Das Werden werden wollen

Gender

Das Werden werden wollen

Dr. Nadja Rosmann

In gewisser Weise beschäftigt das Verhältnis der Geschlechter die Menschheit seit ihrem Anbeginn, denn der „kleine Unterschied“, den Feministinnen wie Alice Schwarzer in den 1970-er Jahren verstärkt aufs Korn nahmen, hat unsere Kulturgeschichte über Jahrtausende wesentlich geprägt.

Integral betrachtet „nur“ ein typologischer Unterschied, bestimmt die Tatsache, ob wir Frau oder Mann sind, bis zum heutigen Tage nicht unwesentlich, wie wir uns entfalten, welcheChancen wir in unserem Leben sehen und in welche Sackgassen wir geraten. Und obwohl spätestens die Postmoderne Menschen in westlichen Industriegesellschaften ein fast schon unüberschaubares Rollenangebot für die Realisierung individueller Lebensentwürfe zur Verfügung stellt, bleiben immer mehr Frauen (aber auch Männer) mit einer gewissen Unentschlossenheit zurück, weil sie ein Unbehagen verspüren. Ein Unbehagen, das der Ahnung geschuldet ist, dass es im Gender-Diskurs vielleicht noch um wesentlich mehr gehen könnte, als die typologischen Irrungen und Wirrungen einer vermeintlichen Frau-Mann-Polarität aufzudröseln und neu zu definieren.

Wie können wir einen Raum der Möglichkeiten betreten, der jenseits bereits existierender Rollenklischees tatsächlich Zukunft schafft?

Wie könnte eine Welt aussehen, in der wir über die historisch vermittelten Bilder des Frau- und Mannseins wirklich hinausgehen? Wie können wir unsere Identitäten angemessen gestalten, ohne uns auf einstige Rollenklischees zu berufen (oder von ihnen abzugrenzen)? Wie können wir einen wirklich schöpferischen Impuls in die Gender-Debatte einbringen, der bestehende Grenzen tatsächlich sprengt? Eine vorläufige mögliche Antwort: indem wir nicht mehr allein aus dem Relativen und Gegebenen schöpfen, sondern unsere Vorstellungen von Gender und Geschlecht in der Berührung mit dem Absoluten, in der Stille und Meditation, hinter uns lassen, um Zugang zu einem noch leeren Raum der Möglichkeiten zu finden – einem Raum, in dem wir Zukunft tatsächlich erschaffen können.

Warum Territorien erobern, die wir gar nicht besetzen wollen?

„Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht“, stellte die große Feministin Simone de Beauvoir einst fest und läutete damit eine völlig neue Ära in der Geschlechter-Diskussion ein, denn von diesem Zeitpunkt an war augenscheinlich: Das biologische Geschlecht ist zwar ein Faktum, seine gesellschaftliche Relevanz und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, hingegen sind sozialer Natur und damit relativ, also prinzipiell verhandelbar.

Die ewige Aufholjagd im Gender-Diskurs ermüdet, weil sie keine wirklich neuen Territorien entdeckt.

Betrachtet man die heutige Lebenswirklichkeit von Frauen, so wird man den Verdacht nicht los, dass wir Frauen selbst an diesem „Machen“ der Geschlechterrollen einen nicht unwesentlichen Anteil haben. In einem Möglichkeitsraum, der in postmodernen, westlichen Gesellschaften eine Weite erreicht hat, die noch vor wenigen Jahrzehnten kaum vorstellbar gewesen wäre, scheinen wir über das klassische Mann-Frau-Spannungsverhältnis immer noch kaum hinauszukommen. Für unsere Rechte müssen wir Dank der Generationen von Frauen, von den Suffragetten bis zu den Feministinnen des späten 20. Jahrhunderts, die uns vorangegangen sind, nicht mehr kämpfen. Für unsere Anerkennung, für wirkliche Chancengleichheit sehr wohl. Die gegenwärtige Diskussion in Deutschland über eine Frauenquote für Führungspositionen in Unternehmen und ihren Aufsichtsräten zeigt dies nur allzu deutlich. Und genau das ist ermüdend, verstrickt uns diese Perspektive doch in eine unaufhörliche Aufholjagd, in Kämpfe, in denen wir versuchen, uns Territorien zu erobern, von denen wir nur allzu oft gar nicht wissen, ob wir sie überhaupt besetzen wollen.

Unlust und die sich selbst begrenzenden Vorzeichen der Gender-Debatte

Die Ursache dieser Unentschlossenheit, aber auch der Unlust, uns überhaupt mit diesem Thema bewusst zu beschäftigen, liegt unter anderem in den sich selbst begrenzenden Vorzeichen, unter denen die Gender-Debatte geführt wird – und in den Begrenzungen, die wir selbst, gleich ob biologisch Frau oder Mann, tagtäglich durch unser Denken und Handeln errichten.

Der Blick in die Vergangenheit erschließt uns nicht, wer wir werden können.

Richtig deutlich wurde mir der wunde Punkt, an dem eine wirkliche Entwicklung immer noch scheitert, bei dem wunderbaren Vortrag „Beyond Gender“ von Elizabeth Debold bei der Jahrestagung des Integralen Forums im Sommer 2012 in Berlin. In einer humorvollen Gesamtschau fasste die promovierte Harvard-Absolventin und Ikone der Gender Studies mehrere Jahrtausende der Geschlechtergeschichte zusammen, von der Führerschaft der Frauen in matriarchal organisierten Gesellschaft (die von vielen feministischen Forscherinnen herausgearbeitet wurde) über ihre Unterdrückung (durch Männer), ihre (in westlichen Gesellschaften inzwischen erreichte) formale rechtliche Gleichstellung bis hin zu ihrer Verherrlichung als das vermeintlich bessere Geschlecht. Historisch betrachtet „funktionieren“ Rollenbilder wie diese, die sich auf Basis der gesellschaftlichen und kulturellen Perspektiven einer jeweiligen Zeit entwickeln, so lange das individuelle Bewusstsein mit ihnen im Einklang ist. Beginnt der Geist jedoch über sie hinauszuwachsen, entsteht eine evolutionäre Spannung, da sich der denkbare Möglichkeitsraum erweitert, ein entsprechendes Rollenrepertoire sich aber erst noch entwickeln muss. Genau diese Reibung ist es, die in den vergangenen Jahrhunderten maßgeblich die Erweiterung der Geschlechterrollen vorangetrieben hat. Das große Verdienst der Postmoderne ist es, die Beschränkungen alter Rollenmodelle im Zuge einer Metakritik auf die Agenda gesetzt zu haben. Diese Dekonstruktion hat uns Frauen des 21. Jahrhunderts zu einer neuen Wahlfreiheit geführt, so dass wir heute eigentlich die sein könnten, die wir sein wollen – schlicht, weil wir erstmals in der Lage sind, bewusst die Beschränkungen des Gewesenen hinter uns zu lassen. Und dennoch scheint unsere mögliche Zukunft noch von Nebel verhangen.

Ein Unbehagen, das nach Entfaltung sucht

Das eigentliche Dilemma brachte Debold elegant und eloquent auf den Punkt: Im Blick zurück können wir zwar erkennen, wie wir die wurden, die wir heute sind, doch die Betrachtung der Vergangenheit offenbart uns eben nicht, wer wir werden können. Und genau dieses Werden-Können, die Ahnung, dass es noch unendliche Potentiale gibt, die wir – als Frauen, aber natürlich auch als Menschheit – noch nicht verwirklicht haben, lässt uns unruhig werden und mit dem Status quo hadern. Wir leiden unter einer subtilen Form des Unbehagens, das nach Ausdruck und Entfaltung sucht.

Genau dieses wahrgenommene Unbehagen könnte es gewesen sein, das die amerikanische Philosophin Judith Butler Ende des vergangenen Jahrhunderts zu ihrem bahnbrechenden Buch „Gender Trouble“ – in deutscher Ausgabe „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991) – inspirierte. An viele der von Butler ausgeführten philosophischen Details erinnere ich mich heute nicht mehr, wohl auch, weil die terminologischen Tiefen der akademischen Philosophie seit jeher mit meinem Hang zum Alltagspragmatismus kollidieren. (Kenner mögen mir also mögliche Verkürzungen oder gar Missverständnisse nachsehen.) Wohl aber beschäftigt mich bis zum heutigen Tage das von ihr postulierte Konzept der Performanz, der Möglichkeit, Geschlechtsrollen nach Belieben zu füllen, aufzuladen, zu leben.

Eigentlich könnten wir sein, wer oder was wir wollen, aber …

Die Idee der Performanz läuft darauf hinaus, dass wir – eigentlich – jederzeit sein können, wer oder was wir wollen. Eigentlich, denn die äußeren Umstände, die die Ränder dieser möglichen Lebensräume markieren (integral gesprochen würde man von den kollektiven Quadranten sprechen, von gesellschaftlichen Werten und Normen, aber auch von institutionellen Strukturen und Systemen), stehen letztlich einer grenzenlosen Entfaltung dann doch entgegen. Und nicht nur diese. Auch unser Denken oder besser gesagt das, was wir uns vorzustellen vermögen (also unser Innenleben, der individuelle innere Quadrant), kann zum Stolperstein werden.

Grenzenlose Weite – die Verheißungen der Evolution werden noch unter Stereotypen begraben.

Und sohat sich die per se grenzenlose Weite, die Butler mit ihrem Konzept intendierte, über die letzten beiden Jahrzehnte mehr oder weniger im Abgleich mit und der Reibung an Gegebenem auf einen überschaubaren Radius reduziert. Frauen machen heute Karriere (indem sie nur allzu oft „männliche“ Attribute wie Machtstreben und Durchsetzungsfähigkeit unreflektiert übernehmen), reiben sich auf zwischen Kindern, Küche und Teilzeit-Job ohne Aufstiegschancen (und kreieren für sich damit Unzufriedenheit an allen Fronten) oder setzen alles auf die Karte der Mutterrolle (und erheben damit längst überwunden geglaubte Stereotype in den Rang eines fortschrittlichen Paradigmas). Nun, gelinde gesagt: Evolution sieht anders aus …

Frauen wollen mehr als eine Aufholjagd

Der wunde Punkt: Letztlich spielen wir auf dem falschem Terrain. Wir schöpfen unser mögliches Rollenrepertoire integral gesprochen aus einem Denken des ersten Ranges. Wir spielen und variieren traditionelle, moderne und postmoderne Konzepte, gehen aber kaum über sie hinaus. Und genau diese Enge, die unbewusst geahnte Selbstbegrenzung ist es, die immer mehr Frauen unruhig werden lässt. Viele Frauen haben schlicht keine Lust mehr, sich an einer Aufholjagd zu beteiligen, die nur bereits Bestehendes zu erringen sucht (wenngleich genau das in vielen Regionen der Welt, aber auch für Frauen, die ähnliche Wege gehen möchten wie die, die von Männern bereits beschritten wurden, selbstverständlich noch notwendig ist). Und es reicht ihnen auch nicht, Zuflucht zu suchen in einem integralen Denken, das in der Lage ist, das Beste aller bisherigen Entwicklungsstufen zu integrieren. Nein, wir wollen mehr – oder wenn man im Bild der Entwicklungsspirale von Spiral Dynamics denkt: Wir wollen höher hinaus! Doch wie kommen wir dorthin?

Offen für eine unbekannte Zukunft

„Wenn wir immer schon wüssten, was wir werden, wären wir am Ende. Ich glaube, ein Teil dessen, was das Selbst ausmacht, ist, offen für eine unbekannte Zukunft zu sein, für eine eigene Zukunft“, sagt Judith Butler in der Dokumentation „Philosophin der Gender“ (2006), die kürzlich auf Arte ausgestrahlt wurde. „Was wird das Selbst in Zukunft sein? Diese Offenheit entsteht nur im Kontakt zu anderen.“

Wenn wir uns auf das Mögliche ausrichten, werden wir zu evolutionären Agentinnen.

Man könnte fast sagen, dass Butler hier Elizabeth Debold virtuell die Hand reicht, denn auch Debold betont die Notwendigkeit des Voranschreitens, die Suche nach dem Unbekannten, die Verkörperung des evolutionären Impulses. Debold spricht davon, dass es der Zustand des Noch-nicht-Wissens ist, die Fähigkeit, sich auf das, was werden will, zu beziehen, die uns von „der Anderen“ (in Anlehnung an de Beauvoirs Buch „Das andere Geschlecht“) zur „evolutionären Agentin“ werden lässt – und dies gemeinsam mit Gleichgesinnten, die ebenfalls einen evolutionären Funken erkennen lassen, und indem wir uns auf das Höchste, was sich im Miteinander zeigt, ausrichten.

In der Meditation über das, was wir bereits wissen, hinausgehen

Es mag verblüffend einfach klingen – oder auch vermessen, doch letztlich liegt der Schlüssel, der die Tür zu den noch unentdeckten Territorien öffnet, in der Meditation. Denn dort, wo wir die Räume dessen, was wir bereits wissen, verlassen, wo wir im wahrsten Sinne des Wortes über uns hinaus gehen und eintauchen ins Absolute, kann Schöpfung stattfinden. In einem Gespräch, das Carter Phipps mit Ken Wilber für sein Buch „Evolutionaries“ führte, bringt Wilber diesen Zusammenhang gewohnt eloquent auf den Punkt: „Es ist nicht so, dass Individuen diese höheren Potentiale nicht erschließen könnten … allein ihre Strukturen sind erst schwach ausgeprägt und bestehen aus den noch kaum sichtbaren Fußabdrücken hoch evolvierter Seelen, die bereits durchgestoßen sind und uns das zarte Flüstern der außergewöhnlichen Ausblicke, die vor uns liegen, wenn wir den Mut haben zu wachsen, zurücklassen. Es sind höhere Potentiale und außergewöhnliche Bewusstseinszustände … die noch nicht zu Strukturen, zu kosmischen Gewohnheiten geworden sind.“

In der Leere offenbart sich die Absicht der Zukunft.

Damit aus dem Flüstern eine deutlich vernehmbare Stimme wird, müssen wir letztlich „nur“ aus der Zukunft heraus sprechen. Oder, wie Elizabeth Debold sagt: „Halte dich an die Absicht der Zukunft.“ Um diese Absicht zu erkennen, ist es hilfreich, das, was bereits ist, zumindest temporär loszulassen, leer zu werden, sich zu öffnen und im Meditieren den Raum zu betreten, der nicht vom Staub der Vergangenheit bedeckt ist.

Durch das Paradox hindurchgehen

Die Aufgabe ist immens, denn es geht um einen „lebendigen Spagat“, darum, die Relativität des dualen Denkens zu überwinden und eine wahrhaft evolutionäre Perspektive zu etablieren. Die Unterscheidung zwischen einem Denken ersten Ranges, das dem Schwerpunkt einzelner Entwicklungsstufen noch vergleichsweise stark verhaftet ist und sich schwer damit tut, über seine inhärenten Begrenzungen hinauszugehen, und einem Denken zweiten Ranges, das nicht nur die Fähigkeit der konstruktiven Integration des Gewesenen kultiviert, sondern darüber hinaus in der Lage ist, in lebendiger Exploration Neues zu schöpfen und lebbar zu machen, hat sich im Integralen längst als – rationale – Gewissheit etabliert. Nun steht der nächste Schritt an: vom Denken zum Handeln, von der Theorie zur Praxis, von der individuellen Erkenntnis zur Gestaltung gesellschaftlicher Realität und Kultur.

Im Spannungsfeld zwischen Nicht-Wissen und Wissen-Wollen kann eine neue Kultur entstehen.

Das mag sich vergleichsweise leicht anhören, ist es aber erfahrungsgemäß nicht, denn um diesen Schritt wirklich zu machen, müssen wir den Sprung ins Nichts wagen und die Spannung zwischen Nicht-Wissen und Wissen-Wollen kultivieren und immer wieder (aus)halten. Für das duale Denken wird dieser Spagat zum unlösbaren Koan, zu einem Paradox (und haben wir diesen Eindruck nicht, können wir sicher sein, dass wir noch im Wissen gefangen sind). Doch wie kommen wir zu dieser lebendigen Bewegung, die Grenzen transzendiert, die eine neue Brücke baut zwischen relativer Gewissheit und absoluter Möglichkeit?

Wir müssen durch das Paradox hindurchgehen und es in seiner Lebendigkeit immer wieder verkörpern. Das übersteigt den Verstand zwangsläufig, denn in den Räumen des Absoluten ist das Denken obsolet, während wir gleichzeitig in die Welt des Relativen meist nur mit einer Ahnung der grenzenlosen Weite, die wir in der Meditation erfahren haben, zurückkehren. Oder, wie der spirituelle Lehrer Andrew Cohen es ausdrückt: Beide Welten trennt nur ein Schritt – des Zurücktretens beziehungsweise des Voranschreitens. Letztlich ist es genau diese Pendelbewegung, welche – als permanente Lebenspraxis – Zukunft erschafft. Dafür braucht es regelmäßige Meditation und den Kontakt zu anderen, den diskursiven Austausch: in dem wir uns nicht auf das, was bereits ist, sondern auf das, was werden will, beziehen; in dem wir über uns selbst hinausgehen und selbst zum Ausdruck des Möglichen werden. Das klingt mystisch (und ist es auch), lässt sich aber zugleich als Alltagspraxis kultivieren, wie beispielsweise die Evolutions-Cafés der Spirituellen Herbstakademie und die evolutionären Dialoge bei EnlightenNext immer wieder aufs Lebendigste vor Augen führen.

Wenn wir auf diese Weise das Werden werden, verändern sich die Vorzeichen des Gender-Diskurses (und des Lebens an sich) dramatisch, denn dann überschreiten wir wirklich Grenzen.

Dr. Nadja Rosmann
ist Kulturanthropologin und arbeitet als Journalistin, Beraterin und wissenschaftliche Projektmanagerin vor allem zu den Themen Identität, Spirit und Business. Sie betreibt das Weblog think.work.different: www.zenpop.de/blog. Seit 2010 ist sie Mitglied des Leitungsteams des Integralen Salon Frankfurt


Quelle : IP 23 – 12/2012

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