Ken Wilber
Einleitung der IntegralNaked Redaktion
Neben den Quadranten, Ebenen, Linien und Zuständen sind die Typen eines der fünf grundlegenden Elemente des integralen Modells. Typologien wurden in Ansätzen wie dem Enneagramm und Myers-Briggs untersucht, die einfachste Typologie ist jedoch die von maskulin und feminin. Die Frage der Studentin bezieht sich jedoch nicht nur auf Typologien, sondern auch auf Entwicklung.
Wie Ken erläutert, kann man die Geschlechtsidentität in der Tat als eine Entwicklungslinie betrachten. Auf einer egozentrischen Entwicklungsebene ist die geschlechtliche Identität eng an das eigene biologische Geschlecht gebunden, als Mann oder Frau in einem menschlichen Organismus. Auf der ethnozentrischen Entwicklungsebene werden diese biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen in geschlechtsspezifischen Rollen als etwas „Gottgegebenes“ festgelegt. Auf einer weltzentrischen Entwicklungsebene ist man schließlich zu einer kritischen Betrachtung dieser sozial konstruierten Geschlechterrollen der Kulturen in der Lage und kann sich eine eigene Geschlechtsidentität schaffen. Auf einer integralen und kosmozentrischen Entwicklungsebene geht man in gewisser Weise über die Geschlechtlichkeit hinaus [“trans-gender,”], und der Identitätsschwerpunkt ist in allem, was erscheint, einschließlich des eigenen Körpers und Geistes, der davon ein kleiner Teil ist. Ken erläutert die quadrantische Natur geschlechtlicher Identität und die Bedeutung eines wahrhaft integralen Feminismus.
Frage: In unserem Kurs haben wir das Integrale genau untersucht und sind dabei überall auf Typologien gestoßen. Wir haben uns dabei dir Frage gestellt, wie wir uns als männliche und weibliche Individuen sehen. Viele haben dabei beschrieben, dass im Verlauf ihrer eigenen Entwicklung die Grenzen immer mehr ineinander übergehen und immer mehr dieser Geschlechtergewohnheiten transzendiert werden können. Ich habe dann die Frage gestellt, ob wir es hier mit einer diese 12 oder mehr Entwicklungslinien zu tun haben, was denken Sie darüber?
KW: Je nachdem, wie man geschlechtsspezifische Entwicklung beschreibt, denke ich, dass es sich dabei um eine spezifische Entwicklungslinie handelt. Ich beziehe mich jetzt auf die Terminologie in Integrale Psychologie und blättere gerade zu den Tafeln am Ende des Buches, dort gibt es auch eine Darstellung zur Geschlechtsidentität [auf Tafel 7]. Die Entwicklung verläuft danach von niedrig zu hoch:
- von morphogenetischen Gegebenheiten
- zu undifferenziert
- zu einer differenzierten Identität des Basisgeschlechts
- zu einer Geschlechtskonventionalität
- weiter zu den Normen des Geschlechts
- zu einer transdifferenzierten Geschlechtsandrogynität
- hin zu einer tantrischen Vereinigung über das Geschlecht hinaus
Das ist nur ein sehr grober Anfang und Überblick für die Geschlechtsidentität als eine Entwicklungslinie, Kohlberg und Gilligan und andere haben darüber geschrieben. Was bei all diesen Untersuchungen herausgekommen ist, ist in etwa das, was ich eben aufgezählt habe: Zu Beginn ist die Geschlechtsidentität sehr verbunden mit dem eigenen Geschlecht. Mit dem Begriff „Sex“ werden dabei üblicherweise die biologischen Aspekte beschrieben, mit „Gender“ hingegen die kulturellen oder psychologischen Aspekte. Auf den unteren Entwicklungsebenen wie beispielsweise Rot sind die Menschen generell „Machos“, sie sind auch homo-phobisch – auf dieser Ebene gibt es gar keine Wahlmöglichkeit –, und wenn man sich zu Bernstein hin entwickelt, dann werden diese Geschlechtsunterschiede als „gottgegeben“ interpretiert. Es ist in einer derartigen Kultur für eine Frau sehr schwierig feministisch zu sein, das verträgt sich kaum mit traditionellen Werten. Das heißt, auch wenn man sich nach wie vor in einem biologischen Körper befindet und die entsprechenden hormonellen Signale (Östrogen oder Testosteron usw.) empfängt, dann betrifft das nur den oberen rechten Quadranten, und nicht die anderen drei Quadranten. Einer der Gründe, warum Feministinnen sehr aufgebracht reagieren, wenn man über biologische Unterschiede spricht, hängt mit dem zusammen, worüber wir vorhin gesprochen haben: Jeder Unterschied, den man macht, kann als eine Rangunterscheidung verwendet werden, die – wie wir hinzufügen würden – von Menschen auf den unteren Entwicklungsebenen gemacht werden. Liberale [liberals] haben versucht, das zu beenden, in dem Versuch alle Rangunterscheidungen loszuwerden und alle Geschlechtsunterschiede zwischen Männer und Frauen zu leugnen und sie alle als kulturell konstruiert zu bezeichnen. Man glaubte damit, die Unterdrückung stoppen zu können, doch das funktioniert so nicht. Integraler Feminismus jedoch spricht über biologische Unterschiede, und zwar einfach deshalb, weil es sie gibt, weil sie real sind und weil manche von ihnen auch universell sind … Janet Chafez leistet eine wundervolle Arbeit, indem sie diese biologischen Gegebenheiten anerkennt. Sie spricht von sozialen Systemen, welche diese Unterschiede modifizieren, das ist der untere rechte Quadrant. Ich halte sie für genial, sie ist meine Lieblingsautorin, wenn es um feministische Themen geht. Sie arbeitet mit dem oberen rechten und dem unteren rechten Quadranten, es ist fantastisch. Doch wir fügen noch den oberen linken und den unteren linken Quadranten hinzu. Wie sagen, dass soziale Systeme wiederum von kulturellen Systemen beeinflusst werden, und jemand kann ein kulturelles System durch sein eigenes Bewusstseins (oben links) verändern. Wir verwenden also alle vier Quadranten, und wir haben keine Angst vor universellen Gegebenheiten in diesen Quadranten, weil wir immer noch die jeweils anderen Quadranten haben um zu korrigieren. Es handelt sich also um einen sehr viel besseren Weg, um feministische Themen zu behandeln. Die Leugnung der Unterschiede zwischen Männern und Frauen hingegen führt einen nirgendwo hin. Was daran jedoch für unser Thema hier bedeutet ist, dass wenn man sich auf einer bernstein Entwicklungsebene befindet – mythische Gruppenzugehörigkeit, das blaue vMem –, dann hat man es mit einer sehr konformistischen und absolutistischen Struktur zu tun. Das ist im Vergleich zu Rot ein gewaltiger Fortschritt, das muss man dabei immer berücksichtigen. Rot wird auf diese Weise begrenzt. Wir schauen heute darauf zurück und sagen, „das Abhacken einer Hand, nur weil jemand etwas gestohlen hat, ist ein Horror“, aber es ist für die bernstein Ebene angemessen, vor dem Hintergrund von Rot. Wenn man z. B. homosexuell geboren wird und sich dann als ein Mann biologisch von anderen Männer angezogen fühlt – diesbezüglich hat man keine Wahl –, dann sagt einem der eigene Körper, dass man Männer liebt, die eigene Kultur sagt einem jedoch, dass man dafür für immer in der Hölle schmoren wird. Sehr wahrscheinlich wird man das auch glauben, man hat es im eigenen Bewusstsein (oberen linkere Quadrant) internalisiert. Das ist entsetzlich. Doch – noch einmal –, wenn man das insgesamt betrachtet, dann ist das der Preis für die Stabilität, die Bernstein in eine rote und brutale Welt einbringt. Mit der Entwicklung hin zu Orange jedoch, einer universellen Struktur, ist das erste, was man macht, die Vorstellungen von Bernstein hinter sich zu lassen. Die traditionellen Werte werden hinterfragt, man glaubt nicht mehr an die wortwörtliche Wahrheit der Bibel, plötzlich findet man sich in einem „Raum“ wieder, in welchem die körperlichen Impulse gehört werden können, was immer sie einem auch sagen. Der obere linke Quadrant beginnt sich zu befreien, eine Freiheit, die es bisher nicht gab. Das ist die Großartigkeit von Orange. Grün hat diese Freiheit noch erweitert. Mit jedem Schritt bewegt man sich dabei ein Stück weiter weg von der (biologischen) Natur. Je mehr man diesen Abstand bekommt, desto größer wird auch der Abstand zu den biologischen Gegebenheiten, und um so weniger wird die Geschlechtsidentität vom eigenen Geschlecht bestimmt. Was das bedeutet ist, dass – und das zeigen uns die Studien darüber – das Verhalten immer weniger stereotyp und immer mehr androgyn wird. Das verwirrt viele Leute, weil sie glauben, dass androgyn so etwas wie eine egalisierte und blutarme Sexualität bedeutet. Was jedoch tatsächlich passieren kann ist, dass Männer auf eine maskuline Weise aggressiver werden, genau aus dem Grund, weil sie das Maskuline transzendiert haben. Sie sind nicht mehr gewissermaßen eingebettet in männliche Sexualität und können so richtig Gas geben. Manchmal fühlen sie sich sogar wohler in ihrer Männlichkeit, und können diese besser zum Ausdruck bringen. Die Aussage, dass jemand Geschlechtlichkeit transzendiert hat und mehr androgyn ist, bedeutet nicht, dass er oder sie farblos, bleich und anämisch wird … Doch man transzendiert die Geschlechtlichkeit, und wenn man sich zu 3rd Tier entwickelt, ist die eigene Identität nicht mehr körperlich orientiert, sie ist auch nicht mehr auf eine persönliche Identität hin orientiert, auch wenn sie in beidem voll verankert ist. Die eigene Identität umfasst buchstäblich alles, was erscheint, von Augenblick zu Augenblick, und der eigene Körper ist das Gewebe dieses EINEN, dieses Einen Geschmacks, welcher einzig IST, von Augenblick zu Augenblick. Man befindet sich nicht mehr auf der einen Seite seines Gesichtes und schaut auf die Welt „dort draußen“. Es gibt nur noch DAS, und das ist nicht dort draußen und auch nicht hier drinnen. Etwas fällt von einem ab. Meine Lieblingsbeschreibung dafür, die ich zuerst überhaupt nicht verstanden habe, ist der Satz von Trungpa, „der Himmel verwandelt sich in einen großen blauen Pfannkuchen und fällt auf deinen Kopf.“ Was er damit meinte war, dass es keine Trennung mehr gibt zwischen dir und dem Himmel. Du schmeckst den Himmel wie einen Pfannkuchen an der Stelle, wo sich dein Kopf befand. Geschlecht ist dann kein Thema mehr. Befindet man sich jedoch in seinem relativen Selbst – nicht im absoluten Selbst –, dann ist man in Begegnung und Interaktion, so wie wir jetzt. Und da ist man nach wie vor ein verkörperter Mensch.
Das ist in etwa eine Kurzfassung der Geschichte von Geschlecht und Gender – es beginnt damit, dass Gender zuerst in Sexualität eingebettet ist, dann differenzieren sich Sex und Gender und man beginnt Sexualität zu transzendieren, und dann kann man die Genderidentität transzendieren. Das entspricht in etwa 1st, 2nd und 3rd Tier. 1st Tier ist Sex, 2nd Tier ist Gender, und 3rd Tier ist trans-Gender.
(Quelle: IntegralNaked)
(aus: Online-Journal Nr. 8)