Michael Habecker
Von den vielen Möglichkeiten, sich dem Thema zu nähern, wähle ich den Weg der Fragestellung, was spirituelle Erfahrungen sind, ob sie existieren, und wenn ja, wie man sie feststellen und wissenschaftlich untersuchen kann.
Vorab gilt es, drei Hürden zu nehmen, die sich einer Diskussion entgegenstellen. Die erste ist vom Materialismus aufgestellt, die zweite wird aus einer postmodernen, konstruktivistischen wissenschaftlichen Perspektive her errichtet und die dritte wird manchmal von spirituellen Lehrern als Einwand verwendet.
Hürde 1: Die Untersuchung von „Geistigem“ oder „Spirituellem“ ist doch keine Wissenschaft.
Hier scheiden sich buchstäblich die Geister. Ist nur Materie wirklich wirklich, und baut alles andere darauf auf und leitet sich daraus ab, oder hat das Geistige oder Innerliche eine eigene Wirklichkeitsdimension? Die deutsche Sprache unterscheidet zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Erstere untersucht das Äußerliche von Wirklichkeit und letztere das Innerliche, und beides hängt zusammen, ist jedoch nicht aufeinander reduzierbar. Ken Wilber hat schon früh auf „drei Stränge der Erkenntnis“ hingewiesen, die sowohl für geistes- wie auch für naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung zutreffen:
Strang 1: Injunktion
Strang 2: Praxis und Durchführung
Strang 3: gemeinschaftliche Verifikation/Falsifikation
Injunktion bedeutet, dass Erkenntnisse nicht einfach so herumliegen, sondern durch bestimmte Praktiken, Anweisungen, Experimente und Vorgehensweisen gefunden werden bzw. sich zeigen. Will man dieses wissen, dann muss man jenes tun – das „Kochrezept“: eine objektive Messung, ein intersubjektiver, hermeneutischer Austausch, ein meditatives Eintauchen in die eigene Subjektivität.
Praxis bedeutet die tatsächliche Ausführung einer Injunktion. Man muss eine bestimmte Praxis auch tatsächlich ausführen. Diese Praxis erst führt zu Erfahrungen, Erkenntnissen, Einsichten und Daten im weitesten Sinn. Mit dem dritten Schritt einer gemeinschaftlichen Überprüfung erfolgt die Bewegung vom Ich zum Wir: Ich habe die Praxis durchgeführt und subjektive Erfahrungen gemacht – aber stimmen diese Erfahrungen? Um das herauszufinden und meine Erkenntnisse auf eine breitere Basis zu stellen, vergleiche ich meine Ergebnisse mit den Ergebnissen derjenigen, die – das ist entscheidend – sich einer vergleichbaren Praxis unterzogen haben.
Hürde 2: Gibt es „unmittelbare spirituelle Erfahrungen“ überhaupt, oder sind diese lediglich vermittelt und kulturell konstruiert?
In einer längeren Fußnote in Wilbers Buch Eros, Kosmos, Logos (S. 675) geht dieser der Frage der „unmittelbaren Erfahrungen“ nach.
„[Es wird die Behauptung aufgestellt], dass es „keine reine, das heißt unvermittelte Erfahrung“ gibt und es daher keine kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten mystischer Erfahrung geben kann: Mystische Erfahrung ist durch die jeweilige Kultur und das jeweilige Glaubenssystem geprägt, und da alle Kulturen und Glaubenssysteme verschieden sind, sind auch die mystischen Erfahrungen verschieden; damit wird zugleich die Behauptung zurückgewiesen, es gebe so etwas wie universell gültige mystische Erkenntnis.“
Wenn dem so wäre, würde sich auch jegliche wissenschaftliche Herangehensweise erübrigen, denn was sich nicht allgemein feststellen lässt, kann auch nicht Gegenstand von Wissenschaft sein.
Wilber argumentiert:
„Zunächst einmal stellt schon die Entgegensetzung von Erfahrung und Konstruktion einen Denkfehler dar. Es ist keineswegs so, dass wir hier die Erfahrung und dort die kontextuelle Überarbeitung hätten. Vielmehr ist jede Erfahrung, auch eine simple Sinneserfahrung, immer schon ein Kontext … So ist also alles vermittelter Kontext, und doch gibt es hier unmittelbare Berührung, unmittelbaren Kontakt mit den Gegebenheiten der Erfahrung (auch wenn diese selbst ihrer Natur nach etwas Vermitteltes sind). Ohne Unmittelbarkeit, ohne Berührung, wäre überhaupt keine Erfahrung möglich … Daran zeigt sich, dass die Frage nach der universalen Gültigkeit mystischer Aussagen eigentlich nur ein Sonderfall, eigentlich nur vorgeschoben ist; in Wirklichkeit geht es um die Frage des universalen Charakters unserer Alltagserfahrung.“
Danach stellen mystische Erfahrungen zwar eine besondere Klasse von Erfahrungen dar, doch sie sind nicht wesensverschieden von allen anderen Erfahrungen, die ein menschliches Bewusstsein machen kann, und sind damit ebenso wie diese, einer (geistes- und natur-) wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich.
Noch einmal Wilber:
„Natürlich sind die Deutungen der mystischen Erfahrungen in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich – doch das gilt wiederum für jede andere Art der Erfahrung,beispielsweise des Sonnenuntergangs. Und wenn unterschiedliche Deutungen der Sonnenuntergangserfahrung nichts gegen die Realität des Sonnenuntergangs selbst sagen, sollte man annehmen, das gleiches auch für den GEIST gilt. Kurzum, mystische Erfahrungen, welcher Art auch immer, sind nicht mit Problemen behaftet, die man nicht auch bei jeder beliebigen anderen Erfahrung finden könnte.“
Hürde 3: „Das lässt sich nicht kategorisieren.“
In einem Positionspapier des Integralen Forum vom Frühjahr 2010 wurde der Versuch unternommen, Kriterien für spirituelle LehrerInnen aufzustellen, um die Frage zu untersuchen, was einen spirituellen Lehrer ausmacht oder auch auszeichnet. Eines der vorgeschlagenen Kriterien dabei ist die „phänomenologische Kompetenz“, das heißt die besondere Art spiritueller Erfahrungsinhalte, die ein spiritueller Lehrer dauerhaft oder vorübergehend macht oder gemacht hat und die sie oder ihn kennzeichnen. Eine klassische Antwort auf diese Forderung von einigen der Lehrer: „Darüber kann man nicht sprechen.“ (Und das lässt sich dann auch nicht untersuchen oder feststellen, frei nach dem Motto: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen.“
Mit den Worten eines der Lehrer:
„Wir können die Radikalität des Unberechenbaren nicht kategorisieren. Dies würde dem Erwachen die Radikalität nehmen, die es braucht, um uns immer wieder an das Eine zu erinnern.“
Wenn es auch richtig ist, dass die Außenansicht spiritueller (und jeglicher) Erfahrungen (Verständnis) nicht deren Innenansicht (Verwirklichung) ersetzt, so lassen sich doch aus der Klassifikation des großen Schatzes phänomenologisch-spiritueller Erfahrungen der Menschheit wertvolle Hinweise gewinnen für das Verständnis dieser Wirklichkeitsbereiche. Und das ist es, was Wissenschaft tut und weiterhin tun muss, nicht allein um des intellektuellen Erkenntnisgewinns willen, sondern eben auch als eine Einladung zur Praxis, dasjenige, wovon man gehört oder gelesen hat, selbst zu erfahren und zu verwirklichen. Das gilt natürlich auch für spirituelle Lehrer. Jeder kann heute durch das Studium der einschlägigen spirituellen Literatur den Eindruck von Verwirklichung erwecken und so sprechen „als ob“. Die Frage nach der konkreten Beschreibung der eigenen Phänomenologie hilft dabei, diejenigen „spirituellen Lehrer“, die lediglich etwas Angelesenes wiedergeben, von denjenigen zu unterscheiden, die etwas verwirklicht haben.
Vier Perspektiven auf Spiritualität
Gehen wir davon aus, dass spirituelle Erfahrungen einen Wahrheitsgehalt haben, dann stellt sich die Frage, worin genau dieser Wahrheitsgehalt besteht und wie man ihn überprüfen kann. Dabei helfen uns die vier Quadranten weiter.
Oberer linker Quadrant: Phänomenologie und Psychologie
Spirituelle Erfahrungen werden in Ich-Sprache formuliert, als Beschreibungen von subjektiv-innerlich Erlebtem. Damit sind sie phänomenologisch erst einmal gegeben, und andere können sich, falls zu den Erfahrungen eine Praxis (wie z. B. Meditation) angegeben ist, auf den gleichen Erfahrungsweg begeben. Gleichzeitig können kulturübergreifende Vergleiche angestellt werden, mit Fragestellungen wie: Gilt diese Erfahrung nur für den Menschen, der sie hat, oder für einen bestimmten Kulturkreis, oder findet man vergleichbare Beschreibungen überall auf der Welt? Welche „spirituellen“ Worte und Beschreibungen (wie Gott, Absolutheit, Leerheit) usw. finden sich in allen Hauptsprachen der Welt und welche nicht?
Ein weiterer wesentlicher Aspekt dieser Perspektive ist die Psychologie des- oder derjenigen, welche/r die Erfahrung macht. Unsere individuelle psychologische Konstellation prägt das, was wir wahrnehmen, und daher ist die Frage nach der psychologischen Gesundheit, der persönlichen Entwicklung und der psychodynamischen Konstitution eines spirituellen Menschen nicht nur legitim, sondern zur Überprüfung des Aussagegehaltes einer spirituellen Aussage notwendig.
Oberer rechter Quadrant: Verhalten und Neurobiologie
Neben der Psyche hat auch die Physis eines Menschen einen wichtigen Einfluss auf das Bewusstsein. Der (auch spirituelle) Geist eines Menschen fiel nicht vom Himmel, sondern ist eingebettet in seine Physiologie, und auch, wie uns die Entdeckungen der Neurobiologie sagen, in die Art und Weise, wie unser Gehirn Wahrnehmung und Wirklichkeit miterzeugt. Weiterhin kann uns das Verhalten eines Menschen sichtbaren Aufschluss geben über seine Spiritualität.
Unterer linker Quadrant: Kultureller Kontext
Kein Mensch ist eine Insel, sondern existiert seit seiner Geburt in zahlreiche kulturellen und gemeinschaftlichen Kontexten. Diese Kontexte prägen den Menschen auf seinem Entwicklungsweg, und diese Prägungen hinterlassen ihre Spuren auch in den spirituellen Aussagen. Die Untersuchung und Kenntnis kultureller Hintergründe gehört daher zur Wissenschaftlichkeit der Spiritualität dazu.
Unterer rechter Quadrant: System und Gesellschaft, soziale Autopoiese
Ein weiteres, faszinierendes Thema im Hinblick auf Spiritualität ist das soziale Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind und leben, als die Außenseite unserer Kulturen, die, wie Sozialforscher schon früh entdeckt haben, einen wesentlichen Einfluss auf unser Bewusstsein nimmt, wobei uns das in den meisten Fällen unbewusst ist. Systemtheorie und soziale Autopoiese, ein auf Niklas Luhmann zurückgehender Begriff als die kollektive Bedeutungserzeugung durch Kommunikation, gehören daher mit zum wissenschaftlichen Instrumentarium der Untersuchung der Frage, was Spiritualität ist und ausmacht.
Wo stehen wir heute in der Diskussion?
Auf einer Tagung unter dem Thema „Meditation und Wissenschaft“ im November 2010 in Berlin referierten unter anderem der Philosoph Prof. Dr. Thomas Metzinger und der Religionswissenschaftler Prof. Dr. Michael von Brück zum Tagungsthema. Ihre Beiträge sind sehr zu empfehlen, man kann sie sich unter http://www.meditation-wissenschaft.org/dokumentation-kongress-2010.html#Audio_und_Video anhören und ansehen.
Neben den vielen interessanten Aspekten dieser Vorträge möchte ich drei Aspekte exemplarisch hervorheben, die für unsere Thema von Interessen sind und das oben Gesagte illustrieren.
Was versteht Thomas Metzinger unter Wissenschaft? Mein Eindruck ist, dass er darunter Naturwissenschaft versteht, also alle Erkenntnisdisziplinen, die sich (bei Wilber) mit Erkenntnissen in den rechtsseitigen Quadranten beschäftigen, einschließlich der Neurologie. Dies wird jedoch nicht so gesagt. Auf Geisteswissenschaften wie Phänomenologie (oder auch Strukturalismus und Psychodynamik), die ja eine wunderbare Brücke zu den spirituellen Erkenntnistraditionen sind, geht Metzinger mit keinem Wort explizit ein. Mehrmals betont Metzinger, dass es „keine empirischen Belege für die Existenz Gottes“ gibt, und das spricht m. E. für eine materialistische Empirie.
Weiterhin fällt mir auf, dass für Metzinger Religion = mythisch/dogmatische Religion ist. Das ist natürlich in Ordnung, aber die Zusammenführung von Religion und Entwicklungsstrukturalismus wie sie Wilber in Integrale Spiritualität macht, ist sehr viel offener und auch dem Spektrum von Religiosität angemessener (vergl. auch den Beitrag „Einige Aspekte integraler Spiritualität“ auf S. 24). Organisierte Religion hat nach Metzinger „keine intellektuelle Redlichkeit“, und er meint damit die mythische Religion. Religion ist bei Metzinger reduziert auf eine „Kultivierung eines Wahnsystems“.
Michael von Brück betont die Bedeutung von Sprache: „Die Sprache prägt unser Denken und Wahrnehmen.“ Weiter sagt er: „Ich-Bewusstsein ist ein kulturelles Konstrukt und daher einer objektivierenden Fragestellung grundsätzlich nicht zugänglich.“ Wenn Ich-Bewusstsein jedoch nur ein kulturelles Konstrukt ist, sas keinerlei Objektivierung zugänglich ist, dann können wir jegliche Geisteswissenschaft begraben, und der radikale Dekonstruktivismus und die Naturwissenschaften reichen sich an deren Grab die Hände. Dies wird jedoch von Brück im Verlauf seine Vortrages relativiert, wenn er mystische Beschreibungen gegen die reduktionistischen Tendenzen der Neurowissenschaften verteidigt. Die Diskussion zwischen Spiritualität und Wissenschaft hat begonnen, das ist die gute Nachricht. Der Geist beeinflusst die Materie, das ist die große Erkenntnis des Idealismus, aber die Materie beeinflusst auch den Geist, und hierin hat der Materialismus recht. Um zu verstehen, was Spiritualität ist, brauchen wir beide, mit Blickrichtung auf das Individuum und die Gemeinschaft. In der Durchdringung von beidem kann dann auch leichter GEIST oder Tao hervortreten, als die Absolutheit oder der Seinsgrund, vor dessen Hintergrund sowohl Materie aus auch Geist erscheinen und wahrgenommen und untersucht werden können.
(aus: Quelle: IP 19 – 07/2011)