Dr. Nadja Rosmann
„Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ – noch vor wenigen Jahren wäre kaum einem Deutschen ein Satz wie dieser über die Lippen gekommen, zu diskreditiert war der positive Bezug zur eigenen nationalen Identität durch die Bürden der Vergangenheit. Doch 60 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland scheinen die Deutschen zu einem neuen nationalen Selbstverständnis gefunden zu haben, das sich der historischen Last gewahr bleibt, aber auch ein neues Selbstbewusstsein artikuliert.
Die Identity Foundation, Düsseldorf, eine gemeinnützige Stiftung für Philosophie, hat 2009 die Identität der Deutschen im Rahmen einer repräsentativen Studie untersucht und dabei spannende Inneneinsichten zutage gefördert. 60 Prozent der Bevölkerung artikulieren heute wieder einen Stolz auf ihre nationalen Wurzeln, sogar 70 Prozent fühlen sich der Nation im Herzen verbunden und für 80 Prozent der deutschen Bevölkerung ist dieser euphorische Identitätsbezug mit einem klaren Bekenntnis zur Demokratie verbunden.
Das „blaue Dilemma“ – Sachlich vermittelte Identität als Katalysator
Betrachtet man die identitäre Selbstverortung der Deutschen aus einer integralen Perspektive, wird erkennbar, dass der Bruch durch den Nationalsozialismus die Evolution der nationalen Identität wesentlich geprägt hat. Während viele andere Nationen über Jahrhunderte ihr kollektives Wertesystem kontinuierlich genährt und positiv aufgeladen haben, sahen die Deutschen sich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewissermaßen auf einen Nullpunkt zurückgeworfen. Die von anderen Nationen als konstruktiv-formgebend entwickelten, Halt und Sinn vermittelnden Qualitäten des blauen Mems (die Bezüge auf die verschiedenen Werteebenen lehnen sich an an das von Don Beck und Christopher C. Cowan in Anlehnung an die Arbeiten von Clare W. Graves entwickelte Modell Spiral Dynamics) waren in Deutschland durch das autoritäre Regime kompromittiert worden. Der Versuch einer Lösung dieses „blauen Dilemmas“ führte zu einer vorübergehenden Abkehr von emotionalen, inneren Bezügen zum Deutsch-Sein, so dass das nationale Selbstverständnis in der Nachkriegszeit sich vor allem auf die äußeren Quadranten richtete. Wiederaufbau und Wirtschaftswunder wurden so zu wichtigen, hauptsächlich sachlich vermittelten Ankern deutscher Identität, während die Innenperspektive, also die emotionale Identifikation auf der persönlichen und kollektiven Ebene, viele Jahre weitgehend ausgeblendet blieb. So konnte sich das wieder erwachende deutsche Selbstbewusstsein im Stolz auf den Sozialstaat artikulieren unddamit seine „blauen Wunden“ ansatzweise heilen, doch die Innenperspektive blieb von emotionalen Narben gezeichnet. Eine nationale Orientierung oder „Gesinnung“ wurde gleichgesetzt mit Nationalismus oder Faschismus.
Orange-grüne Evolution – Die Wiederentdeckung innerer Identifikation
Als Exportweltmeister, der für seine technologischen Innovationen und sein Qualitätssiegel „Made in Germany“ in aller Welt Anerkennung genießt, schaffte das Land neue, im orangen Mem fußende Bezugspunkte der Identität. Da diese Entwicklungsstufe ohnehin eher individualistisch denn kollektiv orientiert ist, richtete sich die Identität der Deutschen nun vordergründig auf das persönlich Erreichte und die materielle, äußere Sphäre. Ein neues kollektives Moment der Selbstverortung manifestierte sich schließlich durch Elemente des grünen Mems, die Eingang in den nationalen Diskurs fanden. Ob ökologische Bewegung, ein wachsendes Verständnis für die Herausforderungen der Zuwanderung und die vermittelnde Rolle Deutschlands in der internationalen Politik – die verbindende Kraft grüner Wertebezüge, die sich zunächst hauptsächlich in den äußeren Quadranten auf einer sachlichen Ebene ausdrückten, führte längerfristig dazu, dass auch die innere Identifikation der Deutschen mit ihrer nationalen Identität wieder an Kontur gewinnen konnte.

Integrieren und Transzendieren – Deutsche Identität als gelungene Synthese
Ganz im Sinne von Ken Wilbers Philosophie des Integrierens und Transzendierens ist es den Deutschen damit über die Jahrzehnte gelungen, ihrer nationalen Verwurzelung im Zuge einer evolutionären Entwicklung wieder einen Urgrund zu verleihen. Gesunde Elemente des blauen Mems wie Ordnung, Sicherheit und Zuverlässigkeit prägen heute das deutsche Selbstverständnis ebenso wie eine konstruktive Fortschrittsperspektive und ein weltzentrischer Habitus. Das weltweite Wohlwollen schließlich, das den deutschen Gastgebern während der Fußballweltmeisterschaft 2006 entgegengebracht wurde, wurde zum befreienden Moment, welches es den Deutschen heute wieder erlaubt, ihre tiefe Verbundenheit mit der eigenen Nation auch emotional zum Ausdruck zu bringen, also auch den inneren Quadranten im öffentlichen Diskurs wieder Geltung zu verschaffen. Aufgrund dieser Entwicklungsgeschichte fußt die Identität der Deutschen, wie im Folgenden anhand einiger Ergebnisse der Studie zu erkennen ist, heute auf einem gesunden Pluralismus, der sich seiner historischen Verantwortung bewusst ist, aber sich ein schöpferisches inneres Wachstum nicht länger versagt.
Die Repräsentativerhebung zur deutschen Identität erfolgte im Herbst 2008 und im März 2009 durch die GfK Marktforschung, Nürnberg, im Auftrag der Identity Foundation. Befragt wurde eine repräsentative Stichprobe von 2.000 Männern und Frauen aus ganz Deutschland ab 14 Jahren.

Deutsch-Sein – Eine bewusste Wahl im Einklang mit dem Herzen
Wie sehr die Deutschen ihre nationale Identität heute bejahen, lässt sich erkennen, wenn man sie vor die Wahl alternativer Bezugspunkte stellt. 78,2 Prozent der Befragten würden, wenn sie ihre Staatsangehörigkeit in Europa frei wählen könnten, sich mit großer bis sehr großer Bestimmtheit wieder für die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden. Die Verankerung des Deutsch-Seins folgt dabei auch starken emotionalen Impulsen. Die Wahrnehmung, dass das eigene Herz an Deutschland hängt, ist für 70,4 Prozent der Deutschen ein wesentlicher Impuls, um sich mit ihrem Land verbunden zu fühlen.
Blau, orange, grün – die Wiederaneignung multidimensionaler Identitätsbezüge
Wie eingangs skizziert, hat die deutsche Identität in den letzten Jahrzehnten eine Evolution der Genesung durchlaufen, indem sie mehrere Entwicklungsebenen in das nationale Selbstverständnis integriert und durch variierende Quadrantenbezüge eine Stagnation im „blauen Dilemma“ verhindert hat. So sind Tugend und Tradition sowie die sprichwörtliche deutsche Verlässlichkeit heute wieder wichtige Anker deutscher Identität. Sowohl auf die Vergangenheit bezogene Anknüpfungspunkte als auch durch einen Gegenwartsbezug genährte Identitätsaspekte speisen die heutige Identität der Deutschen. Auf diese Weise entstehen auf der persönlichen Ebene Muster gelebter deutscher Identität, welche die Motive des kollektiven Identitätsrepertoires individuell gewichten und variieren und damit lebendig und zeitgemäß sind.
63,5 Prozent der Deutschen machen ihre Verbundenheit mit dem eigenen Land heute wieder an Tugend und Charakter fest. Die deutsche Tradition und das Brauchtum ermöglichen für 62,6 Prozent der Bevölkerung eine starke Rückbindung ans Vaterland – ein Befund, der illustriert, dass längst auch die wertvollen Aspekte des blauen Mems wieder konstruktiver Bestandteil deutscher Identität sind. Eher funktionalistische blaue Bezüge, die einst aus der Not eine Tugend machten, verlieren hingegen an Gewicht. Wo viele Deutsche lange Jahre besonders stolz auf ihren funktionierenden Staat, ein einzigartiges Sozialsystem und den typisch deutschen Hang zur Ordnung waren, fühlen sich heute nur noch 51,8 Prozent der Bevölkerung mit Deutschland stark bis sehr stark verbunden, weil hierzulande „alles gut und verlässlich funktioniert“.
Nationales Selbstbewusstsein artikuliert sich noch zurückhaltend im öffentlichen Raum
Bei aller wieder gewonnenen inneren Verbundenheit haben sich die Deutschen aber eine gewisse Bescheidenheit bewahrt, wenn es darum geht, ihr neues Selbstbewusstsein öffentlich zu artikulieren. 60,9 Prozent der Bevölkerung finden es zwar gut, dass die Deutschen bei besonderen Gelegenheiten wieder die Nationalfahne heraushängen, doch nur 31,2 Prozent sagen von sich, dass sie, beispielsweise wenn die Nationalmannschaft spielt, schon einmal die Nationalhymne singen oder die deutsche Fahne schwenken. Eine in den Augen von immer größeren Teilen der Bevölkerung übertriebene Zurückhaltung, denn 42 Prozent der Befragten stimmen der Aussage, dass die Deutschen sich gerne schlechter machen, als sie sind, zu, und sogar 72,9 Prozent finden: „Die Deutschen sollten mehr Selbstbewusstsein im Hinblick auf ihre nationale und kulturelle Identität zeigen.“
Diese Diskrepanz zwischen Selbstbild und Selbstdarstellung liegt unter anderem daran, dass sich in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern das Nationale im öffentlichen Raum immer noch sehr dezent artikuliert. Eine Mehrheit der Deutschen vermisst deshalb inspirierende Visionen deutscher Identität in der öffentlichen Sphäre. So sind 53,1 Prozent der Bevölkerung der Ansicht, dass Schule, Politik und Medien viel zu selten ein positives Bild des Deutsch-Seins vermitteln. 72,9 Prozent der Deutschen teilen den Wunsch nach einem stärkeren Wir-Gefühl. 36 Prozent der Bevölkerung engagieren sich vorbehaltlos gerne für ihr Vaterland.
Deutsche Identität – Ein vitaler Pluralismus über alle Quadranten und Werteebenen
60 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland hat die Nation nicht nur international zu einer neuen politischen Stärke gefunden, sondern auch wieder vitale Szenarien deutscher Identität entwickelt. Während andere Nationen ihr Wir-Gefühl häufig auf wenige Kristallisationspunkte konzentrieren und diese in aller Größe zelebrieren, manifestiert sich das Deutsch-Sein in einer Vielfalt, die mit ihren multidimensionalen Bezugspunkten fest im kollektiven Bewusstsein verankert ist, ohne deshalb über die Maßen zur Schau getragen werden zu müssen.
Die Deutschen haben im Hinblick auf die Bewältigung ihrer historischen Schuld wieder Luft zum Atmen gefunden. Die Gegenwart wird damit zu einem Raum, der neue, unbelastete Perspektiven des Deutsch-Seins eröffnet. So sind nur noch 24,1 Prozent der Bevölkerung der Ansicht, dass ein unbeschwertes Deutsch-Sein aufgrund der Vergangenheit nie mehr möglich sein wird. Eine Mehrheit von 54,6 Prozent distanziert sich von dieser unwiderruflichen Aussicht stark bis sehr stark. Doch auch wenn die Deutschen sich von den Lasten ihrer Geschichte des 20. Jahrhunderts langsam freischwimmen, wollen sie sicher sein, dass von ihrem Boden kein neuer militärischer Übermut ausgeht. Deshalb lehnt mit 62,6 Prozent eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung es nach wie vor deutlich bis strikt ab, dass die Deutschen in der Weltgemeinschaft künftig mehr militärische Verantwortung übernehmen sollten.
Vor diesem Hintergrund traut sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung, wieder den Wunsch nach mehr nationaler Selbstdarstellung zu artikulieren. 74,6 Prozent der Deutschen bejahen die Aussage: „Trotz unserer Geschichte sollten wir wieder stolz sein können, Deutsche zu sein.“ Analog zu dieser Befindlichkeit sind nur noch 7,3 Prozent der Bevölkerung der Ansicht, dass man sich für sein Deutsch-Sein heute noch schämen müsse. Dieses Bekenntnis ist das eindeutigste der gesamten Studie, denn 83,6 Prozent aller Deutschen teilen diese Ansicht heute nicht mehr.
Integrale Hausaufgaben

Bei der Herbstakademie 2011 zeigte sich der integrale Denker und Aktivist Terry Patten in seinem Grußwort an die Teilnehmenden als sehr differenzierter und feinfühliger Beobachter dieses deutschen Selbstverständnisses. Patten würdigte die Leistungen der Deutschen im Hinblick auf ihre konstruktive Auseinandersetzung mit den historischen Bürden und meinte damit vor allem die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungen, die von Deutschland in den letzten Jahrzehnten ausgingen – Leistungen, die sich vor allem in den äußeren Quadranten und den höheren Mem-Stufen ausdrücken.

Er erinnerte uns jedoch auch daran, dass die innere Perspektive der Emotionen, Patten bezog sich vor allem auf die unteren Chakren, ebenfalls der Heilung bedürfen. Ungebremster Gefühlsausdruck und emotionale Euphorie sind nach wie vor der Deutschen Sache nicht, was sich in dieser Studie auch widerspiegelt. Wir haben erkannt, dass wir in dieser Hinsicht und im Spiegel der Weltöffentlichkeit bereits wesentlich mehr „dürften“, als wir uns selbst erlauben. Und wir müssen erst noch Wege finden, wie wir uns diese Perspektive auch wieder ganz praktisch im Alltag aneignen können, um sie dann auch authentisch auszudrücken.
Noch scheint die in der Studie artikulierte emotionale Verbundenheit eher kognitiv vermittelt bzw. Privatsache zu sein. Im Rahmen einer Fußball-Weltmeisterschaft gelingt es uns, diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen – im spielerischen Kontext. Einen natürlichen Zugang zur ungebremsten Emotionalität des roten Mems, das uns aufgrund des Egozentrismus, der mit dieser Entwicklungsstufe verbunden ist, nach wie vor innerlich eher erschauern lässt, haben wir indes noch nicht gefunden. Doch vielleicht können uns auch hier die höheren Entwicklungsstufen einen neuen Zugang ebnen. So wird die Herbstakademie 2012 um die Themenfelder Aufklärung, Denken und Spiritualität kreisen und den Versuch unternehmen, in einem Feld lebendiger Praxis Widersprüche erfahrbar zu machen, um Entwicklungsimpulse „höherer Ordnung“ zu stimulieren.
Gerade die spirituelle Perspektive ist es, die uns mit unserer Emotionalität wieder versöhnen könnte, denn wenn wir im Zuge spiritueller Praxis die Erfahrung der Ungetrenntheit, der Verbundenheit mit allem und allen machen, kann dies unsere Gefühlswelt konstruktiv verändern. Emotionen markieren dann nicht mehr unbedingt die Grenze zwischen uns und anderen, sondern wandelnsich in ein Mitfühlen, das uns anderen näherbringt. Und diese reife Emotionalität ist es letztlich, die uns in unseren nationalen Bezügen wieder authentisch und lebendig werden und uns gleichzeitig verantwortungsvoll und mutig nicht vor den Schatten der Geschichte zurückschrecken lässt.

Dieser Beitrag erschien im August 2010 bereits in der Integral Leadership Review und wurde für den Abdruck in den integralen perspektivenum den Absatz „Integrale Hausaufgaben“ erweitert. Die Illustrationen stammen aus dem Bildband „D-Sign – Deutsche Identität denken“, der 2009 von der Identity Foundation herausgegeben wurde, und sind Arbeiten von Studenten des Fachbereichs Design der Fachhochschule Düsseldorf zum Thema „Typisch deutsch“.
Über die Identity Foundation
Die Identity Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung für Philosophie und Wissenschaftsförderung, deren Schwerpunkt auf Forschungen zum Selbstverständnis von Personen, Gruppen und Institutionen liegt. Sie konzentriert sich auf Einzelprojekte in verschiedenen sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontexten, darunter Fachtagungen und Symposien, empirische Untersuchungen und (Forschungs-)Projekte, die Förderung der Medienberichterstattung über grundlegende oder aktuelle Identitätsthemen und die Beteiligung an kunstwissenschaftlichen oder spirituellen Projekten mit besonderen Bezügen zur Frage der Identitätsbildung und -Entwicklung.
Die Identity Foundation wurde 1998 ins Leben gerufen vom Gründer der Kommunikationsagentur Kohtes Klewes (heute Pleon Ketchum), Paul J. Kohtes, und seiner Frau Margret.
www.identityfoundation.de
Dr. Nadja Rosmann ist Kulturanthropologin, arbeitet als Journalistin, wissenschaftliche Projektmanagerin und PR-Beraterin und betreibt das Weblog think.work.different: