchdringung, dass alle Arten von subatomaren Ereignissen wechselseitig miteinander verbunden sind – was für sich genommen eine bedeutende Entdeckung ist. Sie sagen uns aber nichts – und sie können uns das auch nicht sagen – über die Interaktion von nichtlebendiger Materie mit der biologischen Ebene und deren Interaktion mit dem mentalen Feld. Welche Beziehung besteht zwischen – sagen wir – dem ionischen Plasma und den egoischen Zielen und Antrieben? Und was ist die Interaktion des mentalen Feldes mit dem Subtilen, und die des Subtilen mit dem Kausalen, und die umgekehrten Interaktionen und gegenseitigen Durchdringungen bis ganz hinunter zu den untersten Ebenen? Was kann uns die neue Physik darüber sagen?
Mein Vorschlag ist, dass die neue Physik einfach nur die gegenseitige, eindimensionale Durchdringung ihrer eigenen Ebene (nichtbewusste Masse/Energie) entdeckt hat. Dies ist eine bedeutende Entdeckung, doch sie kann nicht gleichgesetzt werden mit den außerordentlichen Phänomenen einer multidimensionalen Durchdringung, so wie sie die Mystiker beschreiben. Wie wir gesehen haben, hat der Hinduismus – als nur ein Beispiel – eine unglaublich komplexe und tief greifende Theorie darüber, wie der ultimative Bereich das Kausale erschafft, welches das Subtile erschafft, welches den Geist [mind] erschafft, aus dem die fleischliche Welt entsteht und an deren unteren Ende sich der physikalische Bereich befindet. Die Physik hat uns alle möglichen bedeutenden Dinge über diese unterste Ebene gesagt. Über ihre Vorgänger kann sie nichts sagen (ohne sich selbst zu Biologie, Psychologie oder Religion zu wandeln). Um es ganz primitiv auszudrücken, das Studium der Physik findet im Erdgeschoss statt und beschreibt die Interaktion der dortigen Elemente; die Mystiker befinden sich in der sechsten Etage, und beschreiben die Interaktionen aller sechs Etagen….
Die ganze Vorstellung der Entsprechung von Physik und Mystik kommt von der Nichtbeachtung der Ebenen 2 – 5. Es erscheint dann so, dass die Physik (Ebene 1) und die Mystik (Ebene 6) die einzigen zwei Ansätze gegenüber der Wirklichkeit wären…. Was wäre, wenn Buddhas Erleuchtung durch die neue Physik bestätigt und untermauert werden würde? Und was wäre weiter, wenn in einem Jahrzehnt neue wissenschaftliche Fakten die gegenwärtigen ersetzen (wie es immer geschieht)? Würde Buddha dann seine Erleuchtung verlieren? (p. 272)
Eine Gegenüberstellung Neue Physik / Mystik
Kurz gefasst – die ewige Philosophie stimmt darin überein, dass Materie aus dem Geist (prana) heraus entsteht, aber durch einen Akt des Niederschlags und der Kristallisation, und nicht durch Wahrnehmung und Messung …
1. Die ‚neue Physik’ ist – sogar was die subatomare Wirklichkeit angeht – weit von einem allgemeinen Konsens entfernt. Eine Anbindung transpersonaler Psychologie / Mystik an einen Konsens der Quantenphysik ist nicht möglich, weil es einen derartigen Konsens nicht gibt …
2. Selbst wenn wir Parallelen ziehen könnten, dann wäre ein Anbindung der transpersonalen Psychologie an die Physik der ‚sichere Weg für ihre Auslöschung’. Um Eckhart zu paraphrasieren: Wenn dein Gott der Gott der heutigen Physik ist, dann verschwindet er ebenso, wie die heutige Physik von der morgigen Physik abgelöst wird.
3. Der wichtigste Punkt ist der, dass egal welche Version der QM Theorie letztlich akzeptiert wird, dies keinen wesentlichen Einfluss auf die mystische Vision oder Weltsicht haben wird. Als Newton’s ‚fragmentarische Weltsicht’ ‚die Wahrheit’ war, machte dies die mystische Vision nicht ungültig. Wenn die Kopenhagener Interpretation sich als ‚wahr’ herausstellen sollte, wird dies die mystische Vision nicht außer Kraft setzen. Wenn irgendeine der QM Interpretationen wahr ist, dann wird das die mystische Vision nicht ungültig machen …
4. Es wird manchmal gesagt, dass die neue Physik zumindest im Einklang ist mit der mystischen Weltsicht, wenn dies dabei hilft, mystische Erfahrungen eher zu akzeptieren, dann sollten wir in der Tat der neuen Physik dankbar sein. Darüber hinaus jedoch sollten wir uns Bernsteins Warnung zu Herzen nehmen: Danke der neuen Physik, dass siemit dir übereinstimmt, aber widerstehe der Versuchung, deine transpersonalen Modelle auf dem Treibsand der sich verändernden Theorien der Ebene 1 aufzubauen.“ (p. 283)
Positive Rückwirkungen der „neuen Physik“
Es gibt – von der „neuen Physik“ und vom „holografischen Paradigma“ eine Reihe positiver Rückwirkungen, selbst wenn wir zu der Schlussfolgerung kommen – was wir, denke ich, müssen -, dass das Letztere auch nicht annähernd ein umfassendes oder auch nur adäquates Paradigma liefert. Zu den positiven Rückwirkungen gehören:
1. Das Interesse einflussreicher Physiker für Metaphysik …
2. Der reduktionistische Kahlschlag der mechanistischen Wissenschaft scheint nun endlich abzunehmen, und die Physik öffnet sich – auch durch den Einfluss von Autoritäten aus anderen Bereichen – für offene Systeme von unerschöpflicher Neuartigkeit und Kreativität. Dies wird besonders offensichtlich in der Arbeit von I. Prigogine, dessen Theorie der dissipativen Strukturen tiefgründig und schön zugleich ist. Dissipative Strukturen sind einfach eine mathematisch beschriebene Weise, welche es der Evolution ermöglicht, von weniger komplexen zu höheren und komplexeren Strukturen zu gelangen. Dissipative Strukturen erklären nicht [biologisches] Leben oder Geist, wie das manchmal gesagt wird, sondern sie sind Beschreibungen dessen, was mit Materie geschehen muss, damit höhere Bereiche sich entfalten. Die Charakterisierung des Wesens einer höheren Ebene als eine dissipative Struktur ist etwa so, wie wenn man sagen würde, dass Mona Lisa einfach nur eine Zusammenstellung von Farbe ist.
3. Die gesamte Bewegung der neuen Physik und des neuen Paradigmas zeigt zumindest, dass es ein tiefes, ernsthaftes und schnell wachsendes Interesse für ewige Fragen und tranzendente Wirklichkeiten gibt, selbst unter Spezialisten und in Bereichen, welche sich noch vor einem Jahrzehnt überhaupt nicht dafür interessierten. Wie vorläufig einiges von dem, was dazu gesagt wird, auch ist, dies ist außerordentlich.
4. Bücher wie Das Tao der Physik und Die tanzenden Wu-Li Meister und Veröffentlichungen wie Marilyn Fergusons Brain/Mind Bulletin bringen einer großen Anzahl von Menschen nicht nur die Faszination westlicher Wissenschaft und Physik nahe, sondern vermitteln ebenso Aspekte und Gedanken östlicher Weisheit auf eine Art und Weise, wie sie vorher nicht möglich war.
Wenn ich nun bestimmte Aspekte des neuen Paradigmas kritisiere, dann geht es mir nicht darum, das Interesse daran zu unterbinden. Was ich tue, ist eher ein Aufruf zur Genauigkeit und Klarheit bei der Darstellung von Themen, welche außerordentlich komplex sind und sich nicht für eine schnelle Verallgemeinerung eignen. Ich sage das mit einer gewissen Dringlichkeit, weil bei unserem verständlichen Eifer ein neues Paradigma zu verkünden, welches sowohl Bezug nimmt auf die Physik an einem Ende und die Mystik am anderen Ende, es leicht passieren kann, dass wir uns beiden Seiten entfremden und auch allem, was dazwischen liegt … Die Arbeit dieser Wissenschaftler – Bohm, Pribram, Wheeler und aller anderen – ist zu bedeutend, um in wilden Spekulationen über Mystik abgewertet zu werden. Mystik wiederum ist zu tiefgründig, um sie an einer bestimmten Phase einer empirisch-wissenschaftlichen Theoretisierung festzumachen. Lassen wir beide einander wertschätzen, und lassen wir den gegenseitigen Dialog und Austausch niemals abbrechen. Ungerechtfertigte und vorzeitige Hochzeiten führen gewöhnlicherweise zu Scheidungen, Scheidungen bei denen nur allzu oft beide Parteien schwer beschädigt werden.“ (p. 288)
(aus: The Collected Works of Ken Wilber, Volume Three, Shambhala 1999.)
(aus: Online Journal 2)