Michael Habecker, Sonja Student
Die Prämoderne: Veränderungen, Zyklen und Schöpfungsmythen
Zu den frühesten „philosophischen“ Menschheitserfahrungen gehört die Erfahrung, dass sich die Dinge ändern – nichts bleibt wie es ist, weder innerlich noch äußerlich. „Alles fließt“ (Heraklit)
Eine ebenso frühe Erfahrung bestand darin zu sehen, dass es Zyklen wie die Jahreszeiten gibt, bei denen sich Ereignisse wiederholen, und die Veränderbarkeit der Welt in einem gewissen Rahmen vorhersagbar ist. Auf den Frühlingfolgt der Sommer.
Ein weiterer Meilenstein in der Erklärung und Beschreibung der Veränderbarkeit der Welt und des Lebens ist die Idee oder Intuition einer Kombination von Veränderung und Richtung. Die Dinge oder Ereignisse verändern sich in eine bestimmte Richtung – und nicht umgekehrt. Dynamisiert man beispielsweise die große Kette des Seins, das gemeinsame Erbe der religiösen Traditionen der Welt, von Materie zu (biologischem) Leben zu Geist zu Seele zu Geist, und stellt sie in einen Zeitablauf, erhält man eine Entwicklungsabfolge der Schöpfung. Andere Phasen- oder Zeitaltermodelle sehen den Weltenlauf in einem unveränderbaren und vorgegebenen Ablauf aufeinanderfolgender Perioden wie den 4 Yugas des Hinduismus (Das Krita-Yuga, das Treta-Yuga, das Dvapara-Yuga und das Kali-Yuga). Joachim von Fiore (ca. 1130 – 1202) unterscheidet 3 Zeitepochen: die Zeit des Vaters (Altes Testament), des Sohnes (beginnt mit dem Neuen Testament und endet nach seiner Vorhersage 1260) und die des Heiligen Geistes. Die sechs biblischen Schöpfungstage gehören ebenfalls zu den Schöpfungsmythologien. Viele derartige „Entwicklungsmodelle“ entstanden in der mythologischen Menschheitsepoche aus einem religiösen Weltverständnis heraus, das dem Schöpfungsverlauf eine bestimmte Richtung und damit auch einen Sinn gibt. Diese Richtung kann aufwärts (evolutionär, vom Niederen zum Höheren) oder abwärts (devolutionär im Sinne von Niedergang) bzw. involutionär (von Höheren zum Niederen) gerichtet sein.
Ein weiterer Meilenstein für den Entwicklungsgedanken ist die Entstehung eines historischen Bewusstseins sowohl für das einzelne Individuum wie auch für die gesamte Menschheit – woher komme ich (wir), wohin gehe ich (wir)?
Die Moderne: Wissenschaft
Mit dem Beginn der Aufklärung und der Entwicklung der wissenschaftlichen Methode wurden auch die Veränderungs- und Entwicklungserfahrungen und Entwicklungsmodelle der Menschheit neu betrachtet. Durch die bahnbrechenden Arbeiten von Charles Darwin und anderen bekam die Vorstellung von Entwicklung eine wissenschaftliche Grundlage. Zuerst wurden dabei die Grundlagen der biologischen Entwicklung untersucht, doch bald begann die Erforschung des Geistes und seiner Entwicklung, im individuellen Menschen und kollektiv, mit entsprechenden Rückwirkungen auf die Entwicklungsphilosophie insgesamt. Archäologie und Entwicklungsstrukturalismus (Genealogie) sind Wissenschaftszweige, die sich, neben der Philosophie und der Religion, auf eine wissenschaftliche Weise mit diesem Fragen beschäftigen, und die rein mythologischen Entwicklungsmodelle kritisch hinterfragen.
Die Postmoderne und danach
Mit dem von Ken Wilber entwickelten „integralen Ansatz“ können die bisherigen Philosophien und Entdeckungen der Menschheit zum Thema „Entwicklung“ neu betrachtet, in ihrer Größe gewürdigt, und in einen Gesamtzusammenhang gestellt werden.
Dabei ist das wesentliche Merkmal von Entwicklung ein „Transzendiere und Bewahre“. Echte Hierarchien zeichnen sich dadurch aus, dass die jeweils höheren Ebenen die Möglichkeiten vorangegangener Ebenen, auf denen sie aufbauen, erweitern.
Folgende Unterscheidungen sind wesentlich:
- Dimensionen von Entwicklung: Dabei wird Entwicklung im Kontext der Hauptdimensionen des Seins und Werdens (die vier Quadraten) gesehen, als voneinander unterschiedene, jedoch nicht voneinander getrennte individuelle innere Entwicklung, individuelle äußere Entwicklung, kollektive innere Entwicklung, und kollektive äußere Entwicklung, mit den jeweiligen Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Die Schöpfung (oder Gott) hat eine Richtung und unterschiedliche Gesichter: ein subjektives Gesicht des ICH BIN, ein gemeinschaftliches Gesicht des „Wir“, und ein äußeres Gesicht der Natur.
- Ebenen und Linien von Entwicklung: Entwicklung verläuft (in den unterschiedlichen Daseinsbereichen) nicht monolithisch und eindimensional, sondern die Forschung unterscheidet unterschiedliche Entwicklungslinien (am Beispiel der individuellen inneren Entwicklung: Kompetenzen oder Intelligenzen wie Selbst, Kognition, interpersonell, kinästhetisch usw.), die sich mehr oder weniger unabhängig voneinander entwickeln, was die Gesamtentwicklung zu einem unregelmässigen Vorgang macht.
- Würde und Katastrophe von Entwicklung: Wo sich etwas entwickelt kann auch etwas schief gehen; individuell, kollektiv, funktional. Die Möglichkeiten der Fehlentwicklungen sind schier unbegrenzt, und eine Betrachtung des Themas Entwicklung schließt immer auch die Betrachtung möglicher Fehlentwicklungen mit ein, und Möglichkeiten diese zu vermeiden oder zu beheben.
- Inhalt und Struktur: Entwicklung ist Strukturbildung, als ein Fundament für weitere Entwicklung, innerlich und äußerlich, und als eine Form für Inhalte. So „formt“ die psychologische Entwicklungsebene eines Menschen die Interpretationen mit denen dieser Mensch die Inhalte seines Bewusstseins interpretiert. Diese „Formen“ (oder kosmischen Gewohnheiten) werden im Verlaufe der Evolution immer weiter gereicht: Was in der Vergangenheit eine (entwicklungsbedingte) Neuerung war, ist ein gegebenes Erbe für die Gegenwart, welche diesem Erbe wiederum ihre Neuerungen hinzufügt, und dies als Erbe an die Zukunft weiterreicht – „transzendiere und bewahre“.
- Grundstrukturen und Übergangsstrukturen: Entwicklung besteht sowohl aus einem „Transzendieren“ als auch aus einem „Bewahren“. Bewahrt werden dabei die Grundstrukturen der bisherigen Entwicklungsstufen, gewissermaßen die Sprossen der Leiter, als eine Grundvoraussetzung für die Leiter selbst. Transzendiert werden (am Beispiel der individuellen Entwicklung) die jeweiligen Weltsichten auf den unterschiedlichen Entwicklungsstufen, die miteinander unvereinbar sind.
- Orientierung von Entwicklung: Typologien: Während Entwicklung hierarchisch (bzw. holarchisch) ist, sind Typologien heterarchisch. Die Berücksichtigung typologischer Vielfalt vermeidet Einseitigkeiten. So gibt es beispielsweise bei der menschlichen Entwicklung sowohl maskuline und feminine Aspekte, als auch introvertierte und extrovertierte Aspekte usw. Stellt man Typologien in eine Rangfolge entstehen Pseudohierarchien (wie Rassismus). Macht man aus echten Hierarchien Typologien, ist das Ergebnis ein Egalitarismus.
- Zustands- und Strukturentwicklung: Die menschliche Entwicklung geschieht nicht nur durch die Strukturstufen (wie archaisch, magisch, mythisch, rational, pluralistisch usw,), sondern auch durch die Hauptzustände des Seins (Wachen, Träumen, traumloser Tiefschlaf), mit einer jeweils anderen Identität (Ego, Seele, Selbst …). Damit besteht der Bewusstseinsschwerpunkt eines Menschen aus (mindestens) zwei Komponenten: Der Strukturstufe und dem Zustandsbereich (siehe dazu auch das Wilber-Combs Raster).
Auf Schatzsuche gehen
Vor diesem Hintergrund können wir uns dem kostbaren Erbe der spirituellen Traditionen mit folgenden Fragestellungen nähern:
- Was aus den Traditionen muss im Rahmen einer evolutionären bzw. integralen Spiritualität bewahrt werden? (Weil es von seiner Gültigkeit nichts verloren hat, wie beispielsweise die phänomenologischen Beschreibungen als Ergebnisse einer kontemplativen Praxis)?
- Wenn die oben aufgeführten Aspekte von Entwicklung wesentlich sind, dann müsste diese, wenngleich auch nicht in der Differenzierung wie wir sie heute wahrnehmen können, auch schon in den spirituellen Texten zu finden sein. Hier lohnt es sich, auf Entdeckungsreise zu gehen.
- Vor welchem Bewusstseinshintergrund wurden die spirituelle Texte, die uns heute als ein kostbares Erbe zur Verfügung stehen, verfasst? Aufgrund der bahnbrechenden Erkenntnisse des Entwicklungsstrukturalismus, als der Erkenntnisse über die Entwicklung der menschlichen Bewusstseinsstrukturen[1], individuell und kollektiv, sind wir in der Lage, aufgrund der Äußerungen des kontemplativen Erbes aufdie individuellen und kollektiven Bewusstseinsstrukturen zu schließen, vor deren Hintergrund diese Aussagen geschahen (und dabei natürlich auch unsere eigenen Strukturen kritisch zu hinterfragen.
Mit all dem sind wir in der Lage, im Sinne einer Wilber’schen postmetaphysischen Spiritualität die Schätze der spirituellen Traditionen vor dem Hintergrund ihres Entstehens zu würdigen.
Beispiele
Wie ein derartige Schatzsuche aussehen könnte soll anhand einiger weniger Zitatbeispiele erläutert werden.
Beispiel 1
Nach solchen Graden also müssen die Wesen in dieser Welt geordnet sein. Sie müssen eine Reihe ausmachen, in welcher jedes Glied alles dasjenige enthält, was die untern Glieder enthalten, und noch etwas mehr; welches etwas mehr, aber nie die letzte Grenze erreicht.
Gotthold Ephraim Lessing, Das Christentum der Vernunft, §15, 1753
Ein fantastisches Beispiel für eine frühe Intuition von Strukturentwicklung. Das „Transzendiere und Bewahre“ ist bereits enthalten („was die untern Glieder enthalten, und noch etwas mehr“), und auch die Unbegrenztheit des Entwicklungsvorganges („aber nie die letzte Grenze erreicht“).
Beispiel 2
Aber was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, doch den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 4. Oder wie wirst du zu deinem Bruder sagen: „Lass mich den Splitter aus deinem Auge hinauswerfen“ und siehe, der Balken ist in deinem Auge? 5. Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.
Matthäus Evangelium 7,3
Eine wunderbare Zusammenfassung des Verdrängungs/Projektionsmechanismus, der zu einer Verzerrung der eigene Wahrnehmung führt. Auch die Therapie wird beschrieben („zieh zuerst den Balken aus deinem Auge“).
Beispiel 3
Laßt die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen …
Neues Testament, Brief des Paulus an die Epheser 4. 26
Ein Hinweis auf die Bedeutung psychodynamischer „Arbeit“ mit schwierigen Emotionen.
Beispiel 4
Der Zorn ist die heftigste der Leidenschaften … Manchmal hält der längere Zeit an und wandelt sich dabei zu Groll … Gib dich auch nicht auf die Art dem Zorne hin, dass du dich in Gedanken mit dem streitest, der dich verärgert hat.
Die Wahnbilder der Nacht entstehen gewöhnlich durch den erregenden Einfluss des Zorns.Evagrius Ponticus, gestorben ca. 399 n. Chr.
Psychodynamische Hinweise zum Umgang mit dem Zorn, und seiner Auswirkung auf die Träume.
Beispiel 5
Während ich dies schreibe, denke ich über das nach, was in meinem Kopf vor sich geht: jenes Dröhnen … Es klingt genauso, als wären darin viele wasserreiche Flüsse und als stürzten diese Wasser alle in die Tiefe. Es ist wie das Durcheinanderzwitschern vieler kleiner Vögel, und zwar nicht in den Ohren, sondern im oberen Teil des Kopfes …“
Teresa von Avila, Die innere Burg
Offenbar eine Beschreibung dessen, was wir heute als Tinnitus bezeichnen.
Beispiel 6
… und weil der Satan hier, wo das Natürlich und das Übernatürliche dicht beieinander sind, mehr Schaden stuften kann als in den nächsten, noch nicht geschilderten Wohnungen …
Teresa von Avila, Die innere Burg
Ein Hinweis auf die dunkle Nacht der Sinne, die sich bei der Bewusstseinsverlagerung vom Grobstofflichen zum Subtilen ereignet.
Beispiel 7
Manche Leute haben eine so kränkliche Phantasie (und ich weiß, dass es wahr ist, denn sie haben mit mir darüber gesprochen, nicht nur drei oder vier, sondern viele), ihr Geist ist so lebhaft, oder was weiß ich – jedenfalls versenken sie sich so in ihre Phantasie, dass sie meinen, alles was sie denken, klar und deutlich vor sich zu sehen. Hätten sie ein wirkliche Visionerlebt, würden sie die Täuschung so klar erkennen, dass ihnen nicht der geringste Zweifel bliebe; sie selber fügen nämlich das zusammen, was sie in ihrer Phantasie sehen …
Teresa von Avila, Die innere Burg
Ein Hinweis auf die bedeutende Unterscheidung zwischen Ein-bildungen und echten Visionen.
Beispiel 8
… bitte ich euch, dass ihr in meinem Namen jedes Mal, wenn ihr hierin [Die innere Burg] lest, Seine Majestät von herzen rühmt und ihn um das Wachstum seiner Kirche und Erleuchtung für die Lutheraner bittet … und ich unterwerfe mich in allem dem Urteil der heiligen katholischen Kirche; denn in dieser Ordnung lebe ich, und ich bekenne und gelobe, darin zu leben und zu sterben.
Teresa von Avila, Die innere Burg
Ein Hinweis auf eine katholische Grundstruktur von Teresa.
[1] Z. B. mittels der Gebser’schen Abfolge von archaisch-magsich-mythisch-rational-pluralistisch-integral, oder der Spiral Dynamics Meme, oder der Entwicklungsstufen entsprechend den Farben des Regenbogenspektrums, wie sie Wilber in Integrale Spiritualität (Abb. 16 S. 96) aufführt. Dabei ist zu beachten, dass sich die Skala selbst entwickelt. Daher macht es beispielsweise keinen Sinn, Aussagen vor 2000 Jahren an der heutigen pluralistischen Entwicklungsstruktur zu messen, da diese Struktur, als eine Entwicklungsebene zur damaligen Zeit noch gar nicht emergiert und in Erscheinung getreten war. Das wäre etwas so wie wenn jemand unsere heutigen Aussagen an einer Entwicklungsstruktur misst, die sich erst in 200 Jahren manifestiert.
(aus: Online Journal 12)