Edith Zundel über Ken Wilber

Ken Wilber Texte

Edith Zundel über Ken Wilber

Edith Zundel

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts arbeiteten mein Mann, Leiter des Bonner Büros der Wochenzeitung „Die Zeit“ und ich an einer Artikelserie über „Leitfiguren der Psychotherapie“, die in der „Zeit“ veröffentlicht wurden.  Dabei lasen wir nicht nur die meist sehr umfangreichen Schriften dieser Leitfiguren und beließen es auch nicht nur bei Interviews, sondern unterzogen uns, wo immer es ging, auch einer Therapie.

1983 waren wir zu einem „Monthlong“ bei Stanislav und Christina Grof in Esalen/Kalifornien. Grof machte uns dort auf Ken Wilber aufmerksam. Später gab er mir auch  Wilbers Artikel über „The Developmental Spectrum of Psychopathology“ zu lesen, die 1984 im amerikanischen Journal of Transpersonal Psychology erschienen waren. Diese Artikel brachten für mich endlich Klarheit in das Durcheinander des New Age, das damals in vollem Schwung war. Als dann der Scherzverlag uns „Halbzeit der Evolution“ mit der Anregung schickte, Wilber  in unsere Leitfigurenreihe aufzunehmen, brauchte er nicht lange zu bitten. 1986 erschien der Artikel über Wilber in der „Zeit“.  Es ist meines Wissens die erste Darstellung von Wilbers Person und Werk in deutscher Sprache.  Die Leitfigurenreihe wurde bei Kösel und danach bei dtv veröffentlicht und ist mittlerweile vergriffen.

Leitfiguren der Psychotherapie

Leben und Werk

Kösel Verlag 1987
ISBN  3-466-34174-4

„Er ist ein Einsiedler, er lässt sich nicht sprechen“, hörte ich über ihn. Das machte mich noch neugieri­ger, als ich ohnehin schon war. Was ich von ihm gelesen hatte, fand ich frappierend. Da brachte einer die verwir­rende Fülle westlicher und östlicher Theorien, die sich mit der Erklärung psychischer Störungen befassen, in eine Ordnung. Alles hatte plötzlich seinen Platz. Dann kam „Halbzeit der Evolution“ heraus, ein weiteres, nicht gerade bescheidenes Un­ternehmen. Wilber beschrieb hier die menschliche Entwicklung individuell und als Entwicklungsgeschichte der Menschheit: „Der Mensch auf dem Weg vom Tier zu den Göttern.“ Da trafen sich enzyklopädisches Wissen, Offenheit für unterschiedlichste Denkmodelle, lebendiger, präziser und bildkräftiger Stil mit ungewöhnlicher Kraft zur Zusammenschau und seltener Klarheit des Denkens. Es war ein Fund!

Ich schrieb an Wilber. Als auf meine Briefe keine Antwort kam, flog ich nach Japan zum Kongress der Internationalen Transperso­nalen Gesellschaft. Wilber stand als Vortragender auf dem Pro­gramm. Kyoto im Frühling war wunderschön, die Begegnung mit den japanischen kulturellen und religiösen Traditionen un­vergesslich, aber Ken Wilber war nicht da. Präsent war er trotzdem. Ein prominenter Physiker jubelte ihn in seinem Vor­trag hoch, viele Hoffnungen richteten sich auf ihn. Unsichtbar sein ist keine schlechte Public-Relations-Technik – wenn man Ken Wilber heißt.

Ich fragte herum, wer ihn kennt. Der Präsident der Gesellschaft, Cecil Burney: »Wir sind befreundet. Er ist umgänglich und völlig unprätentiös.« Wie kann er, Geburtsjahrgang 1949, schon neun Bücher veröffentlicht haben? »Er arbeitet sehr viel und hart, und er ist ein Genie«, stellte Roger Walsh lakonisch fest. Walsh ist Professor für Psychiatrie an der University of California. Seine Frau, Frances Vaughan, ehemalige Präsidentin der amerikani­schen Gesellschaft für Transpersonale Psychologie, Professo­rin, Autorin und Therapeutin, ergänzte: »Er bringt auf den Begriff, was wir denken und nicht ausdrücken können«, und mütterlich setzt sie hinzu: »Man hat dauernd das Gefühl, für ihn sorgen zu müssen, sein einziger weltlicher Besitz war lange Zeit seine große Bibliothek. « Ken Wilber hat eine Zeitlang im Hause der beiden gewohnt, als seine erste, früh geschlossene Ehe in die Brüche gegangen war. Frances Vaughan schwärmt von der Leichtigkeit seines Schreibens, seiner unglaublichen Bildung: »Ob er mit einem tibetanischen Lama diskutiert oder mit einem bekannten Psychologen, er ist über deren Fachgebiet immer informiert und keineswegs unterlegener Gesprächspartner.«

Mit Hilfe dieser Freunde und  seinem deutschen Verlage versuchte ich später noch einmal, ein Interview mit Wilber zu bekommen. Als ich schon in San Francisco war, hatte ich noch immer keine feste Zusage. Und dann, plötzlich, ist er am Tele­fon: »Ich komme morgen nach San Francisco.« Wir treffen uns in seiner kleinen Zweitwohnung in einem Vorort. Das Wohn­zimmer ist mit Gartentisch und -stühlen ausstaffiert, durch die halbgeöffnete Tür sieht man eine Matratze auf dem Fußboden. Ken Wilber, barfuß, mit offenem Hemd – es ist ein warmer Sommertag – stellt ein Glas Saft für mich auf den Tisch und lacht: »Ich existiere wirklich«. Sein Kopf ist wie bei einem Zen-­Mönch glattrasiert, sein Gesicht regelmäßig mit dunklen, leben­digen Augen. Sehr groß, schmal, die Hände fast zerbrechlich sensibel, würde er wunderbar streichen zu den Figuren gotischer Dome passen.

Sein Vater war Offizier der amerikanischen Luftwaffe und wurde viel versetzt. Ken Wilber ist »ohne Heimat, ohne Wur­zeln« aufgewachsen. »Wenn es mir schlecht geht, denke ich, es liegt daran.« Er hat bei den vielen Umzügen aber auch gelernt, sich auf immer neue Menschen und Situationen einzustellen, für sie offen zu sein, zu vertrauen. »Wenn es mir gut geht, denke ich auch, es liegt daran.«

Die Schilderung der Eltern bleibt blass Beide waren sehr intelli­gent, konventionell, Baptistin die Mutter, der Vater ohne kirchli­che Bindung. »Er hatte Boden unter den Füßen und war, was man einen anständigen Mann nennt.« Der Erziehungsstil war liberal: »Sie haben mir alle Freiheit gelassen, haben mir nie Vorschriften gemacht, was ich zu denken hätte.«

Von sich selbst berichtet er: »Ich war ein Lausbub und auch später habe ich genug Bier getrunken und war in ausreichend viele Frauen vernarrt, um ganz normal und gesund zu sein.« Mit zehn Jahren entdeckte er ein Chemiebuch. Danach verbrachte er seine glücklichsten Augenblicke in den Laboratorien, die er in den verschiedenen Wohnungen seiner Eltern einrichtete. Anson­sten tobte er sich in der Turnhalle und auf dem Sportplatz aus, war Kapitän der Football-Mannschaft seiner Schule und bekam ständig irgendwelche Preise – das Urbild eines jungen Amerika­ners, dem die Welt offen steht. Es war eine naturwissenschaftli­che Welt, sein Studienziel Biochemie und sein damaliges Innen­leben »ein Idyll der Präzision und Akkuratesse, eine Festung des Klaren und Selbstverständlichen« – bis ihm auf dem College zufällig Laotses Tao Te King in die Hände fiel:

Tao, kann es ausgesprochen werden, ist nicht das ewige Tao.

Der Name, kann er genannt werden, ist nicht der ewige Name.

Das Namenlose ist des Himmels und der Erde Urgrund, Das Namen Habende ist aller Wesen Mutter.

Das war eine völlig neue, ganz und gar andere Welt. Sie ließ ihn nicht mehr los. In den folgenden Monaten las er Einführungen in Buddhismus und Taoismus, und was er bisher als Sinn und Inhalt seines Lebens begriffen hatte, wurde blass. Er schildert das so, als ob etwas längst Bekanntes wieder in sein Bewusstsein getreten wäre. »Der alte Weise (Laotse) hatte eine Saite ganz tief in mir berührt. Ich wachte plötzlich auf, und es wurde mir klar, dass mein altes Leben, meine alten Überzeugungen mir nichts mehr bedeuteten.«

Natürlich war das gegenüber Freunden, Kollegen und vor allem gegenüber der Familie schwierig. »Sie hielten Krishnamurti für einen Kommunisten und Bodhidharma für einen gottlosen Athei­sten.« Die Eltern hätten ihn gern als Arzt gesehen – insgeheim vielleicht heute noch. Er aber las wie besessen Philosophisches aus Ost und West, Psychologisches, Theologisches, schwänzte Vorlesungen, um sich in die Baghavad Gita und die Kabbala zu vertiefen, und brachte es trotzdem fertig, das College mit so guten Noten abzuschließen, dass man ihm ein Stipendium für die Graduate School der University of Nebraska gab. Aber dort begann wieder das gleiche Spiel.

»Es war wie eine Gralsuche«, schreibt er über diese Jahre. Im persönlichen Gespräch benutzt er keine großen Worte. Wenn er die Intensität seiner Suche nicht gerade »meine Neurose« nennt, erklärt er: »Ich bin eigentlich sehr faul; es ist nur – I fell in love with ideas«. >Ich habe mich in Ideen verliebt< ist eine schwache Übersetzung dafür. Kopf und Herz, Verstand und Gefühl sind für ihn keine Widersprüche. »Da ist Saft drin«, sagt er über die Gedanken der großen Philosophen und Psychologen, die ihn faszinieren. Ihr Denken und sein eigenes ist für Wilber alles andere als >graue Theorie<.

Ken Wilber hat seiner Liebe gelebt, zuzeiten 20 Stunden am Tag. Drei bis vier Bücher liest er in dieser Zeit und, das eigentlich Erstaunliche, er kann sich merken, was darin steht. Die Liebe war aber keineswegs problemlos. Zunächst machte sie ihn schlicht unglücklich, in Buddhas Worten >dukkha<, sauer. Über­all gab es Anweisungen zum richtigen, glücklichen Leben. »Aber die unterschiedlichen Autoren hatten recht verschiedene Vorstellungen davon, was zu meinem Seelenheil nötig wäre.« So war er unglücklich und verwirrt zugleich. »Wenn die Freudianer recht haben, und Ichstärke die Grundlage psychischer Gesund­heit ist, wie können dann die Buddhisten recht haben mit ihrer Forderung, das Ich aufzugeben? Wenn die Behaviouristen recht haben, daß die frühere Konditionierung der Schlüssel zu  Problemen ist, wie kann dann Perls behaupten, nur das Hier und Jetzt sei wichtig?«

Die Widersprüche gab es nicht nur in Ideen. Wilber meditierte täglich im Za-Zen-Stil und machte gleichzeitig Gestalttherapie. Trotz Perls‘ Interesse für Zen-Buddhismus hält er den Vater der Gestalttherapie für einen brillianten >Pop-Freudianer<. Er hat viel von ihm gelernt. Aber: »Freud und Buddha haben wahrhaftig wenig gemein.« Es wurde zur Existenzfrage für ihn, Sinn und Zusammenhang zu finden.

Um aus der Misere herauszukommen, musste er sie erst einmal ordnen. Zunächst unterteilte er seine Landkarte des Bewusstseins in die beiden Ebenen des Personalen und des Transpersonalen und entwickelte die erste Regel: Man kann als möglicherweise wahr annehmen, was eine Persönlichkeitstheorie über die per­sönliche Sphäre und was eine transpersonale Theorie über die transpersonale aussagt. Aber bei Grenzüberschreitungen ist Vor­sicht geboten. Freuds »Hysterie angesichts des Religiösen« etwa, findet er ebenso unsinnig wie die pauschale Ablehnung Freuds durch die transpersonalen Autoren, die »damit die unangeneh­men, aber ganz wesentlichen Dinge ignorieren, die das Genie Freud über seinen Bereich zu sagen hat und statt dessen die Menschen als eine Mischung aus Süße und Licht begreifen – umgekehrt genauso einseitig wie Freud«.

Aber auch innerhalb dieser beiden Betrachtungsweisen gab es Schwierigkeiten. Was die Inder über Kundalini-Energie zu sagen wussten, stand in überhaupt keiner Beziehung etwa zu Meister Eckharts oder Jakob Böhmes Gottesvorstellung. Und angesichts der Unzahl westlicher psychologischer und therapeutischer Sy­steme fragte Wilber sich, »ob all diese Schulen wirklich das gleiche menschliche Wesen studieren. Es sah vielmehr so aus, als ob die westliche Welt von vier oder fünf verschiedenen Men­schenrassen bevölkert wäre. Es gab den aggressiven, den libidi­nösen, den konditionierten, den sich selbst verwirklichenden und den transzendierenden Menschen, nur vom homo sapiens schien niemand zu reden«.

Zunächst fand er eine Verbindung zwischen Personalem und

Transpersonalem beim Nachdenken über die Angst. Für die Existentialisten, Prototypen der personalen Ebene, gehört Angst notwendigerweise zum Menschen, sobald er sich seiner Indivi­dualität und damit seines Abgesondertseins von anderen bewusst wird. »Die Hölle, das sind die anderen«, sagt Sartre.

Ganz ähnlich schildern auch die Mystiker das menschliche Grundübel: »Wo es ein anderes gibt, da ist Furcht«, heißt es in den Upanishaden. Aber sie gehen darüber hinaus. Für sie gibt es eine höhere Realität jenseits des Gegensatzes von Selbst und Anderem, eine Realität, die entweder als Vereinigung der Ge­gensätze oder jenseits aller Gegensätze erlebt wird. Wer diese letzte Realität, diese Alleinheit, in der es kein Anderes gibt, für sich entdecken kann, befreit sich damit von dem Schicksal, sich als >separates< Selbst zu empfinden, wird frei von Angst.

Für Wilber war dies nicht nur eine Lösung für das Problem der Angst, sondern auch für sein Denkproblem, wie Personales und Transpersonales zusammenzubringen sei. Er entdeckte damit einen Eckstein seiner Theorie: So wie die Einsteinsche Physik die von Newton nicht ungültig macht, sondern über sie hinausgeht und sie umfasst, umfasst ein höheres philosophisches System die darunterliegenden, aber nicht umgekehrt. In unserem Beispiel umfasst das System der Mystiker das der Existentialisten und bringt eine Lösung auf höherer Ebene. Wilber vergleicht das mit jenen Spielzeugschachteln bei denen die kleinere immer wieder in eine größere gesteckt werden kann, und die größte umfasst alle anderen.

Nach diesem Prinzip ordnet Wilber dann auch die Psychologie in eine Stufenfolge: Die Therapie beschäftigt sich mit verschiede­nen Abspaltungen, die Angst machen. Die bekanntesteaus der Psychoanalyse ist die Teilung der Psyche in Akzeptables und weniger Akzeptables. Womit wir uns identifizieren, was wir als >Selbst< anerkennen, ist häufig nur das, was wir der Welt von uns zeigen mögen, das Bündel von Eigenschaften, zu denen wir uns bekennen. Das sind bei weitem nicht alle. Die unangenehmen, peinlichen, werden verdrängt, werden zum Anderen, zu Schat­ten. Das ist eine schmale Lebensbasis, und es ist nicht verwun­derlich, dass ein so verkümmertes Selbst oft Angst hat. Integriert man die Schatten – die Arbeit der Freudianischen und in gewis­sem Maß auch der Jungianischen Therapie – wird die Person stärker, entwickelt ein vollständigeres Ich. Das ist schon besser. Aber es ist immer noch ein Ich, das seinen Körper besitzt wie ein Auto, es >ist< nicht Körper. Gelingt es, die Grenze weiter hinaus bis zur eigenen Haut zu schieben, – mit Hilfe der humanistischen Psychologie und der Körpertherapien – gewinnt das Selbst schon stattlichere Dimensionen, wird zur stabileren >organismischen< Einheit. Schließlich kann auch noch die Umgebung, Familie oder Arbeitsgruppe, gewissermaßen wie ein Biotop zum Selbst gehö­ren. Das wäre die Ebene der Kommunikations- und Systemthera­pien. Die Mystiker setzen die Reihe fort, bis das Selbst den ganzen Kosmos umfasst. Dann gibt es kein anderes mehr, das man fürchten müsste.

Als er soweit war, schrieb Wilber, ein seltsamer Heiliger, zwi­schen den Zuckerrübenfeldern und den Rinderfarmen Nebraskas, völlig auf sich selbst gestellt, in drei Monaten sein erstes Buch: >Spectrum of Consciousness<, das Spektrum des Bewusstseins. Es dauerte allerdings noch drei Jahre, bis es gedruckt wurde. Den einen Verlegern war es zu wissenschaftlich, den anderen zu mystisch; und Wilber war ja zunächst völlig unbekannt. Er selbst meint heute, »es sind ein paar Denkfehler darin, aber es ist der Keim von allem, was ich später gemacht habe.«

Danach verzichtete er auf eine Universitätskarriere, die ihm offen stand. Statt dessen hielt er sich als guter Zen-Schüler an die Regel, im Gleichgewicht zwischen Körper, Geist und Spirituel­lem, genauer: zwischen körperlicher Arbeit, Studien und Medita­tion zu leben. Er meditierte täglich mehrere Stunden und nahm oft an Sesshins, Wochen besonders strenger Übung, teil. Was er über mystische Bewusstseinsstufen schreibt, ist keineswegs nur Theorie für ihn.

Seinen Unterhalt verdiente er mit Halbtagsjobs. Wie der sprich­wörtliche amerikanische Millionärsanwärter, hat er jahrelang Teller gewaschen, Rasen gemäht, sich in einer Tankstelle und in einem Obst- und Gemüsegeschäft betätigt. Seine Frau pflegte ihn damals vorzustellen: »Mein Mann, Tellerwäscher und weltbe­kannter Autor.« Ein Schlaraffenleben war das nicht, aber er hat die Entscheidung für diese Lebensform nie bereut: »Ich habe gelernt, was mir keine Universität hätte beibringen können: Demut – vergiss Titel, Bücher und Artikel, spüle Geschirr- und den Realitätssinn dessen, der sich unmittelbar und konkret mit der Welt beschäftigt.« Am meisten betroffen hat ihn jedoch die Begegnung mit den Menschen, die nur diese Jobs kennen, »so hart arbeitenden und anständigen Leuten, wie man sie nur finden kann, deren Körper die physische Anstrengung vorzeitig altern lässt, die keine anderen Zukunftschancen haben.«  Dieses Lebensarrangement ist wohl eines der Geheimnisse seiner Produktivität. Allerdings blieb er dabei nicht ganz unbehelligt. Einem Freund gelang es, ihn zur Mitgründung von >ReVision< zu bewegen, einer Zeitschrift, die Wilber als »Kreuzung zwischen Publi­kationen zu Denkströmungen der Gegenwart, vergleichender Religionswissenschaft und transpersonaler Psychologie« be­schreibt. ReVision war lange das offizielle Organ der Internatio­nalen Transpersonalen Gesellschaft. Wilber hat die Chefredak­tion erst vor kurzem abgegeben.

Trotz dieses >Seitensprungs< kam Wilbers eigenes Forschen und Schreiben nicht zu kurz. Er las Entwicklungspsychologie, alles von Piaget über Neumann bis Margret Mahler und vertiefte sich in Anthropologie und Mythologie. Das Grundkonzept seiner Entwicklungstheorie: das menschliche Bewusstsein entwickelt sich von einfachen, niedrigen zu komplexeren, höheren Struktu­ren fort. Dabei sind die Grundmuster überall gleichartig, wäh­rend sich die Oberflächenstrukturen von Individuum zu Indivi­duum und von Kultur zu Kultur unterscheiden. Die jeweils höhere Ebene des Bewusstseins entsteht dabei nicht aus der davorliegenden niedrigeren, Leben zum Beispiel aus der Mate­rie, oder Geist aus dem Körper, sie steigt vielmehr aus einem unbewussten Urgrund durch die tiefere Ebene hindurch auf. Konkret sieht das so aus: Die modernen Entwicklungspsycholo­gen beschreiben den Bewusstseinszustand des Neugeborenen als undifferenzierte Matrix. Individuum und Welt sind noch nicht getrennt; es gibt weder Zeit noch Raum noch Grenzen. So ähnlich hat vermutlich der Urmensch bis etwa 200 000 Jahren v. Chr. gelebt: »ohne Unterscheidung zwischen innerer Erfahrung und äußerer Natur, ohne Gedanken, ohne Sprache, in einer Zeit vor der Zeit, ohne wirkliches Begreifen des Todes und darum wohl auch ohne wirkliche Existenzangst; allmächtig in seinem Nicht­wissen.« Dies ist der Hintergrund der Mythen vom Garten Eden, vom Paradies.        Ist dieses Paradies dasselbe wie die Einheit im höchsten Bewusstsein, im Atman der Hindus, im Tao Laotses oder im Gottesbewusstsein der christlichen Mystiker? Ist die Bewusstseinsentwicklung der Menschheit nur Kreisbewegung, die wieder da endet, wo sie begann? Ist die Sehnsucht nach Einheit also nichts anderes als die Neigung zur Regression, zum Rückzug in den frühkindli­chen Zustand, wie die Psychoanalytiker glauben? Wilber hat sich lange mit diesem Problem herumgeschlagen, bis er zur Erkennt­nis kam: das Neugeborene lebt in der Einheit, aber unbewusst, noch nicht als Person. Die Einheit im Atman oder Tao aber ist das Äußerste an Bewusstheit, sie umschließt alle vorhergehenden Bewusstseinsstufen. Die Entwicklung geht also vom Unbewussten über das Bewusste zum Überbewussten, vom Präpersonalen über das Personale zum Transpersonalen. Das transpersonale absolute Bewusstsein ist zugleich Einheit mit dem Grund alles Seins, der unsterblich ist. Diese Einheit bewusst zu erreichen, ist Ziel der Entwicklung und Sehnen des Menschen. Der Weg dahin ist lang und mühsam.

Adam isst vom Baum der Erkenntnis und wird ob dieses Sünden­falls aus dem Paradies (des Unbewussten) verstoßen. Ein >FallO notwendige Sünde Adams< heißt es in der katholischen Liturgie des Ostersamstags, und alle Heldengeschichten begin­nen mit der Trennung des Helden von seiner Heimat. Auf englisch heißt Wilbers Buch über die Menschheitsgeschichte >Up from Eden<, aufwärts von Eden. Der Mensch löst sich Schritt um Schritt aus der ursprünglichen Einheit und gewinnt Bewusstsein und Individualität. Aber das hat seinen Preis. »Die Tiere sind sterblich, aber sie begreifen diese Tatsache nicht ganz. Die

Götter sind unsterblich und sie wissen das. Der armselige Mensch jedoch wurde zu einer unglückseligen Mischung. Er ist sterblich und er weiß es.« Je verständiger er wird, desto mehr wird er sich auch seines vom Tode gezeichneten Schicksals bewusst, desto mehr Angst erlebt er.

Vom zweiten Lebensmonat ab lernt das Neugeborene, vage zwischen sich und der Umwelt zu unterscheiden. Aber noch bleibt es symbiotisch mit der Mutter verbunden; sie ist weitge­hend seine Welt. Nur langsam trennt es sich zunächst körperlich, dann auch in seiner Vorstellungswelt von ihr. Aber der kleine Mensch bleibt noch immer auf die unmittelbare Gegenwart bezogen, seine Gefühle sind vom Lust-Unlustprinzip bestimmt und kurzschlüssig. Seine Welt ist noch lange »bewusst und voller Absichten«, formuliert Piaget, »das Selbst ist nur leicht verinner­licht«. Vermutlich erleben Kinder in diesem Stadium die Welt so wie Erwachsene ihre Träume: als eine Reihe von Bildern. In einem ähnlich >magischen< Gemütszustand lebten wahrschein­lich auch unsere Vorfahren, als sie die urzeitlichen Höhlen mit ihrem Jagdzauber bemalten. Konnte man das Bild des Mammuts treffen, traf man auch das reale Tier. Wilber nennt diese Phase die phantastisch-emotionale oder magische.

In der nächsten Stufe, der verbalen oder mythischen, kommt Wesentliches hinzu: die Sprache. Sprechen und sprachlich den­ken zu können (nicht wie zuvor in Bildern) ist ein großer Schritt zur Unabhängigkeit von der unmittelbar gegenwärtigen Welt. Der kleine Mensch kann nun Vergangenheit erinnern, Zukunft antizipieren und sein eigenes Tun entsprechend gestalten. Er ist nicht mehr völlig von seinen Triebwünschen beherrscht, kann sie auf später verschieben. Und er pflegt und verteidigt diese neue Unabhängigkeit: >Will nicht< und >selber machen< werden wich­tige Vokabeln, nicht zuletzt bei der Sauberkeitserziehung, womit die Erwachsenen ihm ihre ersten Spielregeln beibringen. Er lernt, was Piaget >Realitätswahrnehmung< und Freud den >Sekundärprozess< nennt. Aber noch denkt er nicht kausal und logisch.

Die Parallele in der Menschheitsgeschichte: Um das zehnte vorchristliche Jahrtausend entdeckte die Menschheit den Acker­ bau. Das setzt Sprache voraus. Zeitgefühl, die Fähigkeit zu längerer Planung und gemeinschaftlichem Handeln. Mit der Sprache konnte auch kulturelle Tradition entstehen – ein großer Entwicklungssprung in eine neue, höhere Realität. Der Ackerbau brachte Überschuss; die Menschen erfanden das Geld, entwickel­ten neue, spezialisierte Berufe und Klassen – Priester, Verwalter, Lehrer -, Kalender, Mathematik und Schreibkunst entstanden und auch große Machtstrukturen in den Stadtstaaten des nahen Ostens, in den Dynastien an Euphrat und Nil.

Mit der schon erstaunlich verfeinerten und eleganten Kultur des Niltals entstand auch ein Totenkult von ungeheuren Ausmaßen. Wilber nennt ihn den >ägyptischen Wahnsinn<. Zunächst genügte dem Menschen noch Magie, um seine Todesangst zu bewältigen, jetzt verdrängt er das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit mit dem Bau von Pyramiden. Für Wilber richtet sich die eigentliche Sehnsucht der Menschheit auf >Atman<, auf die Einheit mit dem höchsten Bewusstsein. Dies wird auf keiner der Vorstufen wirk­lich erreicht. Und so verdrängen die Menschen das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit mit Ersatzlösungen für Unsterblichkeit, mit Besitz, Macht und Pyramiden – mit >Atmanprojekten<.

Die Mythologie dieser Zeit zeigt noch einen anderen Zusammen­hang. Zu Beginn der Menschheitsentwicklung gibt es fast aus­schließlich Muttergottheiten. Die chthonische Mutter, die Erde, gebiert, ernährt und- empfängt die Toten wieder in ihrem Schoß. Das Herzstück ihrer Mythologie ist das rituelle Blutopfer, zu­nächst ein Menschenopfer, oft ritueller Königsmord. Das >Stirb und Werde< der Jahreszeiten ist darin und auch die Verbindung von Blut und Fruchtbarkeit. Man schuldet der großen Mutter gewissermaßen einen Tod, um selbst Leben und Fruchtbarkeit zu erlangen. Die Könige fanden für den rituellen Mord bald Stell­vertreter, Jungfrauen, Tiere. Und von dieser Zeit an erfahren wir auch von Kriegen: »Wenn ich Dich töte, gewinne ich Leben, Macht und eine fruchtbare Zukunft.« Die Getöteten sind Ersatz­opfer. Menschlicher Hass – viel kälter und grausamer als der tierische – ist für Wilber weitgehend kognitives, begriffliches Produkt.

Etwa ab 2500 v. Chr. beginnt eine neue Stufe, die mental ­ichhafte. Ihr Bild in derMythologie: männliche Götter tauchen auf, die nicht nur untergeordnete Gefährten der Großen Mutter sind. Der Kampf gegen die Natur ist nicht mehr aussichtslos, die Große Mutter nicht mehr unweigerlich Siegerin. Helden befreien sich von dem dunklen Ungeheuer und gewinnen einen großen Schatz: das Ich, die Fähigkeit zu kausalem, logischen Denken. »Das Licht der apollinischen Vernunft geht auf« und macht unsere abendländische Kultur möglich. Der endgültige Ausbruch aus der unbewussten Bindung an Natur, Kosmos und Körper war jedoch bitter schwer und erzeugte bis dahin ungekannte Rachege­fühle gegen die frühere Stufe. »Die Große Mutter wurde nicht nur transzendiert, was wünschenswert war, sondern verdrängt, was sich verheerend auswirkte.« Der Geist begann, die Natur zu unterwerfen und zu zerstören, lernte auch das eigene Stück Natur, den Körper, >Bruder Esel< verachten. Der Krieg zwischen Verstand und Instinkt beginnt.

In der Individualentwicklung ist dies die Phase, in der das Kind sein eigenes Geschlecht, seine eigene Identität entdeckt. Und dies führt geradeswegs zur ersten unglücklichen Liebe: das kleine Mädchen fühlt sich vom Vater, der kleine Junge von der Mutter angezogen, aber beide haben im gleichgeschlechtlichen Eltern­teil einen großen Rivalen. Das Kind steht nicht mehr nur einer anderen Person, der Mutter gegenüber, sondern muss sich mit beiden Eltern auseinandersetzen – die Phase des Freudschen Ödipuskomplexes. Ihre Hauptkränkung ist für Wilber Ausge­schlossensein aus wesentlichen Gemeinsamkeiten der Eltern, ihre Hauptentwicklungsaufgabe die Überwindung der misslichen Situation, ihre Transzendenz ins Mentale. Ödipus, das ist für Wilber der tragische Held, der vom Naturhaft-Mütterlichen nicht los kam.

Das Kind entwickelt nun auch vollends sein Überich, das heißt, es nimmt die Verbote und Ideale seiner Umwelt, vor allem die seiner Eltern, in sich auf, entwickelt moralische Maßstäbe und plagt sich mit Schuld- und Schamgefühlen, wenn es diesen Maßstäben nicht genügt. Das eingeschränkte Selbst des normalen Mitteleuropäers, dem wir bei der Darstellung des ersten Spektrumsentwurfes begegneten, ist entstanden.

Die neue Entwicklungsstufe ist deutlich patriarchalisch be­stimmt. Zum Teil ist das für Wilber natürlich: Die traditionelle Definition des Weiblichen >naturhaft, bewahrend, intuitiv, pas­siv< und die korrespondierende männliche >rational, logisch, aktiv, aggressiv< ist für ihn desto zutreffender, je näher der Mensch noch seiner Körperlichkeit steht, und wird um so irrele­vanter und irreführender, je mentaler, je geistiger er wird. Schlimm findet er, daß die Frau – >mulier taceat in ecclesia< – von der mentalen Kommunikation und damit von der Entwicklung eigener Geistigkeit ausgeschlossen wurde. Von der neuen Ent­wicklung einer >mentalen Femininität< erhofft Wilber sich nun den Ausgleich maskuliner Einseitigkeit und Stagnation im Ver­standesmäßigen. Weibliche Weisheit, die große Göttin Sophia oder Sapientia, wird zur Führerin.

Eine Entwicklung der Menschheit über die persönliche Autono­mie und Vernunft hinaus – woher weiß Wilber, daß es sie gibt und wohin sie führt‘? Persönliche Erfahrung und die Erfahrung der >Helden< Menschheitsgeschichte – der wenigen einzelnen, Propheten, Heilige, Weise, die sich in jeder Epoche über ihre Stufe hinaus entwickelt haben – sind ihm Wegweiser. Diesen »Wachstumsspitzen des Bewusstseins«, spürt Wilber in jeder Epoche nach. Bei den Schamanen wird das Transpersonale zum ersten Mal sichtbar: Es mag viel Hokus Pokus dabei sein, heute und auch damals schon, aber einige dieser Schamanen hatten wohl schon in der magischen Stufe in ekstatischen Trancezustän­den Zugang zu paranormalen Kräften – Hellsehen, Heilen – und nutzten sie. In der nächsten Epoche, der verbalen, mythischen, gab es einzelne, die hinter der blutdürstigen Großen Mutter die Große Göttin verehrten: »Geliebte und Herrin der Elemente, Ursprung aller Welten, Herrin über alle göttlichen Kräfte . . . unter allen Göttern und Göttinnen diejenige, die allein und nur in einer Form manifestiert ist« – das ist die Isis der Ägypter. Sie fordert keine Blutopfer, sondern die Transzendenz des persönli­chen Ich, ein Opfer, das sich im Herzen abspielt. Ihre Adoranten konnten sich derselben äußeren Rituale bedienen wie bei der Großen Mutter, aber neben deren exoterischer Verehrung durch die Masse der Menschen tritt nun eine esoterische Religion im Herzen der wenigen.

Die am höchsten entwickelten Seelen in der mental-ichhaften Periode – Christus, Buddha, Krishna, Laotse – dringen dann in den Bereich jenseits des persönlichen Gottes, den Bereich der unmanifestierten Leere ein. Ihre Einsicht reicht weit über alles hinaus, was es vor der mental-ichhaften Periode gegeben hat. Christus sagt: »Ich und der Vater sind eins.« Wahrscheinlich war der wesentliche Gehalt der Lehre Christi – die Evangelien der Nag Hammadi Bibliothek legen das nahe- reine Gnosis: »Gib die Suche auf nach Gott, der Schöpfung und anderen Dingen. Suche ihn, indem Du Dich selbst als Ausgangspunkt nimmst. Erfahre, wer Du im innersten bist … Dich selbst kennen, heißt Gott kennen.« Das höchste Ich und das Göttliche sind identisch. Das gnostische Verständnis fasste jedoch im Abendland nie wirklich Fuß. »Ein Gott jenseits von Gott hätte das Ende der Macht der ersten Bischöfe und Bankier-Priester bedeutet«, und der Menge der Gläubigen im Abendland schien die gnostische Religion schlicht falsch. Im Osten war das Streben nach Atman, Tao oder dem Buddhawesen immer weit mehr als im Westen kulturell anerkannt. Zen-Meister D. T. Suzuki urteilte über die Verhält­nisse im Abendland denn auch spöttisch: »Der Mensch ist gegen Gott, die Natur ist gegen Gott und Mensch und Natur sind gegeneinander.«

Aus eigener Meditationserfahrung berichtet Wilber, wie bitter schwer es ihm gefallen ist, die Ebene des     Denkens hinter sich zu lassen: »Es war die mühsamste Aufgabe, die mir je gestellt war, die schwierigste Schlacht, die ich je geschlagen habe.« Aber dann kam er in einen Bereich, »in dem Gedanken ins Bewusstsein treten wie Wolken über den Himmel ziehen: fließend, anmutig, klar, nichts klebt, nichts kratzt oder schabt«. Er hatte, was er den >Apollokomplex< nennt, bewältigt.

Danach wurden seine Meditationserlebnisse tief, archetypisch. Aber je mehr er in dieser Meditation fortschritt, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er nicht jene Einheit erreichte, in der es keinen Erlebenden, keinen Zeugen mehr gibt. Ein Zen-Meister, dem Wilbers Erlebnisse wenig imponierten, machte ihm klar: »Zeuge zu sein, ist die letzte Bastion des Ego. « Als diese Bastion fiel, »gab es nirgendwo mehr ein Subjekt, nirgendwo ein Objekt im Universum, da war nur noch Universum. Von Augenblick zu Augenblick tauchte alles auf, in mir und als Ich, aber es gab kein Ich … Keine persönliche Fähigkeit, Sprache, Logik, Begriffe, Motorik, war verloren oder beeinträchtigt. Im Gegenteil, sie funktionierten zum ersten Mal richtig, frei von allen Abwehrme­chanismen des separaten Selbst. Dieser völlig offene, vollkom­men nonduale Zustand war zugleich unglaublich und völlig gewöhnlich, so sehr, dass er mir noch nicht einmal auffiel. Es gab niemand, um ihn zu begreifen, bis ich – nach drei Stunden – aus ihm herausfiel.«

Wilbers neuestes Werk (Transformations of Consciousness) befasst sich noch einmal und diesmal sehr viel differenzierter mit Psychopathologie und Therapie. Das Bewusstsein steigt gewis­sermaßen von Ebene zu Ebene: Präpersonal, personal, transper­sonal. Übermäßiges Bewahrenwollen kann Entwicklung zum Stillstand bringen (Fixierung) oder sogar zurücklaufen lassen (Regression). Steigt umgekehrt das Bewusstsein zu schnell auf höhere Stufen weiter, kann es »den Boden unter den Füßen verlieren«, wenn die vorhergehenden Stufen nicht angemessen entwickelt, konsolidiert und integriert sind. Daraus ergeben sich die Gefahren und Störungen der Entwicklung.

Bei den Störungen der präpersonalen Phase, während der Entste­hung des Ich, hält Wilber sich an die neofreudianische Krank­heitslehre. Das nehmen ihm manche transpersonalen Kollegen übel. »Natürlich habe ich mit Jung angefangen«, sagt er, »aber gegen die eigenen geistigen Väter wird man ja meist am kritisch­sten. «Zumindest die Psychopathologie findet er bei den Freudia­nern genauer. Und ich kenne keine klarere Darstellung von deren komplizierter Theorie als die Wilbers: Die schwersten Pathologien, Psychosen, sind auf Störungen der allerersten, sehr körperbezogenen Phase zurückzuführen, müssen danach körperlich oder physiologisch behandelt werden, eventuell mit ergänzender Psychotherapie. Die Strukturpatholo­gien (Narzissmus und Borderlinestörungen) entstehen in der Phase, wo Ich und Umwelt (Mutter) noch unvollkommen vonein­ander geschieden sind. Hier ist Behandlungsziel, die ungenü­gende Egostruktur aufzubauen, Ichgrenzen abzuklären und zu etablieren, den Trennungs- und lndividuationsprozess noch ein­mal durchleben zu lassen, um ihn besser bewältigen zu können. Bei Neurosen schließlich, auf die Phase des Ödipuskomplexes und die Ausbildung des Überichs zurückzuführen, geht es um die Reintegration des Verdrängten.

Danach enden die meisten Theorien über ernsthafte psychische Störungen. Wilber schließt hier die Störungen der personalen Phase an. Die Konflikte und Empfindlichkeiten sind hier mehr kognitiver Natur. Da geht es einmal um Probleme der sozialen Zuordnung, um Rollen und Normen – der Domäne der Transak­tionsanalyse, der Familien- und der Kommunikationstherapeu­ten. Zum andern wird die Identität zum Problem, deren Störun­gen mit der Entwicklung des Nachdenkens über die eigene Person verbunden ist. Introspektion und Philosophieren heißt hier die Kur, und Wilber wünscht sich dafür einen Therapeuten, der mit seinem Klienten einen sokratischen Dialog führen kann. Drittens schließlich gibt es die existentielle Depression, Angst, Flucht vor Endlichkeit und Tod. Die Kur: je transparenter das Selbst wird, je mehr es sich von unechtem Verhalten und egozen­trischen Gefühlen befreien kann, desto autonomer, echter und sicherer wird es, desto eher findet es inneren Sinn.

Auf der transpersonalen Ebene sieht Wilber wieder drei Arten von Störungen. Sie entstehen erstens im Bereich von Körperek­stase und paranormalen Fähigkeiten, auf dem >Weg der Yogis<, zweitens auf dem >Weg der Heiligen< und drittens auf dem >Weg der Weisen<. Die spektakulärsten Störungen treten auf dem >Weg der Yogis< auf, wenn paranormale Fähigkeiten aufbrechen und die Struktur des Selbst erschüttern. Konventionelle Psychiater begreifen das meist als psychotischen Zusammenbruch und be­handeln ihn mit Medikamenten. Das friert den Prozess oft ein und erschwert eine spätere Heilung sehr. Wenn es sich bei Störungen auf dieser Ebene um das Erwachen der sogenannten >Kundalini ­Energie< handelt, sind Yogaübungen angezeigt. Handelt es sich um psychoseähnliche Episoden, ist Yoga schädlich. Wilber empfiehlt dann eher eine Jungiranische Therapie. Für die beste Kur und gleichzeitig die beste Vorbeugung dieser und anderer Störungen auf der transpersonalen Ebene hält Wilber gute Medi­tationsanleitung und Stärkung und Reinigung des physisch-emo­tionalen Körpers mit Bewegung und vegetarischer Diät.

Das grundsätzliche diagnostische und therapeutische Problem liegt darin, die verschiedenen Ebenen, auf denen Störungen auftreten, nicht zu verwechseln. Konventionell Geschulte sehen in Störungen auf der personalen oder transpersonalen Ebene oft nur Neurosen oder Psychosen, missdeuten sie also als Konflikte der präpersonalen Ebene. Umgekehrt sehen und behandeln transpersonal Orientierte oft nicht die Basisstörung auf der präpersonalen Ebene – mit ebenso fatalen Ergebnissen. Das ist besonders deshalb problematisch, weil offenbar gerade Menschen mit Stö­rungen in der frühen Ich-Entwicklung sich besonders zu Yoga und meditativen Techniken hingezogen fühlen. Sie wollen ein >Ich< aufgeben lernen, das sie noch gar nicht entwickelt haben.

Es gibt mehrere Ausbildungsinstitute für Transpersonales in den USA. Man kann dort auch promovieren. Ich besuche das Califor­nia Institute of Transpersonal Psychology in Mello Park. Jeder Student praktiziert dort eine Körperdisziplin, Aikido zum Bei­spiel oder Tat Chic; jeder arbeitet an seinen Emotionen, entweder in der klinischen Ausbildung oder im Gruppenprozess, alle stu­dieren allgemeine und transpersonale Psychologie, und von allen erwartet man, dass sie sich einer spirituellen Disziplin unterwer­fen. Ich treffe dort keinen Studenten mit >Null-Bock<oder >No future< Attitüde, aber viele Begeisterte. Ihren späteren Beruf werden sie in verschiedenen Bereichen sozialer Arbeit finden. Im deutschen Sprachraum haben sich bis jetzt vor allem das Freibur­ger Forum und die neu gegründete Deutsche Transpersonale Gesellschaft mit der Organisation von Kongressen hervorge­tan.

Wilber ist selbst kein Therapeut. Wäre er es, könnte er vermut­lich nicht so souverän über Therapiesysteme schreiben. Marie ­Louise von Franz, eine der bedeutendsten Vertreterinnen der Jungschen Psychologie, nennt ihn einen modernen Thomas von Aquin, der die >Summa Theologia< der Zeit zieht. Da klingt Bewunderung mit, doch auch ein wenig Skepsis. Bewunderung, weil Wilber eine faszinierende Zusammenschau nicht nur der verschiedensten Therapieschulen, sondern auch von Psychothe­rapie und religiöser Weisheit liefert. Skepsis, weil menschliche Entwicklung zwar in diesem System verständlicher wird, aber sich solcher Definition nie ganz fügt. Prosaisch ausgedrückt: Die Menschen sind weit unordentlicher als Wilbers System. Nicht zufällig liebt Wilber die großen Systematiker der Philosophie, Hegel vor allem.

Wilber möchte Psychologie philosophisch begründen. Von Kant über Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard, Heidegger, Hus­serl bis hin zu Habermas hat er gelesen, was in der europäischen Philosophie lesenswert ist. »Da ist überall Wahrheit drin.« Wo­her weiß er, was Wahrheit ist`? »It hits«, sagt er spontan; es scheint ihn wirklich wie ein körperlicher Schlag zu treffen. Und dann wird er rational: Es gibt drei Ebenen der Erkenntnis: erstens die sinnliche Erfahrung und deren Verfeinerung, die empirische Wissenschaft; zweitens die logische Deduktion und Einsicht, sie schließt die Empirie der vorigen Stufe ein und übersteigt sie; und drittens den Bereich der Kontemplation, der wiederum die beiden ersten einschließt und übersteigt. Wissenschaftlich beweiskräftig wird, was auf der jeweiligen Ebene im Vergleich mit anderen, die auf derselben Ebene arbeiten, Bestand hat. Schwierigkeiten tauchen auf, wenn diese drei Ebenen nicht klar getrennt bleiben. Zur Zeit, findet Wilber, neigen wir dazu, alles Wissen auf die Empirie zu reduzieren, besonders im anglo-amerikanischen Sprachraum; die deutschen >Geisteswissenschaftler< sind ihm da lieber.

Aber Wilber lebt nicht nur in Ideen. »Wer sich weigert, kontem­plative Techniken zu erlernen, kann nicht über >Atman< oder >Buddhanatur< mitreden.« Und da ist die Geschichte mit seiner Frau: Eine Woche nach der Hochzeit erfuhren die beiden, dass sie  Krebs im letzten Stadium habe. Er zog zu ihr ins Krankenhaus und beide haben eineinhalb Jahre lang gemeinsam gegen diese Krankheit gekämpft. Nach zwei Operationen ist sie jetzt krebs­frei. Es fiel Wilber bitter schwer, seiner Berufung, dem Philoso­phieren und Schreiben, so lange untreu zu sein; aber: »Es war eine Prüfung, wieviel unsere Weltanschauung wert ist. Vielleicht haben wir beide die Erfahrung der dunklen Seite des Lebens gebraucht.«

Trotzdem ist ihm nicht alles Lausbubenhafte abhanden gekom­men. Als er mich in die Innenstadt San Franciscos zurückbringt, benutzt er die steilen Straßen dort zu einer abenteuerlichen Berg­- und Talfahrt, nicht ohne mir schmunzelnd mitzuteilen, dass sein Auto samt Bremsen zehn Jahre alt sei.

Er hat auch anderswo ein Faible für Husarenritte. Nach einer >epochalen< Diskussion über das naturwissenschaftliche und das mystische Weltbild in seiner Zeitschrift >ReVision<, an der teilnahm, wer auf diesem Gebiet Rang und Namen hatte (Wilber, Hrsg.: >Das holographische Weltbild<), schlachtete er ungerührt eine heilige Kuh der transpersonalen Bewegung, die vielbe­schworene Verbindung zwischen >der härtesten aller Naturwis­senschaften, der Physik< und der neuen Mystik. Er hält sie schlicht für unsinnig. »Man kann nicht das Höhere (Geistiges) aus dem Niedrigeren (Materie) erklären.« Außerdem fände er es schlimm für die Mystik, wenn sie alle Änderungen des naturwis­senschaftlichen Weltbilds mitmachen müsste.

Dass von Einstein bis Heisenberg viele großen Physiker der Neuzeit auch Mystiker sind, erklärt er mit Platos Höhlengleich­nis: Wir sitzen alle in einer Höhle, mit dem Rücken zum Eingang, vor dem ein helles Feuer brennt. Was wir erkennen können, sind nur die Schatten der realen Dinge, die sich zwischen Feuer und Höhlenwand bewegen. Auch in der Physik stehen mathematische Gleichungen für die nur schattenhaft bekannte Wirklichkeit. Lange war den Physikern das nicht bewusst. Die modernen wissen es und beschäftigen sich mit dem Eigentlichen, dem Feuer, dem Licht vor der Höhle, mit Mystik.

Auch sonst ist der Vordenker der transpersonalen Bewegung durchaus nicht von allem begeistert, was es da gibt: »Die New-Age-Bewegung ist eine seltsame Mischung einer Handvoll wahr­haft transpersonaler Seelen mit Massen von präpersonalen Süch­tigen.« Transpersonale Landstreicher< nennt Wilber diesen Menschentyp unfreundlich.

Es gibt eine wachsende Minderheit, findet er jedoch, die sich ehrlich ein neues höheres Bewusstsein zu erarbeiten versucht. Aber er ist keineswegs der Meinung, dass innerhalb des nächsten Jahrzehnts der wahre Geist über uns kommen wird. »Am gegen­wärtigen Punkt der Geschichte würde eine radikale, durchdrin­gende und die Welt erschütternde Transformation schon darin bestehen, dass jedermann sich zu einem wahrhaft reifen, rationa­len und bewussten Ego entwickeln würde, einem Ego, das im­stande wäre, frei am offenen Austausch gegenseitiger Achtung teilzunehmen … Damit würden wir ein wirkliches neues Zeital­ter erleben … Sollte der Holocaust uns alle verschlingen, dann wird das nicht beweisen, dass die Vernunft versagt hat, sondern hauptsächlich, dass sie noch nicht voll und ganz ausprobiert wurde.

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