Ethik

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Ken Wilber

Auszüge aus einem Ken Wilber Vortrag auf www.integralnaked : Ethik und Erleuchtung, zusammengestellt von Michael Habecker

„Ethisches Verhalten wird dich nicht zur Erleuchtung bringen. Dafür gibt es einen ganz einfachen Grund: ethisches Verhalten ist dualistisch. Es verlangt von dir, dieses zu tun und jenes zu unterlassen. Verhalte dich gut – und nicht schlecht, praktiziere dies – und nicht jenes – und das sperrt dich in eine dualistische Weltsicht ein. Die Traditionen verwenden oft eine Analogie, welche allgemein besagt, dass Erleuchtung – oder satori – das Erwachen aus einem Traum ist. Ethik sorgt dafür, dass aus dem Traum kein Albtraum wird: Mit Ethik kann man ein relativ glückliches und gesundes Leben in der Traumwelt leben. Und das lohnt sich! [Lachen].

Keine noch so großen Aktivitäten im zeitlichen Bereich werden dich jedoch zur Zeitlosigkeit erwachen lassen, das ist das Paradoxon. Die absolute Verwirklichung, der erleuchtete Geist – ist etwas, dessen du dir hier und jetzt bereits bewusst bist. Es ist buchstäblich der Zustand, den du jetzt hast, dasjenige in dir, was jetzt meine Stimme hört, diesen Raum sieht, und alles das erkennt, was in deinem Bewusstsein erscheint. Es gibt jedoch keinen Weg zu dem, dessen du dir hier und jetzt voll bewusst bist. Warum willst du einen Weg, um dorthin zu gelangen, wo du dich jetzt gerade befindest? [Lachen] Einige von euch glauben mir das nicht. [Lachen].

Es gibt im Buddhismus z.B. die Unterscheidung zwischen dem – wie man es nennt –  relativen bodhichitta und dem absoluten bodhichitta. Bodhi bedeutet Erleuchtung oder Erwachen, chitta meint so etwas wie Bewusstsein. Bodhichitta wird meist übersetzt mit ‚Erleuchtung‘, oder dem erwachten Herzen oder erwachten Geist. Relatives bodhichitta meint Mitgefühl, absolutes bodhichitta ist Leere. Der relative Weg ist daher der Weg der Ethik. Dies ist eine Voraussetzung dafür, in der Lage zu sein, erfolgreich die allgegenwärtige Erkenntnis des absoluten bodhichitta zu halten. Du kannst eine satori- Erfahrung haben, wenn du jedoch über keine Struktur verfügst, um diese Erfahrung zu halten, wird sie dir entgleiten. Und diese Struktur ist Ethik.

Ethik ist der Behälter, in dem dein erleuchteter Geist zu dir kommt. Solange man keine stabile Struktur hat, um dies im relativen Bereich zu halten, wirst man nur kurz erkennen, und es wird einem wieder entgleiten, immer wieder. Wir können also über Ethik als eine dualistische Handlung sprechen, welche das Erkennen des Nichtdualen wahrscheinlicher macht. Und wenn das geschieht, dann kann es gehalten werden, so dass einem dieser allgegenwärtige Zustand nicht mehr entgleitet.

  1. Ethisches Verhalten bedeutet somit einfach, gesund zu leben, auf welcher Ebene oder Stufe man sich auch immer befinden mag. Es ist ein Weg, zufrieden in dem Traum zu sein, den man hat, auf derjenigen Stufe der Bewusstheit, auf der man sich gerade befindet. Dies ist eine relative Zufriedenheit, das macht die Dinge auf dieser bestimmten Entwicklungsstufe so angenehm wie möglich, und das ist eine ganze Menge. Die horizontale Umsetzung [Translation] wird unterstützt, auf welcher Stufe auch immer.
  2. zwingen dich ethische oder moralische Betrachtungen dazu, die Perspektive von anderen einzunehmen, und jedes Mal, wenn du die Perspektive eines anderen Menschen einnimmst, öffnet dich das für die Transformation. Das ist etwas Grundlegendes. Ethik führt dich aus deiner gegenwärtigen Wahrnehmung heraus, und unterstützt Transformation. Ethisches Handeln hilft bei der Bewusstseinstransformation, und das ist sehr wichtig: Die Transformation hin zur nächst höheren Stufe innerhalb des Traums.
  3. ist Ethik ein Behälter, eine Art Plattform, für die Erkenntnis des Nichtdualen, welche ständig auf dich einströmt. Je höher die Stufe der Entwicklung, auf der du dich befindest, desto schwieriger wird es, dasjenige zu leugnen, was du bereits weißt. Darum geht es bei Entwicklung. Es wird immer schwieriger für dich, die Erkenntnis nicht zuzulassen, dass du bereits vollständig erleuchtet bist. Die Vorwände und Verstellungen fallen mehr und mehr von dir ab, je mehr du dich zu den höheren Stufen hin entwickelst. Lassen wir uns dabei nicht von der Tatsache verwirren, dass die meisten dieser ethischen Praktiken, die wir tun, dualistisch sind: „Tue dies, unterlasse jenes, praktiziere auf diese Art, vermeide jenes“ – all das ist dualistisch, und es hält einen in gewisser Weise im Traum fest, im Bereich von samsara , aber dieser Traum wird dabei zunehmend transparenter. Nichts davon wird jedoch Erleuchtung verursachen, weil Erleuchtung keinen Anfang in der Zeit hat….. „

„…Wir wollen (hier am Integralen Institut) nicht eine Vorstellung fördern, dass das Ausüben einer bestimmten Praxis zur Erleuchtung führt. Eine derartige Vorstellung bestärkt lediglich den suchenden Geist, verstärkt die Vorstellung, dass dein Ego etwas tun kann, und Gott veranlassen kann, dir zu antworten [Lachen]. Das funktioniert nicht! Was eine Praxis bewirken kann, ist, dir ein Feuer unterm Hintern anzuzünden und Raum zu schaffen – [Lachen] – sodass Gott die Möglichkeit hat einzutreten, wenn du gerade mal nicht aufpasst. [Lachen]

Shankara und viele andere Weisen haben dies immer wieder wiederholt: Alles das, was einen Anfang in der Zeit hat, ist nicht wirklich. Ich spreche jetzt aus der Perspektive des Absoluten: Es gibt also etwas in deinem Bewusstsein – hier und jetzt, und es gibt nur Eines in diesem Bewusstsein, was niemals einen Anfang hatte – darüber sprechen wir gleich. Anderes tritt in dein Bewusstsein ein, verweilt dort eine Zeit, und verschwindet wieder. Eine Erfahrung kommt, hat einen Anfang in der Zeit, bleibt eine Zeit, und verschwindet. Es kann sich um eine großartige Erfahrung handeln, Licht, Seligkeit, und — sie bleibt, und sie geht wieder. Das kann eine entsetzliche Erfahrung sein: Sie kommt, bleibt erheblich länger [Lachen], und verschwindet dennoch. All das hat einen Anfang in der Zeit, all das ist relativ, und ein Teil der manifesten Welt.

…Alles das kommt und geht innerhalb deiner allgegenwärtig gefühlten Bewusstheit. Das einzige, was sich nicht ändert, ist das, was du zutiefst das ICH BIN nennst, das ist das Einzige, von dem du jemals eine konstante Erfahrung hattest. Du kannst dich an letzte Woche erinnern, du kannst dich an Einzelheiten erinnern als Objekte in deinem Bewusstsein, aber du warst da: Es gibt diese ICH BIN-heit, dieses immer gegenwärtige, radikale Selbst, als deinen wahren Zustand. Dies tritt nicht ins Sein, es tritt an keinem Punkt in dein Bewusstsein ein. Es ist das Einzige, dessen du dir seit Jahrmilliarden bewusst bist: Dies ist dein grundlegender, immer- gegenwärtiger Zustand dieses ICH BIN.

Ethik wiederum glättet die Welt der Objekte und vermindert ihre Probleme -, man muss sich ihnen nicht mehr ständig zuwenden und dadurch wird es wahrscheinlicher, dass man den allgegenwärtigen Zustand des ICH BIN als den eigentlichen Zustand erkennt. Wenn dies geschieht, dann muss es immer noch im Bereich der Manifestation ausgedrückt werden und ethisches Handeln ist die höchste Form dieses Ausdrucks im manifesten Bereich.“

Nochmals: Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass Ethik ein Behälter für die Arten von höherer Verwirklichung ist, die auftreten können. Dies ist speziell vor dem Hintergrund von dem wichtig, was in den vergangenen 10, 20 oder 30 Jahren (hier im Westen) geschehen ist, wo wir einem Missverständnis erlegen sind, was „Sei hier und jetzt“ bedeutet. Oder „Jenseits von Gut und Böse“ und „Verrückte Weisheit“ (‚crazy wisdom‘). Denn dadurch ist der Eindruck entstanden, dass Erleuchtung jenseits von Ethikist. Und in gewisser Weise stimmt das auch: man muss nicht ethisch handeln. Aber auch nicht-ethisches Handeln ist immer noch dualistisch, und damit ist es jenseits von Nirgendwo; es ist lediglich ein fotografisches Negativ von ethischem Handeln.

Das fotografische Negativ von ethischem Handeln bedeutet, ein Arschloch zu sein – die Vorstellung also, es genüge, ein egozentrischer Trottel zu sein und zu tun und zu lassen, was man will, um absolutes bodhichitta zu erlangen… Jedoch: Das wäre nur ein fotografischen Negativ von relativem bodhichitta: Unethisches Verhalten bringt dich nicht zur Erleuchtung, es führt dich in einen Albtraum einen sehr unglücklichen Traum. Die Vorstellung von ‚crazy wisdom‘ führt uns zu der schlimmsten aller Welten.

Nebenbei bemerkt, es gibt im Osten keine Tradition von ‚crazy wisdom‘! Dies wurde von drei amerikanischen Lehrern erfunden, betrunken und von Frauen besessen [Lachen], um ihr Verhalten zu rationalisieren. Ich mag diese Leute, einige von ihnen sind übrigens liebe Freunde von mir [Lachen], aber wir müssen sehr, sehr vorsichtig bei der Rationalisierung unserer egoistischen Impulse sein, so als wären diese trans-egoisch. Absolutes bodhichitta ist absolut, es ist nicht jenseits von Gut und Böse. Und es ist auch jenseits davon, man kann es nicht definieren, auf keine dualistische Art und Weise.“

…“Geht man jedoch auf eine ethische Art und Weise mit Objekten um, dann werden sie so gesund und handhabbar wie eben möglich. Die Dinge wenden sich – so weit wie möglich zum Guten und das entspannt das verzweifelte Festhalten an diesen vorübergehenden Objekten. Vielleicht lange genug, um das ICH BIN zu erkennen. Dies ist ein weiterer Grund dafür, warum ethisches Verhalten eine ganz entscheidende Komponente einer soliden Verwirklichung ist. Die Traditionen ganz im Gegensatz zu so etwas wie ‚crazy wisdom‘ stimmen weitgehend darin überein: Es gibt drei Grundpfeiler eines erwachten oder erleuchteten Lebens: Moral, Meditation, Erwachen. Und die Grundlage dessen ist moralisches oder ethisches Verhalten.“

Der Kosmos als erotische Börse

Man kann Ethik im Hinblick auf die konkrete manifeste Welt sehr einfach betrachten und zwar: Ethik ist Verhalten, welches Eros folgt. Mit der Entfaltung des Universums, der Evolution, gibt es einen angelegten Samen, ein Muster, eine Richtung des Kosmos. Und diese Richtung, dieses Ausgerichtet sein, ist eine evolutionäre Entfaltung. Wie die Maserung von Holz z.b. als Charakteristikum und so gibt es auch eine kosmische Maserung, eine Ausgerichtetheit des Universums, welches sich entfaltet.

Dieses Auf-etwas-hin- angelegt-Sein, wie in einem Samen, ist Eros, der zu immer höherer Einheit hinstrebt, zu immer größerer Sehnsucht, zu immer größer Liebe, Umarmung, Mitgefühl, Fürsorge und so weiter. Das ist keine einfache Einbahnstraße, es geht hinauf und hinunter dabei, mit vielen Windungen, aber in einer sehr langfristigen Betrachtung steigen die Aktien des Kosmos, und diese Tendenz wird mit Eros bezeichnet.

Handlungen, die dieser Tendenz folgen, werden als ethische Handlungen bezeichnet. Ethik ist die Art und Weise, wie wir miteinander interagieren, um den Tendenzen des Kosmos zu folgen. Folgt man diesen Tendenzen nicht und das ist eine Wahlmöglichkeit, die jeder hat -, dann erhält man verbrannte Erde. Daher ist unethisches Verhalten immer leidvolles Verhalten. Ethisches Verhalten ist mit den Worten von Roger [Walsh] „Sich durch gutes Handeln gut zu fühlen“.

…“Unethisches Verhalten reibt sich mit Eros, und das führt zu verbrannter Erde, zu wirklichem und tiefgehendem Leiden der Seele. Wenn man das wiederholt tut, wird man krank. Und das ist die Wahl, die wir alle haben, und das ist der Unterschied zwischen einem schönen Traum und einem Albtraum. Folgt man der Tendenz des Kosmos, so folgt man dem Eros zu immer weiteren Kreisen von Fürsorge, Mitgefühl, Umarmung und Bewusstheit.“

„..Eine stufenweise Zunahme der ethischen Entfaltung lässt uns immer bewusster werden plötzlich beginnen wir beispielsweise, luzide zu träumen. Luzides Träumen bedeutet in einem engeren Sinn, dass man als ein Individuum sich nachts schlafen legt und träumt, und plötzlich ist man sich bewusst, dass man träumt. Es ist der Beginn von Bewusstheit in etwas, was bis dahin unbewusst ablief. Doch dann beginnt auch dieser Traum plötzlich luzide und transparent zu werden: Alles was hier und jetzt erscheint, beginnt die gleiche leuchtende Transparenz eines luziden Traums zu bekommen. Es dämmert einem, dass es nicht nur die massive und unnachgiebige Materie da draußen gibt, die einen anstarrt, fremdartig und getrennt von einem selbst, sondern, dass es sich um einen leuchtenden Tanz der eigenen Bewusstheit handelt, eine Verzierung des eigenen ICH BIN, ein Funkeln im Auge der eigenen Seele. Es ist genau dasjenige, was du selbst erschaffen hast, um dies zu tun. Wir, die wir hier sind, sind so etwas wie sich gegenseitig überlappende ICH-BIN-heiten, eine sangha, und wir helfen einander dabei, uns an den Autor dieser außerordentlichen Party zu erinnern, und wir tun dies durch ethische Interaktionen.“


Quelle: AK-Ken Wilber Rundbrief 21, 2005

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