Es gibt ein Innenleben!

Bewusstsein

Es gibt ein Innenleben!

Michael Habecker

Stellen wir uns folgendes vor: Man sitzt nichtsahnend am Frühstückstisch, vor sich die noch druckfrische Tageszeitung mit der Titelschlagzeile „Es gibt ein Innenleben!“ Oder stellen wir uns die Abendnachrichten vor, mit dem gleichen Aufmacher. Merkwürdig, nicht wahr, und doch wäre, angesichts der Abwesenheit dieser Thematik im allgemein-öffentlichen wie auch im persönlich-privaten Leben ein Hingucker angebracht.

Wo ist Innerlichkeit?

Es gibt nicht nur eine Außenwelt, sondern auch eine Innenwelt, es gibt nicht nur ein Leben in den äußeren Umständen, es gibt auch ein Leben voller Innerlichkeit und Bewusstheit. Was ist ein Innenleben? Der Zugang dazu ist so unmittelbar, dass er gar nicht als solcher bewusst wahrgenommen wird. Das, was Sie jetzt gerade spüren – Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen oder anderes –, ist Innerlichkeit, Ihre Innerlichkeit. Das in sich Hineinspüren ist dabei nur ein erster Schritt in ein unermessliches Universum von subjektiv und zwischenmenschlich empfundenem Da-Sein. Die Tür dazu steht weit offen, und doch hat das öffentliche Bildungsangebot so gut wie gar nichts dazu zu sagen. Ich habe in den 70-er Jahren Ingenieurwissenschaften studiert, doch der/die Ingenieur/in als innerlich- empfindendes Wesen oder als kulturell-soziales Wesen wurde in dem gesamten Studiengang nicht ein einziges mal bewusst angesprochen, geschweige denn in seiner/ihrer Entwicklung unterstützt. Das gilt nach meiner Beobachtung für die meisten natur- und sozialwissenschaftlichen Studiengänge, und es gilt sogar auch für geisteswissenschaftliche Ausbildungen. Man kann ohne weiteres Philosophie, Psychologie und Religionswissenschaften studieren, ohne auch nur einmal dazu angehalten zu werden, in einer meditativen Praxis das eigene Bewusstsein von innen her zu betrachten, um so psychologische, philosophische und auch religiöse Erkenntnisse unmittelbar und aus erster Hand zu erlangen.

Die Überobjektivierung des allein materialistischen Weltbildes blendet den inneren Erfahrungsraum aus.

Objektivität

Bevor wir die Thematik noch weiter beleuchten, gilt es, ein Hindernis aus dem Weg zu räumen, das eigentlich gar keines ist, und das hat mit dem Verständnis des Begriffes „Objektivität“ zu tun. Im Verlauf der Aufklärung ist dieser Begriff mehr und mehr zu einem Synonym sowohl für Wissenschaftlichkeit als auch für Erkenntnisse über die Außenwelt geworden, so dass heute die Gleichung gilt: Naturwissenschaft = Wissenschaft = Objektivität. So gut wie alle Wissenschaftssendungen in den Medien gehen nach diesem Schema vor. Auch wenn sie Thematiken wie „Meditation“ oder „Gefühle“ behandeln, so tun sie das von der („wissenschaftlichen“) Außenseite her, z. B. indem Verhalten beobachtet wird und Gehirnströme gemessen werden. Doch was ist mit den Geisteswissenschaften, deren Erkenntnisgegenstände keinen äußeren, sondern einen inneren „Ort“ haben wie beispielsweise spirituelle Erfahrungen oder auch einfach nur das Erleben von Ärger? Sind deren Erkenntnisse deswegen unwissenschaftlich und „rein subjektiv“? Natürlich nicht, doch um das zu erkennen, brauchen wir einen anderen, erweiterten Objektivitätsbegriff, der, um einen zentralen  Wilberschen Begriff zuverwenden, wissenschaftliche Vorgehensweisen in allen Quadranten unterstützt und nicht nur in den rechtsseitigen, die Außenseite der Manifestation beschreibenden Quadranten. Mein Vorschlag für eine umfassendeWissenschaftlichkeit unterstützendeDefinition von Objektivität wäre daher: Objektivität ist, wenn eine ausreichende Anzahl kompetenter Menschen über einen Sachverhalt übereinstimmt. Eine derartige Objektivität würde für immer weitere Überprüfungen offen sein, das ist wichtig, aber sie wäre für innerliche Erkenntnis„Gegenstände“ ebenso gültig wie für äußerliche, und damit wären die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften gleichgestellt. Gibt es so etwas wie eine Satori- Erfahrung, wie im Zen behauptet wird, und zwar nicht nur als etwas, was im Gehirn von Meditierenden Spuren hinterlässt, die sich äußerlich messen lassen? Dies ist eine geisteswissenschaftliche Fragestellung, die sich experimentell – z. B. durch Meditation – beantworten lässt, und immer wieder von „Expert/innen“, die sich dieser Praxis unterzogen haben, mit „ja“ beantwortet wurde und daher einen objektiven und überprüfbaren Wahrheitsgehalt hat.

Bewusstsein und Schatten prägen das menschliche Sein genau so wie objektive Gegebenheiten im Außen.

Inhalte, Strukturen und Dynamiken

In einer einfachen Einteilung hat Ken Wilber für die Untersuchung des menschlichen Bewusstseinsraumes, individuell und kollektiv, eine Dreiteilung vorgeschlagen, als drei Hauptrichtungen dessen, was es dort zu entdecken gibt.[1]
Zum einen hat das menschliche Bewusstsein Inhalte, wie die oben genannten Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen, aber auch Dinge wie Erleuchtungserfahrungen, wie sie beispielsweise von den kontemplativen Traditionen beschrieben werden. Nur sind diese „Dinge“ nicht so offen zugänglich wie ein Gegenstand in der äußerlichen Welt, ein Stuhl zum Beispiel. Um sich selbst von innen her kennen zu lernen, braucht es Übung und die Fähigkeit, Abstand von sich selbst nehmen zu können, um „innere Objekte“ wahrnehmen und beschreiben zu können. Dies ist etwas, was Meditation und Introspektion seit Jahrtausenden unterstützen und fördern, und der westliche Geisteswissenschaftsbegriff dafür ist „Phänomenologie“, mit der Fragestellung: Was sind die Inhalte meines, deines und des menschlichen Bewusstseins allgemein?

Weiterhin hat das menschliche Bewusstsein Strukturen, eine der ganz großen Entdeckungen der Menschheit. Zwei Menschen betrachten ein Wasserglas, und die eine sieht, „das Glas ist halbvoll“ und der andere sieht, „das Glas ist halbleer“. Ein und dasselbe Phänomen und zwei unterschiedliche Wahrnehmungen – wie ist das möglich? Die Welt, einschließlich unserer Innenwelt, hat nicht nur Phänomene, die so gegeben sind, wie sie sind,sondern durch die Strukturen (Kants „a prioris“) unseres Bewusstseins hat jeder Wahrnehmungsmoment immer auch ein prägendes und gestaltendes Moment, mit dem wir Wirklichkeit mit-erschaffen. Menschliche Entwicklungsmodelle beispielsweise wie die von Spiral Dynamics oder Susanne Cook-Greuter, beschreiben derartige Entwicklungsstrukturen in dem Bemühen, den Menschen und seine Wahrnehmung von Wirklichkeit besser zu verstehen. Der geisteswissenschaftliche Begriff dafür ist der des „Entwicklungsstrukturalismus“.

Weiterhin entfalten die Inhalte des menschlichen Bewusstseins eine enorme Dynamik, eine Psychodynamik, deren Dimensionen der Menschheit erst in den zurückliegenden einhundert Jahren bewusst zu werden beginnen. Zwar gibt es schon frühe Hinweise auf die Bedeutung dessen, was dynamisch in uns geschieht, wie die Redewendung „Lasse die Sonne nicht über deinem Zorn untergehen“, doch wie wir wirklich mit all dem, was sich in uns tut, umgehen können, beginnen wir gerade erst zu verstehen. Von Abwehr über Projektion zu Verschiebung bis zu Zorn – die Möglichkeiten menschlicher innerer Verwicklungen sind scheinbar grenzenlos, und als ein Überbegriff für all das, was meist unbewusst in uns geschieht, wird oft der Begriff „Schatten“ verwendet. Schattenarbeit ist, ebenso wie phänomenologische Arbeit und auch Strukturerkenntnis, ein ganz wesentlicher Teil von Selbsterkenntnis, und die entsprechende geisteswissenschaftliche Disziplin ist die der Psychologie bzw. Psychodynamik.

Im Innen und im Außen leben!

Es gibt ein Innen, es gibt Bewusstsein, und es gibt Qualitäten und Werte, die sich in ihrem So-sein auch nur von der Innenseite einer Betrachtung erschließen, auch wenn sie natürlich immer auch materielle Entsprechungen im Außen haben, deren Kenntnis ebenso von Bedeutung ist. Erlauben wir der Wirklichkeit, so zu erscheinen, wie sie ist, mit all ihren subjektiv-innerlichen, intersubjektivzwischenmenschlichen und äußerlichen Dimensionen, ohne eines auf das andere zu reduzieren. Erlauben wir dem Leben, sich uns in seiner ganzen Fülle und in all seinen Dimensionen zu präsentieren, mit der Möglichkeit, das kostbare menschliche (Er)leben mit all seinen Gaben und Gegebenheiten zu umarmen. Lassen wir unseren Mut etwas größer werden als unsere Angst, um zu erfahren, wer wir wirklich sind.

[1] Wilber spricht von „3 S“, und zwar states (Bewusstseinszustände), structures (Bewusstseinsstrukturen) und shadow (Schatten).

(aus: IP 17, 2010)

Ähnliche Beiträge