Integrale Spiritualität, Appendix III: Der Mythos des Gegebenen – Teil 1
Interviews
Integrale Spiritualität, Appendix III: Der Mythos des Gegebenen – Teil 1
Interviews
Integral Global, Ken Wilber, Spiritualität
21 min
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Ken Wilber, aus den Telefonkonferenzen zu seinem Buch Integrale Spiritualität (2006)
(ausgewählt und übersetzt von Michael Habecker, aus A Deeper Cut)
Ein Hinweis: Zeitgleich (2006) mit der Veröffentlichung seines Buches Integral Spirituality startete Ken Wilber einen Dialog mit Lesern dieses Buches im Rahmen von Telefonkonferenzen. Die Audioaufzeichnungen dieser Dialoge wurden unter der Überschrift A Deeper Cut veröffentlicht, und beginnend mit der ersten Ausgabe (einer „Nullnummer“) des Online Journals 2007 wurden Auszüge aus diesen Dialogen in verschiedenen Ausgaben des Online Journals über die Jahre veröffentlicht. Hier nun mein (mh) abschließender Beitrag aus dieser Reihe.
Ein Reverse Engineering des Kosmos
Eine Fragestellerin berichtet von ihren Erfahrungen mit spirituellen Lehrern.
KW: Ich denke, die Art, wie wir andere sehen sollten, ist, dass wir nicht so sehr auf die Begrenzungen bei jemandem schauen, sondern auf die Stärken und Wahrheiten, die wir von jemandem lernen können. Doch woanders gibt es auch Wahrheiten, und wenn wir diese Wahrheiten zusammenbringen, erhalten wir einen vollständigeren Überblick. Das ist eine sehr positive Weise, auf Dinge zu schauen, und es ist die Weise, die mich während meiner gesamten schriftstellerischen Laufbahn leitet, wo ich Ausschau halte nach den Stärken der unterschiedlichen Traditionen und Lehrer. Was kann man vom Behaviorismus lernen? Das waren keine Trottel, die das entwickelt haben. Was kann man vom Empirizismus lernen und was von der Phänomenologie? Was können wir von der kontemplativen Phänomenologie lernen? Tut man dies alles zusammen, erhält man eine integralere Sichtweise. Tut man das nicht, dann werden einen die Bereiche, die man nicht abdeckt, auf irgendeine Weise wieder einholen. Es gibt sie in jedem Fall und es nützt nichts, wenn wir sie ignorieren und meinen, ein Weg würde alles abdecken. Das ist das, worum wir uns bemühen. Alle die [spirituellen] Lehrer bringen ihren sehr positiven Beitrag ein, und davon können wir lernen. Von Thich Nath Han können wir lernen, wie man Gegenwärtigkeit lebt oder von Eckhart Tolle oder Deepak [Chopra] und vielen anderen. Diese Menschen zeigen wunderbare Wege auf, wie man das kontemplative Bewusstsein in den gegenwärtigen Augenblick bringen kann. Doch kaum einer von ihnen weiß, wie sich [Bewußtseins]strukturen entfalten und das ist schon ein Problem. Darüber wollen wir heute sprechen.
Frage: Was du gestern gesagt hast, und was mir schon [in deinem ersten Buch] Spektrum des Bewußtseins aufgefallen ist, ist die Frage, wie die Welt beschaffen sein muss, damit alle diese Gesichtspunkte ihre Gültigkeit haben?
KW: Ja, und dies ist wirklich eine andere Art von Argumentation, eine Argumentation im positiven Sinn, bei der die eigene Sichtweise begründet wird. Sogar Zen hat Gründe, warum man Zen machen sollte, auch wenn Zen transrational angelegt ist. [Und das ist wichtig], denn wenn man zum Beispiel fragt, warum Zen Teil von Bildung und Erziehung sein sollte, dann muss man das begründen, man muss argumentieren und Beweise vorlegen. Man kann nicht einfach nur sagen: „Ich mag es, und darum sollten es alle tun.“ Argumente und Begründungen sind immer legitim, egal ob es sich um eine prä-rationale, eine rationale oder eine transrationale Disziplin handelt. Eine der Weisen, wie ich damit umgegangen bin, ist die, dass ich mich immer an Lehrern oder Autoren orientiert habe, bei denen ich annahm, dass sie eine bessere Sicht auf die Dinge haben. Menschen, die als Genies betrachtet werden, haben mich immer beeindruckt. Das bedeutet nicht, dass alles, was sie geschrieben haben, richtig ist, aber ihre Sichtweisen haben für mich mehr Gewicht als die gewöhnliche Perspektive. Das hat mich immer interessiert. So bin ich schon [im Buch] Spektrum des Bewusstseins vorgegangen, und das hat auch mit den Fragen zu tun, die wir heute hier besprechen. Auch gegenüber [Lehr]Schulen bin ich so vorgegangen. Betrachten wir eine Schule wie Psychoanalyse oder Gestalttherapie oder den Buddhismus oder kontemplatives Christentum und so weiter, dann haben wir es hier mit einer langen Tradition von hervorragenden Menschen zu tun, die oft ihr ganzes Leben der Entwicklung dieser speziellen Schule gewidmet haben, weil sie darin eine Wahrheit erkannt haben. Mein Motto war immer, dass jeder auf seine Weise recht hat, und dass es Teilwahrheiten in allen diesen Schulen gibt. Anstatt zu argumentieren, dass genau so und so der menschliche Geist beschaffen ist, stelle ich die Frage, wie der menschliche Geist vor dem Hintergrund aller existierenden psychologischen Schulen beschaffen sein muss. Das so zu betrachten ist sehr interessant, und die einfachste Antwort darauf ist, dass es verschiedene Ebene des Bewusstseins gibt, und jede der Schulen spricht jeweils eine dieser Ebene an und hat dort auch recht mit dem, was sie sagt, liegt jedoch nicht richtig, wenn sie sich mit den anderen Ebenen beschäftigt. Das war eine einfache Weise eines Reverse Engineering, um die Struktur der menschlichen Psyche herauszufinden, und zwar durch die Schulen, die sich entwickelt haben, und von denen jede einen Teil der Wahrheit hat. Das gleiche machen wir hier, wenn wir sagen, Thich Nath Han hat recht, er hat einen Teil der Wahrheit, und welche Struktur muss die menschlicher Psyche haben, damit die Wahrheit der Psychoanalyse – oder Freud – auch ihren Platz haben? Das ist eine Meta-Argumentation von einer anderen Ebene aus, und ich denke, dass wir nur auf diese Weise zu einer wirklich integralen Landkarte gelangen. Das beantwortet auch die Frage, warum man sich auch mit anderen Aspekten befassen sollte, wenn man Verwirklichung der reinen Leerheit oder Satori erlangen möchtet. Warum soll man sich dann noch um die Welt der Formen kümmern? Darauf gibt es eine Reihe von Antworten, und darüber wollen wir jetzt miteinander reden.
“New Thought”, New Age und darüber hinaus
Die Fragestellerin berichtet von ihrem katholischen Hintergrund, und Wilber erzählt von seiner Kindheit.
KW: Es gibt ein paar Dinge, die man immer wieder hört, wenn es um die Kindheit und Erziehung in katholischen Schulen geht. Die Nonnen in den katholischen Einrichtungen haben wahrscheinlich mehr für den psychotherapeutischen Markt getan als irgendjemand sonst [Lachen]. Das ist eine Schande, denn kontemplative Bildung und Erziehung sollte genau das Gegenteil davon sein. Was wir uns daher für eine ideale Welt wünschen ist, dass der Katholizismus zu seinen kontemplativen Wurzeln zurückkehrt … Das Kontemplative im Christentum, wie auch in den anderen Religionen, ist ein reiches Erbe, aus dem man schöpfen kann, und es verbindet einen mit einer Tradition, die auch ihre guten Seiten hat. Doch wenn man darauf verzichtet, dann bleibt einem nur die exoterische Seite, und dann ist man nahe an Formen von fundamentalistischer Religion. Ich bin als ein Südstaaten-Baptist aufgewachsen. Das kam von der Seite meiner Mutter, sie war eine von vier Schwestern, und ihre Mutter unterrichtete an der „sunday school“. Glücklicherweise hatte mein Vater einen ganz anderen Familienhintergrund, so dass es hier einen Ausgleich gab. Die Südstaaten-Baptisten sind diejenigen, die Bombenanschläge auf Abtreibungskliniken verüben, da geht es wirklich zur Sache. Dies ist, wenn man so will, das Herzstück der sogenannten rot-blauen Bundesstaaten [der USA].
Frage: Seit wann bist du nicht mehr in die „sunday school“ der Baptisten gegangen?
KW: Mein Vater war bei der Luftwaffe und dort gab es einen überkonfessionellen Gottesdienst, so dass ich nicht zu sehr darin eingebunden war, anders als meine Mutter und ihre Familie. Wir reisten mit der Luftwaffe herum und waren doch beinahe jeden Sonntag beim Gottesdienst. Der war protestantisch und überkonfessionell und gar nicht so schlecht. Doch die Atmosphäre war, will soll ich sagen, sie war jedenfalls nicht kontemplativ. Ich konnte etwa im Alter von acht oder neun Jahren nicht mehr daran glauben.
Frage: Manche Gelehrte geben als einen der Ursprünge der New-Age-Bewegung die Theosophie am Ende des 19ten Jahrhunderts an, gegründet von Helen Blavatsky. Ich wurde im Alter von 21 Jahren mit den Inhalten der Theosophie bekannt gemacht, in Form der Bücher von Alice (?), des Reitens auf den sieben Strahlen, der höheren Sphären der spirituellen Meister, und ich denke jetzt, dass dies ein gutes Beispiel ist für den Mythos des Gegebenen. Könntest du etwas zu dem historischen Phänomen „Theosophische Gesellschaft“ und ihrer bewegten Geschichte sagen? Und die die Entwicklung der „Christian Science“ daraus? Kann man sagen, dass wir dort schon ein Verständnis für Ebenen oder Stufen des Bewusstseins finden? Können die sieben Strahlen so etwas wie Entwicklungslinien sein? Wie sieht es mit Zustandserfahrungen dabei aus? Natürlich hat das theosophische System noch keinen konstruktivistischen Ansatz und die Dinge werden als gegeben angenommen und beschrieben. Du sprichst in deinem Buch auch über die Schüler-Lehrer-Beziehung und was dabei an Übertragung geschehen kann, und ich frage mich, welche Rolle die meditativen Zustände dabei spielen, und wie du die theosophische Bewegung aus einer AQAL-Perspektive siehst.
KW: Es ist interessant, die historische Entwicklung zu verfolgen, die einige der östlichen Traditionen und auch einige der westlichen esoterischen Traditionen [genommen haben]. Davon hört man nicht allzu viel, zumindest nicht in den angelsächsischen Ländern. In den Vereinigten Staaten gab es drei Hauptwellen, in denen die Amerikaner etwas anderes bekamen als die offiziellen Kirchenversionen. Dafür wird manchmal der Begriff einer nichtkirchlichen Bevölkerung [unchurched population] verwendet. Das ist etwas anderes als ein nichtkirchlich im Sinne von säkular sein, wo keinerlei Interesse an Religion oder Spiritualität besteht. Ich spreche dabei über Menschen, die nichtkirchlich sind und die an Spiritualität interessiert sind. Da sehe ich drei Hauptwellen, einschließlich der unserer Gegenwart. Eine erste große Welle fand vor dem amerikanischen Bürgerkrieg 1861 statt, und die zweite danach, bis zum zweiten Weltkrieg. Kriege scheinen dabei eine Rolle zu spielen, zum einen wächst das Interesse für diese Dinge während eines Krieges, andererseits sind die Menschen mit dem nackten Überleben beschäftigt. Die erste große Welle begann [in den USA] etwa um 1830 und dauerte etwa bis zum Bürgerkrieg. Die zwei größten Einflüsse dabei waren Swedenborg, der einen großen Einfluss ausübte, was die außergewöhnlichen spirituellen Wirklichkeiten und Zustände betrifft und ihre Bedeutung für das normale Bewusstsein, und dann noch Emerson. Swedenborg und Emerson waren die Transzendentalisten dieser Zeit. Emerson, der sich auch auf die deutschen Idealisten bezog wie Kant, Schelling, Hegel usw., brachte deren Ideen in unsere Kultur. Das wurde sehr schnell zu einer populären Schule und Bewegung mit dem Namen „New Thought“. Diese Bewegung hatte einen großen Einfluss, im Vergleich dazu ist das heutige New Age beinahe nichts. Dazu gehören Mary Baker Eddy und viele andere. Es waren Emerson und Swedenborg, und wen wir auch noch dazurechnen sollten, ist Anton Mesmer und der Mesmerismus. Mesmer stammte aus Wien und arbeitete konkret mit dem, was er animalischen [thierischen] Magnetismus nannte. Dies war kein Konzept, es war Prana, es war das Pranamayakosha, die Ebene von Bioenergie. Das weckte ein großes Interesse und es wurden auch Forschungen betrieben. Durch Techniken wie Hypnose erlangte man Zugang zu diesem animalischen Magnetismus, verbunden mit vielen Anwendungen, und eine Hauptanwendungsmöglichkeit war die von Gesundheit und Heilung. Was dabei auch im Mittelpunkt stand, war die Entstehung von Unbewusstem und unbewussten Energien. Dabei gibt es eine direkte Linie zu Sigmund Freud, der auch aus Wien stammte. Das Ich und das Es, und das Es war animalischer Magnetismus. Freud machte daraus dann die Libido und er analysierte die Beziehung zwischen dem Ich und diesen Energien. Er fand heraus, dass diese Energien ihren Anfang nehmen im oralen Körperbereich, beim Säugling, und dann weiter gehen zum analen Bereich, und dann weiter zu den Genitalien. Was Freud damit gemacht hat, ist, er hat die ersten zwei Chakren beschrieben. Dabei hat er zwei Enden dieses ersten Chakras entdeckt, [lacht], an einem Ende kommt was rein – oral – und am anderen Ende kommt was raus – anal. Schaut man sich die frühe Libido-Psychologie von Freud an, dann analysiert er die Verankerung von neurotischen Symptomen in der Körperenergie, und zwar an diesen Stellen. Orale Fixierung, anale Fixierung, phallische Fixierung usw. Da hörte er dann auf und ist nicht weitergegangen, zum dritten Chakra. Doch Alfred Adler tat dies, und der sagte, es ist nicht Libido, es ist Macht, und arbeitete so mit dem dritten Chakra. Das ist faszinierend. Die Psychoanalyse hat sich mit vielem beschäftigt, doch am Beginn steht die Betrachtung der Verteilung von Prana im ersten und zweiten Chakra, auf eine körperliche Weise, die man sehen, fühlen und anfassen kann. Wilhelm Reich übernahm die Vorstellung von Libido als Bioenergie und studierte die Funktion des Orgasmus und dessen Bezug zur Bioenergie und einem verkörperlichten Charakterpanzer, und so weiter. Das war nichts Abstraktes wie ein Ich oder ein Es, das waren sehr konkrete Dinge. Mesmer und seine Nachfolger hatten einen großen Einfluss. Sie hypnotisierten Patienten und beobachteten dann sehr verrückte Dinge. Pierre Janet in Frankreich entwickelte Vorstellungen darüber, was mit unbewussten Vorstellungen geschah. Er erteilte Menschen unter Hypnose bestimmte Anweisungen, wie zum Beispiel: „Öffne den Regenschirm“, und dann weckte er die Menschen aus der Hypnose auf, sagte das Triggerwort, und die Menschen gingen zum Regenschirm und öffneten ihn, ohne zu wissen, warum sie das taten. Auf die Frage warum sie das taten erfanden manche dann rationale Gründe, und wenn dies im Rahmen einer öffentlichen Demonstration geschah, gab es schallendes Gelächter vom Publikum. Freud war im Publikum und war erstaunt, dass Menschen Dinge taten, ohne zu wissen warum. Doch es gab einen Grund, warum sie es taten, und das hatte etwas mit dem animalischen Magnetismus zu tun – faszinierend. All das ereignete sich gewissermaßen am unteren Ende, im Unterschied zu dem Spiritualismus am oberen Ende, wie mit Swedenborg und Emerson. Dieser Spiritualismus hatte zu seiner Zeit, am beginnenden 19. Jahrhundert, einen bedeutenden Einfluss in diesem Land. Dann kam der Bürgerkrieg und es entwickelten sich zwei große Bewegungen, „New Thought“ und Theosophie. Jeder sprach zu dieser Zeit davon, und auch die „Christian Science“ und Mary Baker Eddi waren sehr bekannt. Emersons Transzendentalismus wurde in einer popularisierten Weise zum „New Thought“, und dann die Theosophie, mit ihrem Haupteinfluss aus dem tibetischen Buddhismus und dem Buddhismus allgemein. Menschen wie Anni Besant erscheinen uns heute ein bisschen merkwürdig, doch zu ihrer Zeit war sie eine gute Gelehrte und eine große Schriftstellerin. Was sie geschrieben hat, war außerordentlich, wenn man es im Kontext der Zeit, in der sie geschrieben hat und dessen, was damals möglich war, betrachtet.
Es ist für mich immer noch ein Rätsel, wie sie auf die Vorstellung der verborgenen Meister [„Meister der Weisheit“, „Bruderschaft von Shambhala“] gekommen sind, die sich im Himalaya verstecken.
Frage: Ihre Haltung zu Krishnamurti gehört auch dazu.
KW: Vorstellungen wie die, dass Krishnamurti der siebente Sohn eines siebenten Sohnes wäre, wurden in Umlauf gebracht, das ist eine sehr interessante Bewegung, und die Frage ist, ob dies auch auf eine andere Weise in die damalige Kultur hätte eingebracht werden können. Doch im heutigen kulturellen Klima passieren auch merkwürdige Dinge, wo anspruchsvollere Formen von Spiritualität dem Marktplatz ausgesetzt sind. Lehrer tun etwas, bewusst oder auch unbewusst, nach dem Motto „wenn du in Rom bist, lehre die Römer“. Ich kenne viele der Lehrer und verfolge das seit dreißig Jahren. Sie orientieren sich an der Bewusstseinsebene derjenigen, an die sie ihre Lehre richten. Ich habe schon über The Secret gesprochen, mit Vorstellung von sofortiger Erleuchtung und Belohnung, ohne sich dabei anzustrengen, keine Hierarchien, und niemand ist weiter entwickelt als jemand anderes. Das bedeutet, dass es keine Lehrer gibt – der Druck, der dadurch erzeugt wird, ist enorm. Man kann sich vorstellen, was für ein gesellschaftlicher Druck zu der Zeit existierte, über die wir hier sprechen, mit einer starken Bernstein – Kultur, die Autoritäten verlangte. Eine Möglichkeit, das zu vermitteln, sind die geheimen Meister. Das müssen keine Lügen oder Täuschungen sein, sondern sind Möglichkeiten, die Aufmerksamkeit von Menschen zu erhalten. Der Himalaya bietet sich an, dort liegt Tibet. Ich kann mir vorstellen, wie so etwas entstanden ist, und das muss nicht unbedingt den Wert einer Lehre mindern. Das war wirklich eine interessante Zeit, Anni Besant war eine ihrer besten Autorinnen und sie war eine gute Psychologin. Diese Periode fand ihr Ende etwa zur Zeit des ersten Weltkriegs. Danach folgte eine Dürrezeit, weil dieses Land [USA] sich nach dem ersten Weltkrieg ganz dem Behaviorismus zuwandte. Selbst so große Psychologen und Schriftsteller um die Jahrhundertwende 1900 wie William James und James Mark Baldwin wurden zwar respektiert, aber der Mainstream folgte ihnen nicht. Speziell in den zwanziger und dreißiger Jahren hatten wir ausschließlich behavioristische und materialistische Lehreinrichtungen und Lehren, die alles Wissenschaftliche und Empirische für sich in Anspruch nahmen. Das zerstörte alles andere, selbst so gute akademische Ansätze wie die von James und Baldwin. Baldwin verließ das Land und lehrte in Paris. Er war der erste große Entwicklungspsychologe der Geschichte. In Paris hatte er viele Studenten, darunter war auch ein junger Schweizer, Jean Piaget, der vielleicht größte Entwicklungspsychologie überhaupt. Das ist auch interessant, und vieles davon ist in Europa geblieben und hat noch nicht den Sprung in die angelsächsischen Länder geschafft.
Die dritte Welle ist die der humanistischen und transpersonalen Psychologie, die etwa nach dem zweiten Weltkrieg begann und in den sechziger Jahren dann hervor trat. Historiker geben das Ende dieser Bewegung etwa um 1995 an. Einer der Gründe dafür hängt mit einem Paradoxon der jüngeren Generation zusammen. Zum einen gibt es ein vermehrtes Interesse an diesen Dingen, doch die meisten von ihnen und die Kultur als Ganzes wandte sich erneut dem Materialismus zu. Ich erwarte die nächste große Welle und Bewegung dieser Art, wenn zehn Prozent der Bevölkerung Petrol oder den zweiten Rang erreicht haben.
Soweit ein kurzer Überblick darüber. Es ist interessant sich das anzuschauen und zu erkennen, wo das alles herkommt.
Technologie und Bewusstsein
Frage: Die Frage nach den Telekommunikationssystemen ist interessant, wie beispielsweise nach der Entwicklung des Telegrafen zu dieser Zeit, im späten neunzehnten Jahrhundert, wo Informationen über Magnetismus und ätherische Energie übermittelt wurden, und das hatte sicher auf die Gruppe damals einen Einfluss, vergleichbar mit dem, was heute geschieht, mit dem Integralen und dem Internet.
KW: Oh ja, und ich denke, das ist ein wichtiger Hinweis und auch wieder eine Sache aller vier Quadranten. Dabei schauen wir darauf, was im unteren rechten Quadranten geschieht, der, wie so oft, einen enormen Einfluss hat. Das wird manchmal vergessen, und daher ist es gut, dass du diesen Punkt erwähnst. Dieser Einfluss ist so wichtig und man kann verstehen, dass [Karl] Marx diesen Quadranten als den einzig bestimmenden ansah, der Einfluss von dort ist gewaltig. Betrachtet man den Gang der Geschichte, wird einem klar, wie groß der Einfluss der Systeme des unteren rechten Quadranten war, und wie speziell die Systeme der Kommunikationsübertragung einen bestimmenden Einfluss darauf haben, was in einer Kultur insgesamt geschieht. Ich denke, dass im Rückblick und von der Zukunft her betrachtet, das Internet im Zusammenhang mit der grünen Entwicklungsstufe gesehen werden wird, und auch ein Stück weit mit dem Integralen. Doch ich denke auch, dass die eigentliche Petrol-Entwicklungsstufe erreicht werden wird, wenn es eine Gehirn-Computer-Schnittstelle geben wird, mit im Gehirn implantierten Computerchips. Das wird ohne Zweifel kommen, es ist für mich keine Frage. Jeder Mensch wird über das Internet Zugang zu allen nur möglichen Daten haben. Die Datenfülle wird so gewaltig sein, dass Menschen nach Wegen suchen werden, wie sie sich diese Daten ordnen und zugänglich machen können, z. B. nach AQAL oder ähnlichen Kategorien. Derartige Orientierungen werden notwendig, ansonsten weiß niemand, was er oder sie mit der Überfülle von Informationen tun soll.
Frage: Ein Download über den menschlichen Körper?
KW: Ja, so dass man sich die Daten besorgen kann, die man gerade braucht. Zum Beispiel eine Information den oberen rechten Quadranten betreffend, auf der Subquantum-Ebene, oder der Quantenebene, oder die atomare, molekulare oder zelluläre Ebene betreffend, oder Zellsysteme wie Organismen betreffend, oder Spezies, oder [unterer rechter Quadrant] die Ökologie, und so weiter. Im oberen linken Quadranten geht es um die Ebene oder den Zustand von Bewusstsein oder um Schattenmaterial, oder wie auch immer man das, was dort geschieht, klassifiziert. Das gleiche gilt für den unteren linken und den unteren rechten Quadranten. Tut man das nicht, wird man von der Datenfülle erschlagen. Worauf wir dabei auch achten müssen und sollen, ist, wie wir auf eine gesunde Weise Werteunterscheidungen treffen, die nicht-urteilend sind, das heißt Werteunterscheidungen von Tiefe, wie die Unterscheidung zwischen egozentrisch, ethnozentrisch und weltzentrisch. Diese Unterscheidungen werden vor dem Hintergrund eines drohenden kulturellen Zusammenbruchs, den wir gerade erleben, immer notwendiger, wo keinerlei Werteunterscheidungen erlaubt sind. Wir tun uns sogar schwer damit, anzuerkennen, dass man auf der „Highschool“ nicht nur bestehen sondern auch durchfallen kann, was neben anderem dazu führt, dass Studenten graduieren können, ohne Lesen zu können. Nachdem sie graduiert haben, schicken wir sie zu Nachholkursen, wo sie dann lernen, was sie längst gelernt haben sollten. Es ist verrückt, was da geschieht. Ich bin ein Boomer und uns ist so etwas egal, wir lassen die Dinge einfach laufen, aber selbst ich bin alarmiert [lacht]. Doch ich darf das wohl, ich habe ja ein Buch darüber geschrieben, mit dem Titel Boomeritis. [Lacht] Wir können also Beurteilung von Tiefe abgeben und sagen, wie umfassend [inclusive] Menschen sind. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass Menschen, die sich bis zur grünen Ebene entwickelt haben, wo sie sagen „mache keine Beurteilungen und marginalisiere niemanden“, dies als Ergebnis von sechs Wachstums- und Entwicklungsstufen machen. Mit der Zurückweisung von Ebenen zerstört Grün sich selbst. Zum Glück wird dies immer mehr zum Thema. Ein Film, den ich diesbezüglich sehr empfehle, trägt den Titel idiocracy, Luc Wilson spielt eine Hauptrolle. Dieser Film ist sehr amüsant und leider auch sehr wahr. Das sollte man sich ansehen, es ist auf eine erschreckende Weise lustig. Dadurch wird das Thema mehr und mehr publik.
Frage: Kann man Technologien den Entwicklungsstufen zuordnen?
KW: Ja, ich denke schon. Was wir natürlich anstreben, ist die Verwendung der Technologie der höchsten Entwicklungsstufe. Dabei sollten wir jedoch nicht vergessen, dass einige der Technologien von der konkreten Struktur der Wirklichkeitsebene, die dabei angesprochen wird, abhängen. Ein Beispiel: Wenn der Zusammenbruch der Computersysteme bei der Jahrtausendwende tatsächlich stattgefunden hätte, auf der Ebene der Computertechnologie, dann wäre damit keine soziale Transformation zu höheren Zuständen verbunden gewesen, sondern eine “Transformation“ zu den niedrigeren Strukturen. Die Menschen wären wieder unterwegs auf Nahrungssuche, und das ist ein Alptraum und kein Friede-und-Liebe Festival. Die Menschen wären auf die Ebenen des Jagens und Sammelns zurückgeworfen. Daraus würden dann Stämme entstehen, und die stärkeren Stämme würden die schwächeren ausrauben und sie umbringen, und dann würden diese Stämme damit beginnen, die Nahrungsversorgung zu planen, als eine Phase von Gartenbau, und irgendwann käme jemand auf die Idee, dabei statt der Hände einen Pflug zu verwenden, der von Tieren gezogen wird, und das ist der Beginn des Ackerbaus. Und so weiter auf der Entwicklungsskala. Das alles ist immer noch da, die Farmer in Kansas spannen immer noch ihre Tiere vor den Pflug, säen und ernten, und die meisten von ihnen, Gott segne sie, haben eine bernstein-mythische Glaubensstruktur als diejenige Bewusstseinsstruktur, die zum Ackerbau gehört. Auf diese Weise schreitet die Evolution immer weiter voran, und jede Stufe ist eine Tetra-Evolution, eine gemeinsame Schöpfung mit dem GEIST, bei der eine neue Ebene der Verwirklichung ins Sein tritt. Diese Ebenen werden auf dem Entwicklungsweg konkret erschaffen, von Atomen zu Molekülen und Zellen bis zum Menschen, und dort setzt sich die Entwicklung immer weiter fort. Das Dreifachhirn wird weiter genutzt, um Ebenen wie Infrarot, Magenta, Rot, Bernstein, Orange, Grün usw. zu unterstützen über die Jahre und Jahrtausende. Diese Ebenen existieren, sie sind konkret vorhanden bzw. werden erschaffen. Und so möchte man immer auch die am weitesten entwickelte Technologie verwenden, und nicht mehr nur Jagen und Sammeln oder nur Ackerbau betreiben. Auf der Petrol-Entwicklungsebene bedeutet dies die Verbindung von Gehirn und Geist. Derzeit müssen wir noch etwas irgendwo eintippen, um Informationen aus dem Internet zu bekommen, dies ist in gewisser Weise archaisch, und das wird irgendwann Geschichte sein. Bücher, welche eine Vorausschau auf die kommenden dreißig Jahre geben, beschreiben diese Dinge schon. Technisierte Menschen sind daher mit einiger Sicherheit ein nächster Schritt. Die Verteidigungsministerien forschen am intensivsten daran, auf der Suche nach dem perfekten Soldaten, der drei Tage lang töten kann, ohne sich ausruhen zu müssen. Es werden Dinge entwickelt wie ein Impfstoff gegen Schmerzen, eine Injektion, die dreißig Tage lang anhält und einen schmerzunempfindlich macht. Hält man die Hand in ein Feuer, dann fühlt man Wärme und man riecht auch etwas, aber man fühlt keinen Schmerz. Gleichermaßen werden Substanzen entwickelt, unter deren Einwirkung das Schlafbedürfnis nachlässt. Damit werden dann Kampfeinsätze möglich, die 72 Stunden dauern können.
Eine alte Praxis, ein neues Verständnis
Frage: Ich möchte die Frage nach der Theosophie stellen, mein Hintergrund sind Gurdjieff und Ouspensky, und dahinter steht in gewisser Weise auch eine Sufi-Tradition.
KW: Ja, dies war sehr einflussreich, und einen Menge Leute der „New Thought“-Bewegung und auch der Swedenborg-Anhänger waren beeinflusst von Ouspensky. Er war intelligent und stellte ein sehr anspruchsvolles Denksystem auf, das Enneagramm.
Frage: Was mich dabei interessiert, ist der Schmerz und das Leid, das von Kulten mit spirituellen Führern wie Adi Da verursacht wurde mit allem Rätselhaften und den Schattenaspekten dabei. Die Menschen sind fasziniert von den erleuchteten Zuständen, doch es gibt Schattenaspekte dabei, welche die gesamte Gruppe erfassen. Auf das Schattenthema bin ich durch deine Bücher gestoßen, und dann stieß ich auf den Begriff des Schmerzkörpers bei [Eckhard] Tolle und las darüber. Die Vorstellung eines Schmerzkörpers ist für mich greifbar, man kann sich das vorstellen und anschauen. Schaut man sich die Nachrichten im Fernsehen an, dann gibt es dort keine Engel und so etwas, sondern man sieht Explosionen und Mord und Drama, und der Schmerzkörper als eine Maschine in der Maschine wird erfahrbar, wie er von Negativität lebt. Wie siehst du das im Verhältnis zum Schatten?
KW: Dies hat eine Menge mit der allgemeinen Frage zu tun, die vorhin gestellt wurde, und zwar der Frage nach dem Verhältnis von Form und Leerheit. Die erste edle Wahrheit [des Buddhismus] über die Welt der Form ist die, dass die Welt der Formen Leiden bedeutet. Punkt. Sie ist von sich aus eine Welt des Leids, ohne dass man etwas tun muss. Daraus entstand das Bestreben, aus der Welt der Formen in die Leerheit zu kommen. Der Schmerzkörper stellt diesbezüglich, wenn man so will, eine doppelte Dosis dar. Das ist nicht nur Samsara, es ist ein besonders krankes Samsara. Wenn wir auf Ouspensky und spirituelle Lehrer allgemein zurückkommen, dann ist es mittlerweile völlig klar, dass jeder Lehrer einen Schatten hat, weil jeder Lehrer ein menschliches Wesen ist. Die Frage dabei ist, wie man mit diesem Schatten umgeht, ob man offen für die eigenen Schattenaspekte ist und auch bereit ist, darüber zu reden, oder ob man das rundweg für sich leugnet und den eigenen Schatten z. B. zu einer Lektion für die Schüler erklärt.
Frage: Das ist genau das, was oft geschieht: „Meine Schüler bekommen diese Lektion von mir“.
KW: Ja, und die Ouspensky-Tradition war dabei nicht wirklich hilfreich. Den Schülern wird gesagt, dass sie das brauchen, und das ist ein Trick. Es ist ein doppelter Alptraum. Der Lehrer verleugnet dabei nicht nur seinen eigenen Schatten, sondern er erteilt sich damit auch die Lizenz, alles gegenüber den Schülern zu tun, was er oder sie tun möchte und kann dabei immer sagen, es wäre zu ihrem Besten. „Alle Fehler, die ich mache, geschehen zu deinem Besten, doch du kannst das nicht erkennen, weil du nicht erleuchtet genug bist.“ Das ist wirklich übel. Es ist auch deshalb problematisch, weil einige der Traditionen wirklich authentische Zustandserfahrungen beinhalten, die weitergegeben werden. Die Leute, die das tun, meinen dann, dass, weil sie diese authentischen Erfahrungen gemacht haben, sie sich auch anderer Dinge und Dynamiken bewusst wären, doch das ist ein großer Fehler. Was wir besonders in den zurückliegenden dreißig Jahren auch durch empirische Studien über Meditierende gelernt haben, ist, dass durch Meditation alleine mindestens zwei Dinge nicht gesehen werden können. Man kann so viel Introspektion und Innenschau betreiben, wie man möchte, doch man wird dabei niemals Big Mind sehen. Man kann dazu erwachen, doch man wird es nie als ein Bewusstseinsobjekt sehen. Und was man ebenso wenig sehen kann, sind Schatten des Bewusstseins und Strukturen des Bewusstseins. Strukturen sind Dinge wie Entwicklungsstrukturen wie die von Spiral Dynamics, Jane Lovinger oder Piaget oder Carol Gilligan. Dies sind ganz wichtige Beiträge der Entwicklungsstudien, der Genealogie. Man kann auf einer Meditationsmatte so lange sitzen, wie man möchte, man wird nie so etwas sehen wie: „Dies ist ein Gedanke der moralischen Entwicklungsstufe 3“. Ebenso wenig wird man dadurch grüne oder orange Werte erkennen. Derartige Strukturen entdeckt man durch die Betrachtung von großen Personengruppen über deren gesamte Lebensspanne. Dies geschieht aus einer Abstand nehmenden, wissenschaftlichen Perspektive. Man hält dabei Ausschau nach allgemeinen und wiederkehrenden Mustern und versucht dann die Strukturen dieser Muster zu beschreiben. Auf diese Weise kommt man zu Modellen wie dem Spiral Dynamics-Modell oder dem Modell von Jane Lovinger. Doch all das entdeckt man nicht durch eine Innenschau. Dies sind die Strukturen des inneren Raumes, in den man in der Introspektion schaut, die sich einer unmittelbaren Betrachtung entziehen. Es sind Kontexte, keine Inhalte [context and not content]. Wenn man aus einem Bewusstseinszustand wieder herauskommt, egal um welchen Zustand es sich dabei handelt, und wieder das endliche Selbst ist, dann hat dieses endliche Selbst eine spezifische Struktur, die man jedoch nicht sieht und deren „Farbe“ man nicht erkennt.
Frage: Ja, wenn ich wieder in die Welt hinaustrete, dann treffe ich auf meine alten Haltungen und Denkweisen, ohne diese als solche zu erkennen und manifestiere mich durch sie. Das ist etwas, was mich gerade sehr beschäftigt.
KW: Du gehst vielleicht gerade durch eine besonders intensive Zeit, doch es ist ein Thema, was letztendlich jeden betrifft. Egal ob man sich diese Frage stellt oder nicht, es ist vorhanden. Es ist etwas, was die westliche Psychologie den traditionellen und östlichen Praktiken aufzeigen kann, ein Verständnis hinsichtlich dieser Strukturen und Strukturstufen (und wir nennen sie vertikale Strukturstufen, um sie von horizontalen Zustandsstufen zu unterscheiden). Westliche Psychologie hilft uns dabei, vertikalen Strukturen und auch Schattendynamiken zu entdecken. Beides kann durch eine bloße Innenschau nicht erkannt werden. Der Schatten kann zwar auf eine Weise gesehen werden, aber nicht in seiner eigentlichen Form. Habe ich beispielsweise Zorn verdrängt und projiziere diesen, dann bin ich mir eines Zorns bewusst, erkenne diesen aber nicht als meinen eigenen. Der Schatten erscheint mir in einer verkleideten Form, entweder als ein Symptom oder als zu jemandem anderen gehörig. Ich kann den Schatten nicht in seiner wahren Form erkennen, egal wie intensiv ich nach innen schaue. Es gibt eine Verdrängungsschranke, die den Schatten aus dem bewussten Wahrnehmungsbereich heraushält. Als vor dreißig Jahren die transpersonale Psychologie mit Meditation als einer Möglichkeit der Entspannung und der Öffnung des Bewusstseins begann, und als einer Möglichkeit in der Gegenwärtigkeit zu bleiben, ohne zu kontrahieren und zu vermeiden, dachte man, dass Meditation die Verdrängungsschranke aufheben würde. Doch das geschieht dabei nicht. Manchmal kann Meditation dabei helfen, doch in anderen Fällen kann durch Meditation das Problem noch verstärkt werden. Nehmen wir als ein Beispiel den Zorn. Bei den meisten Meditationspraktiken wie Achtsamkeit, Vipassana oder Einsichtsübungen werden wir gelehrt, dasjenige zu bezeugen, was von Augenblick zu Augenblick erscheint, ohne dies zu beurteilen oder zu benennen, sondern um Bewusstheit dorthin zu bringen. Man sagt zum Beispiel: „Zorn, Zorn, ich bin mir des Zorns bewusst“, und was man dabei tut, ist den Zorn zu sehen, ohne dafür jedoch die Urheberschaft zu übernehmen. Man sieht den Zorn aus einer Perspektive und Haltung der Distanz und Dissoziation, und es geht darum sich davon zu ent-identifizieren. Das Problem dabei ist jedoch: man hat sich davon bereits ent-identifiziert. Das ist gerade das Problem.
Frage: Ja, und das betrifft vor allem negative Emotionen, die dann noch mehr unterdrückt werden.
KW: Ja, unglücklicherweise. Und das kommt – noch einmal – von diesem Gesetz beziehungsweise der Vorschrift der meisten der kontemplativen Traditionen, die sagen, dass man keinen Zorn haben soll. Manche lehnen auch Sexualität [und alles was damit zusammenhängt] ab. Man soll so tun, als wenn die unteren drei Chakren nicht vorhanden wären. Doch wenn diese sich dann zeigen, dann meist in einer hartnäckigen, übertriebenen, versteckten oder abgespaltenen Form. Das ist wirklich ein Problem. Die Dissoziation des Impulses bei seinem Auftreten ist dabei jedoch die eigentliche Problemursache, und nicht das was danach geschieht …
Frage: Das ist auch eine kulturelle Situation.
KW: Es muss sehr schwierig gewesen sein, durch das hindurchzugehen. Du sagtest, dass du davon Verletzungen und Narben davongetragen hast, Dinge, die immer wieder mal hochkommen.
Frage: Als ich in eine Gemeinschaft eintrat, war ich ziemlich schüchtern und introvertiert. Daran habe ich arbeiten können, das hat mir geholfen, aber ich erlebte auch starke Eingrenzungen und bin in gewisser Weise erstarrt. Es liegt in meinem Wesen, ein ruhiger, passiver Typ zu sein, das hat auch dazu beigetragen – aber jetzt spreche ich mit dir, immerhin.
KW: Ja, eine Gruppe kann unterstützen, aber auch unterdrücken, besonders wenn diese Gruppe wesentliche grundlegende Lebensbedürfnisse erfüllt, wie das Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder das nach Freundschaften und Liebesbeziehungen, oder auch das nach Menschen, die eine Elternfunktion haben.
Frage: Ja, alles.
KW: Dabei ist es sehr schwierig, das auseinanderzuhalten, was einen in der Entwicklung unterstützt und was nicht. Eine Gruppe kann dann zu einem „4-Quadranten-Anschlag“ auf die eigenen Fähigkeiten werden, die Wahrheit zu erkennen, wenn die Gruppendynamik dem entgegensteht. Das ist etwas, worauf wir Menschen hinweisen. Und dann gibt es in unserer Kultur auch Menschen, die explizit als Gurus auftreten. Eine solche Guru-Haltung erzeugt eine entsprechende Atmosphäre. Für manche ist das genau richtig und für andere nicht. Darauf sollte man achten, bevor man sich auf so etwas einlässt.
Frage: Diese Erfahrung wird zu einer Lektion, die man durchlebt, und man entwickelt ein entsprechendes „Radar“ für solche Situationen.
KW: Durch das Internet wird man heute auf vieles aufmerksam. Wenn man in eine Guru-Gemeinschaft eintreten möchte, kann man Webseiten finden, wo ehemalige Schüler etwas berichten, Positives oder Negatives. Man muss sich beides anschauen und dann für sich eine Entscheidung treffen, auch bei Gruppen ohne ein spezifisches Guru-Prinzip und ohne einen Guru. Die Praxis ist der Guru, und wenn man nicht den Fortschritt macht, den man sich erhofft, dann ist das auch die eigene Verantwortung und nicht die des Guru. Auch in offenen, freundlichen Gruppen ohne Guru-Persönlichkeiten gibt es einen Weg, und wenn dieser Weg für einen nicht funktioniert, ist nicht der Weg daran schuld. Wessen Verantwortung ist es also? [Lachen] Vielleicht hat dieser spezifische Weg keine Kenntnis von Schattendynamiken, oder kein Verständnis von unterschiedlichen Entwicklungsstufen, auf denen sich Menschen befinden, vielleicht ist dies das Problem, und vielleicht macht man die Praxis nicht richtig, was immer es auch sei. Bei jedem dieser Wege gilt, ob mit oder ohne Guru-Prinzip, wenn diese Wege nicht ausreichend integral sind, kann die Schuld dafür auf einen selbst zurückfallen.
Frage: Das Buch Integrale Spiritualität war für mich diesbezüglich sehr hilfreich, es macht sofort Sinn, das Beste aus all den verschiedene Ansätzen zu nehmen, letztendlich kommt alles aus der gleichen Quelle.
KW: Ja, und jeder sollte hier auch seinen Teil der Verantwortung für sich übernehmen. Man kann sich jeden der Wege anschauen mit der Fragestellung, wie umfassend und wie integral dieser Weg ist, oder auch worauf er sich spezialisiert. Spezialisierung ist wunderbar, z. B. im Fitnessraum, wo ein Lehrer Hilfestellung gibt. Aber der Fitnesstrainer muss nicht gleichzeitig in der Lage sein, einem die Erleuchtung zu vermitteln. Solange der Fitnesstrainer nicht behauptet, einen vollständigen Weg anzubieten, ist alles in Ordnung. Das gleiche trifft auf Vipassana-Meditation zu, auf christliche Kontemplation, auf Ouspensky usw. Wir befinden uns an einem Zeitpunkt in der Geschichte, wo wir auf eine neue Weise einen integralen Weg aufzeigen können. Es gab Wege, die zu ihrer Zeit mehr oder weniger integral waren und die das Bestmöglichste erreichten, doch was wir jetzt in den vielleicht kommenden zehn Jahren erleben werden, ist, dass die meisten Wege entweder integraler werden oder sich spezialisieren. Das ist eine klare Sache, und die Beschränkungen der Spezialisierungen können hervortreten.
bisherige Veröffentlichungen: Integrale Spiritualität / A Deeper Cut (Hörbuch)
Online Journal, Ausgabe 50 Ken Wilber (Einführung): Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität Kapitel 8: Die Welt des schrecklich Offensichtlichen
Online Journal, Ausgabe 53 Ken Wilber: Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität (Fortsetzung)
Online Journal, Ausgabe 58 Ken Wilber: Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität (Fortsetzung)
Online Journal, Ausgabe 61 Ken Wilber: Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität (Fortsetzung) Appendix II: Integrale Post-Metaphysik
Online Journal, Ausgabe 71 Ken Wilber: Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität (Fortsetzung) IS Call on Appendix II: Integral Post-Metaphysics 3, Brendan Snow
Online Journal, Ausgabe 72 Ken Wilber: Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität (Fortsetzung) IS Call on Appendix II: Integral Post-Metaphysics 8, Ewan Townhead