„Feminine Power“

Gender

„Feminine Power“

… als Weg zur Selbstverantwortung und Wirksamkeit

Adelheid Hörnlein

Wer erinnert sich nicht an den Ausspruch: Ein „erleuchteter“ Mensch kann in der Meditation tiefe Erlebnisse haben von Liebe und Verbindung. Dann steht er auf und benimmt sich wie ein „Arschloch“, oder er bekommt sein Leben nicht auf die Reihe. Was also tun, damit wir „integrierte“ und „vollständige“ und „glückliche“ Menschen werden können?

Klassische spirituelle Wege und auch die Psychotherapie beziehen sich auf den einzelnen Menschen und spezifische Linien (oder „Kompetenzen“ oder „Intelligenzen“) seiner individuellen Entwicklung. Sie tun dies häufig auf „unkoordinierte“ Weise, indem sie nur eine oder wenige Linien einbeziehen und oftmals auch die Wechselwirkungen zwischen den Linien vernachlässigen. Hinzu kommt bisweilen ein absoluter Gültigkeitsanspruch – eine Methode meint, für „alles“ zuständig zu sein.

Notwendig, aber nicht hinreichend

Hinzu kommt weiterhin: Wir meinen noch immer, es gäbe äußere Standards für Sein und Tun, die es zu erreichen gilt – ganz im Einklang mit der maskulinen Kultur und Vorgehensweise, die wir alle als „ganz normal“ empfinden. Psychotherapie soll den Menschen „verbessern“, ihm erlauben, sein Leben erfolgreicher zu meistern; und Spiritualität richtet sich häufig aus auf die „positive“ Seite von allem – und ignoriert dabei weitgehend die innerpsychische Situation des Einzelnen, trotz verbaler Anerkennung des Schattens. Ken Wilber bietet als Lösung den 3-2-1-Prozess an, ein guter Anfang, aber nicht tiefgreifend genug für eine wirkliche integrale Transformation.

„Mehr Spiritualität“ reicht nicht aus, um eine wirklich integrale Transformation zu vollziehen.

Die Ursache für eine Stagnation in unserer individuellen und kollektiven Entwicklung liegt zum einen in der Tatsache begründet, dass wir noch immer in Unkenntnis unserer inneren Prozesse leben und deren Auswirkungen auf uns selber, unser Leben, unsere Beziehungen, unsere Gemeinschaften, Völker, auf die ganze Welt oftmals verkennen. Zum anderen gehen wir bei all unseren Versuchen der „Selbstverbesserung“ schlicht und einfach von der irrigen und nicht hinterfragten Grundannahme aus: „Persönliche Entfaltung geschieht auf individueller Ebene.“ Dabei lassen wir vollkommen außer acht, dass unser gesamtes Leben, ja alles, was auf dieser Welt geschieht, ein Ergebnis von Interaktion ist, das Resultat von mehr oder weniger gut funktionierenden Beziehungen zwischen den Individuen. Wir sprechen zwar gerne über diese Perspektiven der unteren Quadranten, aber leben sie eher selten wirklich bewusst und konsequent.

Wir alle – ganz besonders wir „Integralen“ – sprechen gerne von Frieden und neuen Wegen. Aber außer uns die Köpfe heiß zu reden, was tun wir wirklich und ganz konkret dafür? Können wir noch ernsthaft glauben, Frieden ließe sich erreichen durch Diskussionen über Theorien, durch Demonstrationen und politische Taktiken und Verhandlungen irgendwo draußen in der Welt – und in unserem Privatleben, mit unseren Partnern, in unserer Familie und an unserem Arbeitsplatz leben wir gleichzeitig in ständiger Spannung und Unfrieden? Oder wir haben uns zurückgezogen, vermeiden Beziehungen, fühlen uns allein und sind un-zu-frieden.

Schwächen Integraler Lebenspraxis

Es wird deutlich, dass die Devise „noch mehr Spiritualität“ oder „noch mehr Psychotherapie“ (und auch: noch mehr Theorie) nicht zum Ziel geführt hat – und dies auch nicht kann, auch dann nicht, wenn beide Ansätze parallel praktiziert werden (siehe dazu das Fallbeispiel unten). Wir brauchen eine Methodik, die alle wichtigen Aspekte einer evolutionären Weltsicht auf allen Ebenen des Seins integriert. Wir brauchen einen praktischen Übungsweg, der die in uns wohnenden Intelligenzen gleichwertig fördert und zur praktischen Anwendung bringt – und der der Tatsache unserer vielfältigen Beziehungen auf allen Ebenen Rechnung trägt.

An dieser Stelle mögen manche vielleicht einwenden, dass das Konzept der „Integralen Lebenspraxis“ (ILP) genau dies beabsichtigt. Sicherlich, ILP versucht, über die Quadranten und Entwicklungslinien hinweg verschiedene Methodiken so zusammenzubringen, dass ganzheitliche Entwicklung möglich wird. Doch das ILP-Konzept weist eine entscheidende Schwäche auf: Die Schnittstellen zwischen den Quadranten und Methoden sind nicht wirklich definiert. Methoden stehen also eher nebeneinander und ergänzen sich bestenfalls auf natürliche Weise, doch gibt es bisher keine oder allenfalls wenige Ansätze, die dieses gezielte Ineinandergreifen systematisieren.

“Feminine Power“ – nicht nur Frauensache

Doch es gibt bereits einen Übungsweg, der sich eines wahrhaft integralen Ansatzes bedient und versucht, diese Leerstellen zwischen den Quadranten und Entwicklungslinien sinnvoll zu füllen. Er wurde vor sechs Jahren in Los Angeles von Katherine Woodward Thomas and Claire Zammit als „Feminine Power“ ins Leben gerufen. Der Name rührt daher, dass Beziehungsarbeit natürlicherweise eher als „Frauensache“ angesehen wird – aber die Relevanz für beide Geschlechter ist unübersehbar. Die grundsätzliche Frage lautet dabei: Wo in meinem Leben gebe ich meine „Power“, meine Selbstverantwortlichkeit auf; was genau sind die Beziehungsmuster, die ich übernommen habe, deren ich mir nicht bewusst bin und die mein heutiges Leben beeinflussen und mich hindern, zu meiner wirklichen Größe zu erwachen?

Die große Frage ist: Wo gebe ich meine Selbstverantwortlichkeit auf und was hindert mich daran, zu meiner wirklichen Größe zu erwachen?

Schwierigkeiten in unserem Leben führen wir gemeinhin darauf zurück, dass etwas „falsch läuft“, in uns selber oder in den anderen. Dementsprechend versuchen wir meist, die anderen zu „erziehen“ oder sie zu überreden oder sogar Druck anzuwenden, damit sie sich uns genehm verhalten. Wir sehen uns als Opfer unserer Umwelt und merken meist gar nicht, wie allumfassend wir in dieser Perspektive stecken. So vermeiden wir, selber effizient aktiv zu werden. Andere sollen die Probleme für uns lösen: die Ärzte, die Lehrer, die Therapeuten, die Politiker. Wir selbst begnügen uns meist damit, schlau zu reden, als wüssten wir alles besser – und uns „vornehm zurückzuhalten“. Und gerade damit verankern wir uns in einer umfassenden Perspektive von Machtlosigkeit, die unsere eigene Entwicklung und unsere Wirkung auf die Welt negativ beeinflusst.

Unsere individuelle und kollektive Entwicklung hängt jedoch direkt davon ab, ob wir fähigwerden zu erkennen, wie tief unsere unbewussten Konditionierungen in unser Denken und Handeln eingreifen, von dem wir nur zu gern überzeugt sind, es geschehe durch rationale Überlegungen – und davon, ob wir fähig sind, Kommunikationsweisen zu entwickeln und zu praktizieren, die Verstehen und Frieden schaffen in unserer Kommunikation mit uns selbst und den anderen. „Der Frieden in der Welt“ – er hängt von uns ab, von jedem Einzelnen von uns, und ganz konkret.

Individuelle und systemische, innere und äußere Perspektiven konsequent verbinden

„Feminine Power“ versucht, individuelle und systemische Perspektiven konsequent miteinander zu verzahnen und damit die Leerstellen zwischen den Quadranten neu zu definieren. Die wichtigsten Prinzipien des Ansatzes:

Das Leben ist ein kreativer Prozess, und unsere Gedanken, Überzeugungen, Annahmen, Entscheidungen, Handlungen und Worte sind die Bedingungen, Werkzeuge und Ausdrucksweisen, mit denen wir unsere Erfahrung und unsere Lebenssituation erschaffen. (oberer linker und oberer rechter Quadrant, individuelle Innenperspektive und individuelle Außenperspektive)

Wir sind NICHT nur das Ergebnis unserer Vergangenheit. Wir haben die Macht darüber, uns selbst zu verändern, unsere Beziehungen zu anderen und das, was möglich ist in unserem Leben. (unterer linker Quadrant, kollektive Innenperspektive plus evolutionäre Perspektive)

Wir sind zu 100 Prozent verantwortlich für unsere emotionalen Reaktionen – und wir können lernen, emotionale Intelligenz zu entwickeln. Damit werden wir fähig, wirklich verantwortliche Entscheidungen zu treffen, ohne von unbewussten emotionalen Kräften bestimmt zu werden. (oberer linker Quadrant, individuelle Innenperspektive)

Wenn wir die Beziehung zu uns SELBST verändern, verändert sich unsere Außenwelt entsprechend. (Wechselverhältnis von oberem linken und unterem rechten Quadranten, von individueller Innenwelt und systemischer Außenwelt)

Notwendige Voraussetzung für Transformation ist die Verankerung von Wissen im Körper, und das Transformationsinstrument ist das Herstellen einer tiefen Beziehung zwischen den inneren Anteilen in ihrer somatischen Manifestation (im Gegensatz zur nur verbalen und zerebralen Vorgehensweise). (Verbindung von oberem linken und rechten Quadranten, die individueller Wahrnehmung und Körperperspektive)

Hier ist nicht genug Raum, um den „Feminine Power“-Ansatz im Detail darzustellen und seine Besonderheit im Reigen all der Selbst-Entwicklungsangebote klar heraus zu arbeiten. Die Querverweise zu den Quadrantenperspektiven, die die Methode abdeckt, lassen jedoch bereits erkennen, dass das Vorgehen ganzheitlich im besten AQAL-Sinne ist. Um einen konkreten Eindruck der Wirkungsweise zu bekommen, schildere ich im Folgenden das Fallbeispiel einer Klientin, die eine konkrete Transformation in Perspektive und Verhaltensweisen in nur fünf Coaching-Sitzungen erfahren hat.

Die „Feminine Power“-Arbeit am Beispiel einer Klientin im Coaching

Ann ist eine sehr attraktive Mittvierzigerin, Psychotherapeutin, seit Jahrzehnten auf dem spirituellen Weg und passionierte Filmemacherin. Sie liebt es, in Teams zu arbeiten, aber immer wieder geschieht es ihr, dass sie sich an den Rand gedrängt fühlt, aus der Gruppe ausgeschlossen und trotz ihrer hohen Professionalität nicht wirklich wertgeschätzt wird. Und immer wieder kommt sie zur Entscheidung, dass dies nicht das richtige Team für sie ist, und sie verlässt die Arbeit, die sie sehr liebt. Im privaten Leben bleibt sie immer wieder in Beziehungen hängen, in denen sie sich vom Partner nicht gesehen und wertgeschätzt fühlt, obwohl sie doch so viel für ihn tut und immer für ihn da ist, wenn er sie braucht.

Es ist leicht für Ann, sich in meditative Zustände zu versetzen. Ich leite sie an und sie nimmt Bezug auf verschiedene Anteile ihres Selbst. Sie antwortet auf Fragen, indem sie benennt und mitteilt, was in ihr hochkommt. Und da zeigen sich überraschende Assoziationen und Erkenntnisse dessen, was sie tief im Unbewussten von sich selber glaubt: dass sie nicht so sein darf, wie sie wirklich ist, sondern sich Liebe und Aufmerksamkeit verdienen muss. Von den anderen Menschen glaubt sie tief im Innersten, dass sie ihnen völlig egal ist, dass die anderen unsensibel sind und egozentrisch. Und vom Leben glaubt sie, dass es von ihr verlangt, extrem hart zu arbeiten und immer freundlich und verständig zu sein. Und sie muss ihre eigenen Bedürfnisse hinten an stellen, damit sie überhaupt eine Existenzberechtigung hat.

Wer die eigenen, behindernden Wahrheiten erkennt, kann seine Selbstwirksamkeit frei entfalten.

Für die erwachsene, sehr weit entwickelte Frau sind diese Erkenntnisse überwältigend. Im Laufe der Prozessarbeit mit „Feminine Power“ lernt sie zu sehen, wie sehr sich diese unbewussten Überzeugungen in ihrem Leben hindernd auswirken, wie ihre gegenwärtigen Handlungen, geprägt von diesen Mustern, diese immer wieder verstärken und sie als ihre „Wahrheit“ erscheinen lassen. Sie beginnt zu erkennen, mit welchen Denkund Handlungsweisen diese unbewussten Strukturen durch sie selber aufrecht erhalten werden, dass diese in ihrem eigenen Verantwortungsbereich liegen, und wie wenig tatsächlich andere Menschen oder äußere Ereignisse zu ihrem Unwohlsein oder Unglück beitragen.

Diese Einsicht bringt ihr große Erleichterung und das Gefühl, ihrem Leben eine andere Richtung geben zu können. Denn jetzt muss sie nicht mehr darauf warten, dass sich andere Menschen oder äußere Umstände ändern, sondern sie kann lernen, wie sie ihre innere Erfahrung und ihre Emotionen liebevoll halten kann, ohne von ihnen in alte Reaktionsmuster gedrängt zu werden. Und sie kann neue Wege lernen, mit sich selbst und anderen in Beziehung zu gehen und ihre Perspektive dem Leben gegenüber grundsätzlich zu verändern. Sie kann jetzt ihr Leben wirklich – nicht nur vermeintlich – aus der Perspektive der erwachsenen, erfahrenen, weisen Frau in die Hand nehmen, die Opferrolle aufgeben, ihre Selbstverantwortlichkeit annehmen und ihre Mitmenschen aus der Rolle der „Übeltäter“ entlassen.

Ann ist ein brillantes Beispiel dafür, was „Feminine Power“ leisten kann. Trotz Jahrzehnten der Arbeit mit Psychotherapie und Spiritualität konnte sie nicht an den eigentlichen Kern ihrer Probleme gelangen, was mit nur fünf Coaching-Sitzungen erreicht wurde: Kein jahrelanges Prozessieren der Gefühle und kein tiefes Verstehen von unpersönlichen, spirituellen Wahrheiten konnte diese zutiefst persönliche und lebensbehindernde Orientierung erkennbar machen geschweige denn verändern, wohl aber Einsichten in die Zusammenhänge, die Benennung der falschen Identitäten, in denen sie gefangen war und das Aufspüren neuer Fähigkeiten, die zu entwickeln und einzuüben sind, wecken.

Es ist, als ob der Fisch plötzlich weiß, was Wasser ist, und er jetzt Barrieren im Flusslauf durchschwimmen kann.

Die Führungsrolle im eigenen Leben ergreifen

Auch wenn der geschilderte Fall so aussehen mag, als handele es sich lediglich um eine neue Form der Arbeit im oberen linken Quadranten, also die individuelle Innenperspektive: Die Konsequenzen dieser inneren Transformation treten gleichzeitig in allen anderen Quadranten zum Vorschein und benötigen dort im Anschluss eine ebenso sorgfältige Aufmerksamkeit, um das Ziel auf persönlicher und überpersönlicher Ebene erreichen zu können.

Und so funktioniert es: Aus der Erkenntnis meiner eigenen verborgenen Muster heraus entwickle ich größere Toleranz und Liebe mir selbst und den anderen gegenüber, weil ich erkenne, dass die anderen in ebensolchen dysfunktionalen Mustern gefangen sind. Von da aus kann ich die Führungsrolle übernehmen und das, was ich gelernt habe (z.B. „Generative Kommunikation“ oder „Generatives Bitten“) mit anderen üben und erfahren, wie anders sie dann auf mich reagieren, wie es mir und ihnen möglich ist, aus unseren Mustern herauszukommen und kooperativ zu werden; wie die gesamte Kommunikation auf wahrlich „erwachsener“ Ebene stattfinden kann, ungehindert von emotionalen Störfeldern – und wie letztere aufgelöst werden können, wann immer sie auftreten sollten. So können lang schwelende Konflikte „wie von selbst“ ihre Lösung finden, in der Familie, bei der Arbeit, in der Gesellschaft und letztlich in der Welt.

Die Tools dafür sind jetzt emergiert und stehen uns allen zur Verfügung. Jetzt geht es nur noch darum: Wie wichtig ist es dir wirklich? Bist du bereit, dich aus der Gemütlichkeit deiner altbekannten Nische herauszubegeben, Neues zu lernen über dich selbst und dann Schritte zu unternehmen, dies in die Welt zu tragen, deinen Beitrag zu leisten?

Weitere Informationen: http://femininepower.com/online-course/ und mein Blog http://machtvolleweiblichkeit.blogspot.it/ (eine umfassendere Webseite, auch auf Deutsch, ist in Bearbeitung).

Adelheid Hörnlein, Wilber-Fan und Mitglied des IF seit über 12 Jahren. Mission: Evolution des Bewusstseins, als Integrale Stimmtrainerin und Coachin für „Feminine Power, „Conscious Uncoupling“ and „Calling in The One“. Lebt in Italien und arbeitet hauptsächlich via Skype oder live in Seminaren und Retreats.

(aus: IP 23 – 12/2012)

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