Die Integrale Postmetaphysik von Ken Wilber
Dennis Wittrock
„Was ist das Problem von Religion und Spiritualität in einer post/ modernen Welt?“
Das ist wohl die Leitfrage, die Ken Wilber in seinen jüngeren Werken der Phase 5 beschäftigt hat, so z.B. in den vorab veröffentlichten Exzerpten aus dem zweiten Teil der Kosmos-Trilogie (Arbeitstitel: „Cosmic Carma and Creativity“) und dem Buch „Integrale Spiritualität“. Die Antwort, die er gibt, ist komplex und vielschichtig.
Eine zentrale Schwierigkeit ist, dass eine mögliche Ausdrucksform in der Linie der spirituellen Intelligenz, nämlich der Ausdruck dieser Linie auf dem mythischen Entwicklungsniveau, im Mainstream gemeinhin als repräsentativ für Religion und Spiritualität im Ganzen interpretiert wird. Das nennt Wilber auch „Ebenen-Linien-Verwechslung“, weil hier eine Ebene mit einer gesamten Linie (die immer mehrere Ebenen hat) in einen Topf geworfen wird. Wie ist es soweit gekommen?
Wilber zufolge haben die Traditionen im Kontext der Post/Moderne im Wesentlichen ein massives PR-Problem. Sie sind intellektuell nicht mehr auf dem Stand der Zeit.
Probleme in der Moderne
Wilber analysiert in „Integrale Spiritualität“, dass im Zuge der Aufklärung das spirituelle Kind mit dem religiösen Bade ausgeschüttet wurde. Kirchlichen Repressalien und religiösen Dogmen wurden durch die emergierende Rationalität mit ihrer wissenschaftlich-kritischen Methode und ihren weltzentrischen Idealen der Garaus gemacht. Als die neue Bewusstseinsstruktur (rational statt mythisch) kulturell mehr und mehr zum Schwerpunkt der Weltdeutung und des Wirklichkeitserlebens avancierte, ging das philosophisch einher mit der graduellen Verabschiedung der ehemals ehrwürdigen Tradition der Metaphysik und der Spekulation. Diese beschäftigen sich (als Ausdruck der Linie der spirituellen Intelligenz) mit den „letzten Dingen“, d.h. mit Gegenständen wie „Gott“, „Seele“, „letzter Sinn“, „höchstes Ziel“, „Ebenen des Seins“ (z.B. in Form der von Huston Smith beschriebenen „Großen Kette des Seins“) – kurzum mit der uralten Frage: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, und was tun wir, um zwischendrin möglichst sinnvoll die Zeit totzuschlagen? Die Philosophen, allen voran Kant, wollten das weiterhin tun, doch fortan „innerhalb der Grenzen der Vernunft“, was bedeutete, dass man bei Aussagen über Entitäten (Seiende) damit rechnen musste, zurückgefragt zu werden, auf welchen Daten denn solche metaphysischen Spekulationen, z.B. über die Hierarchie der Engel oder Seelenwanderung, basieren. Der Maßstab für legitime Aussagen hatte sich verschoben von „entspricht dem herrschenden Dogma/Glauben“ hin zu „ist rational nachprüfbar mit den Mitteln der Wissenschaft und Vernunft“. Solide Wissenschaft arbeitet Wilber zufolge nach den „drei Strängen der Erkenntnis“:
- Injunktion/experimentelle Anweisung
- Durchführung des Experimentes/Daten sammeln
- Verifikation/Falsifikation – Abgleich im Kreise derjenigen, die ebenfalls das Experiment durchgeführt haben.
Wer Aussagen über die Wirklichkeit „raushaut“ und keinen gangbaren Weg im obigen Sinnemitliefert, um die Aussage zu rekonstruieren, der fliegt unterhalb der Höhe der intellektuellen Standards der Moderne und der Ratio. Nur rekonstruktive Erkenntnis ist solide Erkenntnis. Nach diesem Maßstab fällt Religion in der Moderne schlichtweg durch.
Nur rekonstruktive Erkenntnis ist solide Erkenntnis.
Probleme in der Postmoderne
Aber auch nach den Standards postmoderner Philosophie hat Religion einen schweren Stand. Ein Geschenk der Postmoderne ist die erstmalige Wahrnehmung der Diversität kultureller Ausdrucksformen – ihre beeindruckende Vielfalt, aber auch ihre scheinbare Beliebigkeit. Ergo: Jede Kultur „baut sich die Welt, wie sie ihr gefällt“. Somit sind auch religiöse Sinnsysteme lediglich ein Subset kultureller Konstruktion von Wirklichkeit. Die Waffe, die die Postmoderne gegen die moderne Wissenschaft gerichtet hat, nämlich den Vorwurf, dass sie durch ihre Blindheit gegenüber dem Einfluss intersubjektiver Muster (der Wir-Quadrant, unten links) dem „Mythos des Gegebenen“ aufsitze, richtet sie nun auch gegen die religiösen Weisheitstraditionen (mal ganz abgesehen davon, dass diese Traditionen voll von „patriarchalischen, sexistischen Mistkerlen“ sind). Nein, die Welt ist uns nicht einfach unvermittelt „gegeben“, sondern eben vermittelt – verzerrt durch kulturell konstruierte Brillen: bestehende Diskurse, Machtstrukturen, Rollenbilder, vorherrschende Episteme und Paradigmen. Schaut man sich diese intersubjektiven Muster über längere Zeit an, stellt man fest, dass sie munter fluktuieren und kommt zu der postmodernen Überzeugung: Alles ist relativ und sozial konstruiert und absolute Aussagen darüber, „wie es ist“ – sei es nun durch Wissenschaft oder durch Religion – sind vollkommen naiv und deren Vertreter sitzen dem „Mythos des Gegebenen“ auf. Auch nach intellektuellen Maßstäben der Postmoderne sind die alten Religionen und Weisheitstraditionen also nur milde zu belächeln.
Integrale Postmetaphysik: eine neue Verpackung für das Geschenk
Wie wir wissen, haben die großen Weisheitstraditionen nicht nur magischen Aberglauben, unrealistische Mythen, verbohrte Dogmen, überkommene Moralvorstellungen, Sexismus, Fanatismus und gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen im Angebot, sondern hin und wieder auch authentische Berichte über das Einssein mit Gott bzw. dem Höchsten, die Botschaft der Liebe, des unendlichen Mitgefühls, tiefen Seelenfrieden, Seligkeit und das Empfinden des Einklangs mit dem Kosmos. Wieso können sie das nicht an den Mann und an die Frau bringen?
Wilber zufolge haben die Traditionen im Kontext der Post/Moderne im Wesentlichen ein massives PR-Problem. Sie sind intellektuell nicht mehr auf dem Stand der Zeit. An der künstlichen Wasserscheide zwischen Religion (Mythos) und Wissenschaft (Ratio) verabschieden intelligente Menschen im Zweifelsfall lieber ihre religiösen Gefühle und Überzeugungen, und religiöse Menschen verabschieden umgekehrt lieber ihre rationalen Intuitionen. Die Linie der spirituellen Intelligenz stößt oberhalb der mythischen Ebene in der westlichen Welt an eine kulturelle Zimmerdecke. Wer rational sein will, muss seinen Glauben verabschieden. Das muss Wilber zufolge nicht sein. Es gibt fast in jeder Tradition Beispiele für Ausdrucksformen spiritueller Intelligenz auch auf der rationalen, der pluralistischen und der integralen Entwicklungshöhe und darüber. Das skizziert er mit der Förderband-These in „Integrale Spiritualität“: Die Traditionen könnten durch Angebote für alle diese Ebenen ein globales Förderband der Bewusstseinsevolution werden.
Wilbers philosophischer Ansatz einer integralen Post-Metaphysik ist ein Vorschlag zur Behebung des PR-Problems von Religion/Spiritualität, basierend auf der AQAL-Matrix, die er entwickelt hat. Zuerst adressiert er die Kritik der Moderne. Schon in seinem Buch „Naturwissenschaft und Religion – Die Versöhnung von Wissen und Weisheit“ schlägt er vor, diejenige Form von Religion außen vor zu lassen, die nicht auf Praxis, sondern auf Dogma basiert, was einen Großteil der Religion heute beinhaltet.
Er zeigt, dass der praxisbasierte – zumeist mystische – Teil von Religion (mit Praktiken wie z.B. Yoga, Meditation und Kontemplation) durchaus sehr kompatibel ist mit den oben beschriebenen drei Strängen solider wissenschaftlicher Erkenntnis (vorausgesetzt man akzeptiert die Existenz von Innerlichkeit, wie es Geisteswissenschaften, die den Namen verdienen, tun). Mit den Praktiken kann man phänomenologisch das gesamte Spektrum des Bewusstseins generieren und somit rekonstruktiver Forschung zugänglich machen.
Die Linie der spirituellen Intelligenz stößt oberhalb der mythischen Ebene in der westlichen Welt an eine kulturelle Zimmerdecke.
Im nächsten Schritt wird auch die Kritik der Postmoderne entkräftet: Die tradierten Deutungsschemata der Religionen müssen hierbei nicht übernommen werden, sondern können eingeklammert bleiben bzw. im Verlauf geprüft werden. Es wird deutlich, dass wenn man mithilfe der entsprechenden Praxis die Art von spirituellen Erfahrungen hervorbringt, von denen die Mystiker aller Zeiten berichtet haben, und dann vor diesem Hintergrund die weltanschaulichen Überzeugungen, Erkenntnisse und technischen Möglichkeiten der Prä-Moderne als Rahmenbedingungen in allen Quadranten einsetzt, daraus metaphysische Modelle wie die „Kette des Seins“ mit ihrer Hierarchie von Körper – Emotionen – Geist – Seele – Gott rekonstruieren kann. Spirituelle Erfahrungen und ihre Deutung werden nicht mehr naiv als für alle gleichermaßen „gegeben“ angenommen, sondern als durch alle Quadranten (auch UL) kon-struiert, also mitgestaltet verstanden. Die Bedeutung einer Aussage lässt sich in der Integralen Postmetaphysik anhand ihrer „kosmischen Adresse“ durch Angabe ihrer jeweiligen Entwicklungshöhe, Quadrantenperspektive, des Zustandes etc. genau spezifizieren und dadurch rekonstruierbar machen. Wilber zufolge sind alle Aussagen, die ohne eine solche Rekonstruktionsmöglichkeit der ursprünglichen Erfahrung daherkommen, eigentlich Aussagen ohne Beweise bzw. metaphysischer Natur. Wilber zeigt damit einen Weg auf, wie Religion aus der intellektuellen Sackgasse entkommen und sich von metaphysischem Ballast befreien kann.
(aus: IP 19, Juli 2011)