Integrale Spiritualität, Appendix III: Der Mythos des Gegebenen – Teil 2

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Integrale Spiritualität, Appendix III: Der Mythos des Gegebenen – Teil 2

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Ken Wilber, aus den Telefonkonferenzen zu seinem Buch Integrale Spiritualität (2006)

… Fortsetzung von Teil 1

Die Zukunft gerät außer Kontrolle

KW: Die einzige Weise wie Zukunft stattfinden kann, ist, das jeder evolutionäre Schritt zu mehr Umfassendheit führt und immer mehr Perspektiven berücksichtigt werden. Das wird auch mit der Spiritualität geschehen und es geschieht bereits.

Frage: Ja, wir sollten am besten weise werden, bevor wir Chips in unseren Kopf eingepflanzt bekommen.

KW: [Lacht]. Ja, Darth Vader ist immer möglich. Es wird auch Leute gebe, die Chips im Kopf haben und das zum Schaden anderer missbrauchen werden. Die Hoffnung dabei ist, dass, bevor das geschieht, immer mehr integrales im Umlauf ist, was zu mehr Ausgewogenheit führt und es unwahrscheinlicher macht, dass neue Technologien mit ihren Schattenseiten zur Anwendung kommen. Doch es wird geschehen, einige Leute werden das machen, und die Alpträume, in die wir dabei geraten können, werden immer schlimmer.

 

Frage: Kannst du darauf noch näher eingehen? Du sprichst davon, dass die Entwicklung voranschreitet und was das alles Gutes bringt, doch dann lesen wir in den Zeitungen, wie viele Menschen in diesem Land [USA] weder lesen noch schreiben können. Da gibt es Menschen an der Spitze der Entwicklung, die etwas vorantreiben, doch gleichzeitig gibt es enorm viele Menschen, auch in unserem Land, bei denen man den Eindruck hat, es gehe zurück. Wie geht das zusammen?

KW: Was ich darüber denke, ist: Ich denke, das führt zu einer weltweiten Katastrophe. Ich schreibe gerade an einer Buchtrilogie mit dem Titel The many faces of terrorism, als einer Art Nachfolger meines Buches Boomeritis. Die Geschichte spielt am Integral Center, angelehnt an das Integral Institute, und es gibt das Gerücht, dass dort ein Computerprogramm entwickelt wurde, das die Zukunft in groben Umrissen voraussagen kann. Die Geschichte, die dieser Roman erzählt, ist eine Möglichkeit, die AQAL Landkarte vorzustellen, und es geht um eine Software, die zukünftige Szenarien vorhersagen kann. Die derzeitigen Vorhersageprogramme können nicht einmal die Gegenwart vorhersagen. Gibt man dort die Daten von vor einem Jahr ein, wird die Gegenwart falsch vorhergesagt. Der Roman ist eine auf Wissenschaft basierende Science Fiction – eine Geschichte die Michael Crighton viel besser erzählen könnte. Der Roman spielt etwa in der Zeit, in der Chips in Gehirne eingepflanzt werden können. Der Grund, warum die gegenwärtig verwendeten Szenarien nicht die Gegenwart richtig vorhersagen können ist, dass sie alle eine Flachland-Psychologie zugrunde legen. Sie gehen von einer einzigen menschlichen Motivation aus, dem rationalen Eigeninteresse, und das ist natürlich verrückt. Es gibt ein breites Spektrum menschlicher Motive. Unter Verwendung von AQAL gelingt es den Menschen am Integral Center im Roman, aus den Daten der Vergangenheit die Gegenwart im Großen und Ganzen richtig vorherzusagen. Sie beginnen bei einem Jahr, dann bei fünf Jahren, dann bei zehn Jahren, und der Roman beginnt, wo sie versuchen, aus den Daten der Vergangenheit vor dreißig Jahren die Gegenwart zu prognostizieren. Da das gelingt, glaubt man nun, dass man mit diesem Modell die Zukunft in dreißig Jahren voraussagen kann, und es gibt Gerüchte um das, was sie dabei herausgefunden haben, das ist die Romangeschichte. Im Verlauf des Romans werden einige der Vorhersagedaten offengelegt und einige der Daten, und das wird bewusst übertrieben dargestellt, zeigen, dass vor 15 Jahren der Prozentsatz der Bevölkerung beim zweiten Rang bei zwei Prozent lag. Heute sind es etwa fünf Prozent, und die heutigen Vorhersagen sprechen von zehn Prozent in etwa zehn Jahren. Wenn das geschieht, dann wird es einen Sprung geben. Da es sich hier um einen Wechsel zum zweiten Rang handelt, hat dieses Ereignis ein besonderes Gewicht. Betrachten wir die Geschichte: Zu einer Zeit, als zehn Prozent der Bevölkerung bei Orange waren, gab es die amerikanische und die französische Revolution, die westliche Aufklärung. Als zehn Prozent der Bevölkerung die grüne Entwicklungsstufe erreichten, hatten wir die Revolution der sechziger Jahre mit der Bürgerrechtsbewegung, das war sehr tiefgreifend. Und jetzt erreichen zehn Prozent bald die Petrol-Entwicklungsstufe. Doch diese Stufe ist zehnmal effizienter als Grün, das hatten wir bisher noch nicht. Diesmal erfolgt nicht nur der Sprung von einer Stufe zur nächsten, sondern von einem Rang zum nächsten. Der Mittelteil des Buches handelt von all den positiven Dingen, die daraus entspringen können, und das, was daraus entsteht, wird P+30 genannt, als ein Zeitpunkt in dreißig Jahren, und das bedeutet, dass zehn Prozent der Bevölkerung zehnmal effizienter sein werden und das ist Petrol. Das wird eine gewaltige weltweite Transformation sein. Dies passt zu den Vorhersagen eines Wassermannzeitalters und einer weltweiten sozialen Transformation. Es gibt einen Satz in dem ersten Buch, (und es ist eine Trilogie, in der jedes Buch fünfhundert Seiten hat), der sagt, dass siebzig Prozent der Weltbevölkerung sich auf einer Entwicklungsstufe von ethnozentrisch oder darunter befinden und das trifft zu. Das ist, vorsichtig formuliert, problematisch. In dem Buch wird eine Weltregierung beschrieben, deren Bewusstseinsschwerpunkt bei Grün liegt. Und diese Weltregierung etabliert etwa bei P+25 eine weltweite elektronische Demokratie nach dem Prinzip 1 Mensch = 1 Stimme, und fünf Jahre später kommt eine ethnozentrische Partei an die Macht, so etwas wie die Nazis. Und was sich dann bei P+30 ereignet, ist keine weltweite Revolution vom oberen Ende, sondern eine Halbierung der Menschheit weltweit. Die Partei mit dem Namen Unitas, die die Führung übernimmt, hat eine grüne Führung, aber ihre Anhänger sind bei Bernstein oder darunter. Menschen werden in Separierungslagern untergebracht und diese Lager werden zu Vernichtungslagern. Dreißig Prozent der Bevölkerung sterben dabei. Der Virus, der künstlich zur Vernichtung dieser Menschen geschaffen wurde, wird freigesetzt, eine Art Pockenvirus, und er tötet weitere zwanzig Prozent der Weltbevölkerung. Wird sich so etwas ereignen? Nun, es ist eine Metapher für etwas, was sich ereignen könnte. Don Beck und ich hatten ein sehr langes Gespräch darüber, was geschehen könnte, wenn wir eine Boomeritis-Weltregierung bekämen, eine grüne Weltregierung mit einer roten Basis. Ich habe ihn gefragt, was dann passieren würde, und er hat gesagt, dass fünfzig Prozent der Weltbevölkerung sterben würden. Diese Art von Grün zerstört Infrastruktur auf eine so verheerende Weise, dass Bildung und Erziehung zusammenbrechen – eine Idiotokratie entsteht, und damit werden viele der grundlegenden Bernstein-Strukturen dekonstruiert. Es braucht Jahrzehnte, um derartige Strukturen zu errichten und Generationen zu erziehen und zu bilden. Und ich rede nicht nur von diesem Land [USA], sondern von der ganzen Welt. Das Problem in den Ländern der ersten Welt ist dabei, dass der Bewusstseinsschwerpunkt sich derzeit nach unten bewegt. Es gibt etwas, was man den Spin-Effekt nennt. Danach ist der IQ in den westlichen Ländern im Durchschnitt um 3 Punkte pro Dekade ständig gestiegen, doch in der letzten Dekade ist er [in den USA] gesunken. Es ist wirklich nicht so leicht, einen Jahrhunderttrend umzukehren. Wir sind nicht nur das Land mit den dicksten Menschen, sondern auch mit den Dümmsten. Und das scheint sich zu beschleunigen. Eine Idiotokratie ist kein unwahrscheinliches Ereignis, das ist eine Parodie im Stil von Jonathan Swift.

Frage: Das scheint besonders wichtig zu sein in einer Zeit, wo es Informationen im Überfluss gibt und die Fähigkeit zu Lesen und zu Schreiben um so wichtiger wird.

KW: Genau. Darum erzähle ich im Roman diese Geschichte, wie Grün an die Macht kommt, und damit auch Rot, um zu zeigen, was passiert, wenn eine Kultur herrscht, die keine Werteunterscheidungen macht. Das ist ein Alptraum, eine Kultur ohne Schamgefühl. Doch es ist Schamgefühl, welches einen von Rot zu Bernstein führt. Das ist ein ganz wichtiger sozialer Leim in der menschlichen Psyche. Natürlich, wenn man das übertreibt, wird man neurotisch, doch wenn man nichts davon hat, entwickelt man sich nicht. Wir haben Repression mit Regression ersetzt, das ist die vielleicht einfachste Zusammenfassung für die Probleme, denen wir uns gegenübersehen. Ich denke, das wird sich noch beschleunigen, weil Grün die Ursache des Problems nicht erkennen kann, sondern die Probleme durch die Zerstörung von Werteunterscheidungen noch verstärkt. Das wird so weitergehen und ich weiß nicht, was man da machen kann außer warten, bis das integrale Denken diejenigen von Grün erreicht, die sich bereits am Ausgang von Grün befinden, auf dem Weg zu Petrol, und die somit das Problem verstehen. Eine weitere Hoffnung ist die nächste Generation. Doch unser derzeitiges Bildungssystem fördert eher die Verstärkung des Narzissmus – und das funktioniert, wir haben diese empirisches Studien von Havard oder woanders, die uns sagen, dass der Narzissmus in heutigen Studenten im Vergleich zu früher zugenommen hat – also noch schlimmer ist als bei der Boomer-Generation. Und die Boomers wurden schon die Ich-Generation genannt. Da gab es eine Band, die hieß “me first and the gimmi gimmi”. Das heißt nicht anderes als „ich zuerst, und dann will ich noch mehr haben.“ Und wenn man Lehrer hat, die derart auf sich selbst bezogen sind, dann färbt das auf die Studenten ab. Ich bin selber ein Boomer und bin alarmiert. Das hat auch eine sehr lustige Seite, aber es ist eine sehr traurige Entwicklung. Ich hätte mir nicht träumen lassen, so etwas einmal am oberen Entwicklungsende zu erleben.

Nach der Erleuchtung – was ist dann?

Frage: Ich habe Schwierigkeiten, meine Frage in Worte zu fassen, weil, wenn ich über das ICH BIN spreche oder wer ich bin, dann ist das der formlose und leere Seinsgrund, der reine Kontext, und warum sollte es dann einen Unterschied machen, wenn ich mich irgendwie in der Welt der Formen engagiere? Weil, was immer wir tun, es ist das Erscheinen aus dem Formlosen, ohne Absicht. Warum sollte ich mich dann um die Evolution des Bewusstseins kümmern? Ich habe mir diese Frage gestellt, und meine Intuition, oder vielleicht ein Gefühl oder eine Erinnerung dabei, ist folgende: Wenn ich mich absolut der Welt der Formen hingebe und dabei in diesem leeren Raum ruhe, im Nichts, wo alles verschwindet, dann scheint mir dasjenige, was erscheint, ein Tanz zu sein, den ich bezeugen kann, und meine Frage ist, warum ich dann gleichzeitig den Impuls haben sollte, mich dort hinein zu begeben und eine Interaktion mit der Form einzugehen? Der Impuls dazu scheint mir angetrieben zu sein von dem Wunsch zu erwachen, zu dem Anderen, und das scheint mir ein Widerspruch oder ein Paradox zu sein, weil ich auch wahrnehme, dass es kein Anderes oder keinen Anderen gibt.

KW: Das ist eine gute Beschreibung davon. Das Paradox ist, es gibt niemanden zu retten, und deshalb gelobe ich alle zu retten.

Frage: Das ist so schwierig in Sprache zu fassen, weil es schon Bedeutung herstellt, alleine die Frage zu stellen, und damit im Widerspruch steht zur Bedeutungsleerheit. Ich kann es nur in der Welt der Formen artikulieren und nehme dabei eine Position ein.

KW: Ja, das ist klar, und einige Leute [am Telefon] hier werden in der Stille bleiben und denken „oh ja, der Tanz …“. [Lachen]

Frage: Diese Frage ist furchterregend und sie mit Humor zu behandeln, ist erfrischend für mich. Meine Frage ist, ist das Reden einfach nur ein nicht authentischer Versuch, Bedeutung aus der Bedeutungsleerheit zu erzeugen? Die andere Option, über die ich dabei nachdenke, ist: könnte es sein, dass die Teilnahme an der Welt der Formen und der evolutionäre Impuls einen Aspekt von mir darstellen, der sich als Form manifestiert, und daher den Impuls hat, Bedeutung zu erzeugen und nach Sinn zu suchen? Meine Frage ist: Hat das irgendeinen Einfluss, oder tun wir nur so, als wenn wir die Evolution des Bewusstseins beeinflussen? Für mich ist das wirklich schwer zu artikulieren.

KW: Ich denke, das ist gut formuliert und ich denke, die meisten, die hier zuhören haben eine Resonanz zu dem, was du sagst. Du sagst [am Ende der schriftlich formulierten] Frage, dass du dich mit dieser Frage intensiv seit zehn Jahren beschäftigst, und jeder, der entweder eine Satori-Erfahrung erlebt hat oder eine Gipfelerfahrung oder irgendeine Art von Erwachen, beschäftigt sich damit. Zen-Meister beispielsweise sprechen ständig darüber, weil sie wissen, was die Worte bedeuten, sie haben die Erfahrung gemacht.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten dabei, und ich möchte es so erfahrungsorientiert wie möglich beschreiben, damit wir einen Geschmack davon bekommen können. Gleichzeitig möchte ich die Gelegenheit nutzen, um über die Strukturen des Bewusstseins und die Zustände zu sprechen, weil beides mit der Frage zu tun hat. In den Traditionen finden wir viele unterschiedliche Zustände beschrieben. Sowohl Vajrajana als auch Vedanta geben uns fünf natürliche Zustände, die ein breites Spektrum abdecken, und das sind Wachen, Träumen und traumloser Tiefschlaf, als Zustände, die mit der Form zu tun haben. Und dann gibt es den Vierten, und das Wort für „den Vierten“ im Sanskrit ist Turiya. Turiya hat verschiedene Bedeutungen, vor allem ist es der Zeuge aller Formen, grobstofflicher Formen, subtiler Formen, kausaler Formen, im Wachzustand oder im Traumzustand. Die Zustände des Wachens, Träumens und des traumlosen Tiefschlafs haben „Körper“, welche diese Zustände tragen, und die werden grobstofflich, subtil und kausal genannt. Daher sprechen wir auch manchmal nur von grobstofflichen Zuständen, subtilen Zuständen und kausalen Zuständen, und der Zeuge von all dem ist Turiya oder einfach nur der Zeuge, oder Atman, oder die absolute Subjektivität, dafür gibt es unterschiedliche Begriffe. Und wenn Begriffe, die mit Bewusstsein zu tun haben, verwendet werden, wie Big Mind oder absolute Subjektivität, dann ist damit auch gemeint, dass Bewusstsein oder Bewusstheit die reine Leerheit ist, und nicht ein Ding oder etwas in der Art. Es ist der Raum, in dem Dinge erscheinen, als eine reine radikal offene Geräumigkeit. Bei Turiyatita schließlich, was wörtlich bedeutet: „jenseits des Vierten“, wird die Leerheit oder das Bezeugen eins mit dem, was bezeugt wird. Die technische Bezeichnung ist die von nicht-dual. Zen spricht von nicht-zwei, nicht-eins. Während der Zeuge das Gefühl hat, die Dinge erscheinen vor ihm oder ihr (z. B. als ein Traumzustand oder eine kausale Seligkeit), sagen die nicht-dualen Traditionen, also auch Turiyatita, dass das Gefühl, als Zeuge etwas vor sich zu haben, eine subtile Kontraktion ist als der letzte subtile Dualismus vor dem nicht-dualen Erwachen. Und wenn man aus diesem Zustand wieder herauskommt, ist es die erste Kontraktion oder der erste Dualismus. Es ist die subtile Kontraktion zwischen dem Zeugen und dem Bezeugten oder dem Seher und dem Gesehenen, als eine absolute Subjektivität und kleinen Subjekten, die herumlaufen. Diese Verwirklichung war auch historisch von Bedeutung. Was etwa bis zur großen Achsenzeit [ca. 600 v. Chr.] geschah, vom Yoga bis zum Pantanjali-System und dem Theravada-Buddhismus, war, dass man bis zur Erschöpfung alle Objekte bezeugt – Wachen, Träumen, traumloser Tiefschlaf –, und man bezeugt und bezeugt und bezeugt bis die Psyche völlig erschöpft ist. Alle Anhaftungen, die das Bewusstsein an diese Objekte hat, werden „dehydriert“, man dehydriert jegliche Identifikation mit ihnen. Das bedeutet die Aufrechterhaltung einer sehr subtilen Wachheit für die Zustände des Wachens, Träumens und traumlosen Tiefschlafes, weil der Zeuge immer gegenwärtig ist, auf eine Weise nie schläft und immer wach ist rund um die Uhr. Was schläft, ist das kleine Selbst. Durch das Bezeugen all dieser Zustände oder beim Bezeugen subtiler und kausaler Zustände in der Meditation, bricht man die eigene Identifikation mit der Welt der Formen so sehr, dass schließlich keine Formen mehr erscheinen. Und für viele der Religionen der Achsenzeit war dies das Letztendliche. Man ist im Einen, bye bye den Vielen. Im Zustand des Einen ist am Ende Anandamayakosha, die „Hülle“ der Seligkeit. Man kann in diesen Zustand eintreten und entweder in der radikal unendlichen, intelligenten Dunkelheit bleiben oder in einer subtilen Seligkeit, doch man hat nichts mehr mit der Welt der Formen zu tun. Und das Ziel dabei ist, ganz konkret in den Zustand des Nirvana einzutreten und Samsara hinter sich zu lassen. Das ist nicht metaphorisch gemeint, sondern das ist dieser Zustand. Was dann historisch geschah, war, dass, vielleicht weil sich die Bewusstseinsevolution insgesamt vertieft hat, es eine Bewegung gegeben hat von Turiya zu Turiyatita, eine Entdeckung dieses tieferen Zustands. Und dieser tiefere Zustand bedeutet, dass man sich immer weiter in diese intelligente Dunkelheit hinein bewegt, immer weiter, und plötzlich sogar davon erwacht, und alle Objekte erscheinen wieder, jetzt jedoch im eigenen Bewusstsein – grobstofflich, subtil und kausal, und das ist in Ordnung. Wenn das geschieht, dann gibt es beim Erscheinen dieser Objekte keinerlei Identifikation mit ihnen und kein ausschließliches Verlangen mehr danach.

Frage: Also keine Identifikation mehr mit dem Körper …

KW: Ja, oder dem Geist oder einem der sieben Chakren. Alle sieben Chakren funktionieren weiterhin, doch man ist mit keinem von ihnen mehr identifiziert. Das erste Chakra, Nahrung, man isst, das zweite Chakra, Sexualität, man kann weiterhin Sex haben. Das dritte Chakra ist Intentionalität, man kann weiterhin Absichten haben. Das vierte Chakra ist Liebe, auch das geht weiter, Das fünfte Chakra ist Selbstausdruck, und so weiter. Es gibt Traditionen, bei denen es sich um diese Erfahrungen dreht. Der Neoplatonismus im Westen zum Beispiel, ausgehend von Plotin … – und es ist erstaunlich, dass sich praktisch jede der großen kontemplativen monastischen Traditionen, jüdisch, christlich, islamisch, auf Plotin bezieht. Plotin war für den Westen, was Nagarjuna für den Osten war. Alle Mahayana- und Vajrajana-Traditionen lassen sich bis zu Nagarjuna zurückverfolgen. Diese zwei Menschen erstaunen mich über alle Maßen. Es erscheint mir unvorstellbar, dass Menschen wie sie gelebt haben. Was Nagarjuna im Hinblick auf die Weiterentwicklung zu Turiyatita tat, war, dass er die philosophische Begründung zu dieser Erfahrung darlegte. Ganz berühmt ist das Herzsutra, wo auf zwei Seiten die Essenz davon wiedergegeben wird. Ein Satz fasst die Essenz des Herzsutra zusammen: Form ist nichts anderes als Leerheit, und Leerheit ist nichts anderes als Form. Doch man muss durch den Prozess hindurchgehen. Shankara hat dies für Vedanta klar beschrieben und Ramana Maharshi hat es oft wiederholt:

Die Welt ist eine Illusion
Brahman allein ist wirklich
Brahman ist die Welt

Man muss, mit anderen Worten, die Leerheit wirklich verstehen, man muss wirklich an den Punkt gelangen, an dem man keine ausschließliche Identifikation mehr mit grobstofflichen, subtilen oder kausalen Objekten hat. Hat man das erreicht, dann werden grobstoffliche, subtile und kausale Objekte (alles, was man im visuellen oder sensorischen Feld sehen kann, im sexuellen Körper fühlen kann, im emotionalen Feld fühlen kann, alle Formen im kausalen Tiefschlaf), nicht mehr als Abweichungen und Ablenkungen vom endgültigen Zustand gesehen, sondern als ein Ausdruck und als ein Ornament davon. Was sich verändert, sind die eigenen Motive in Bezug auf diese Objekte. Jedes Objekt der Welt der Form wechselt dann von einer Mangelerscheinung hin zu einer Erscheinung von Fülle und Überfluss, erscheinend in der reinen Fülle der Leerheit. Dies ist eine völlig andere Orientierung, sowohl gegenüber der Leerheit wie auch gegenüber der Form. Wenn Leerheit ausschließlich als Turiya erfahren wird, als ein Bewusstsein frei von Objekten, wo keine Objekte erscheinen, dann existiert dabei immer noch ein subtiler Dualismus, und zwar der von Leerheit gegenüber der Form. Dieser Dualismus wird durch eine Anstrengung aufrecht erhalten als eine Kontraktion um das Herz.

Frage: Es ist eine Anstrengung in diesem Zustand zu bleiben, dem der Formlosigkeit?

KW: Ja. Die Erfahrungskompetente dabei ist kurz gesagt etwa so: Man beginnt damit, die eigene Gegenwärtigkeit zu bemerken, der Geist [mind] entspannt sich, man bemerkt, was geschieht und alles erscheint anstrengungslos, nichts davon braucht eine Anstrengung, weil das, was sich ereignet, sich sowieso ereignet.

Frage: Es ist jenseits von Erfahrung, weil Erfahrung eine Anhaftung voraussetzt?

KW: Ja, und ein anderer, sehr unmittelbarer Grund, warum es jenseits von Erfahrung ist, ist der, auf den ich gleich zurückkomme, und zwar hat eine Erfahrung einen Anfang und ein Ende, doch die Leerheit hat dies nicht. Es ist keine Erfahrung, und das ist die Orientierung dabei.

Der Finger, der zum Mond zeigt

KW: Ich möchte dazu eine erfahrungsorientierte Übung geben, die uns einen Geschmack vom Zeugen geben kann. Wir beginnen damit, einfach wahrzunehmen, was jetzt ist, was erscheint. Wenn du gerade aus dem Fenster schaust, dann siehst du vielleicht Wolken am Himmel und Vögel, die fliegen, alles das ist sehr einfach, es braucht keine Anstrengung, die Dinge erscheinen einfach und ereignen sich spontan. Der Vorgang dabei ist, dass diese Wolken in meiner Bewusstheit erscheinen, doch ich bin nicht diese Wolken. Was wir zuerst dabei machen, ist „neti neti“, ich bin nicht dieses, ich bin nicht jenes, bis zum ICH BIN, was die Loslösung von jeglicher Form ist. Zusätzlich zu den Wolken, die über den Himmel ziehen, gibt es Gedanken, die einem durch den Kopf gehen, die können wir auch jetzt ohne Anstrengung bemerken, da sind einfach diese Gedanken. Und du hörst jetzt auch meine [Audio] Stimme, und auch die erscheint einfach, ohne Anstrengung, und es gibt jetzt schon etwas in dir, ob du es bemerkst oder nicht, in dem all dies erscheint, ohne dass es dazu einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Die Aufmerksamkeit wandert von Objekt zu Objekt. Diese Objekte erscheinen so oder so. Da sind Körperwahrnehmung, die du hast, du hast sie, doch du bist sie nicht. Du hast Gedanken, doch du bist nicht deine Gedanken. Du bist dir der Wolken gewahr, doch du bist nicht diese Wolken. Es gibt etwas in dir, wenn du das erkennst, dass ist der reine Seher – die reine Seherin –, und nicht irgendetwas Gesehenes oder Wahrgenommenes. Das ist das „neti neti“, ich habe meinen Körper, aber ich bin nicht mein Körper, Gedanken gehen mir im Geist umher, aber ich bin nicht meine Gedanken. Ich bin dieses reine Bewusstseinszentrum. Das führt uns zu Turiya, dem Zeugenbewusstsein, als dem reinen, unermesslichen Erleben von Leerheit. Viele Menschen denken, dass wenn sie ihr wahres Selbst finden, dass sie dann etwas sehen oder eine Erfahrung haben, Objekte oder Lichterscheinungen sehen. Doch alles das sind Objekte, alles das ist das, was du nicht bist. Um sicherzugehen, dass du in einem Zustand reinen Gewahrens bist und nicht mit irgendetwas identifiziert bist, kannst du bei deinem normalen Selbst beginnen und einfach fühlen, wer du bist und denken, wer du bist und das erleben. Und alles das, dessen du dir gewahr bist, ist nicht dein wirkliches Selbst. Nichts von dem, dessen du dir jetzt gewahr bist, ist dein wahres Selbst. Es ist noch nicht einmal ein wirkliches Subjekt. Die Selbste, mit denen wir es tagtäglich zu tun haben – wir sind uns etwas bewusst, tun jenes, gehen dort hin, alles das Ich-Zeug ist kein wirkliches Subjekt, es sind Objekte, wir können uns ihrer bewusst sein, auch jetzt. Das ist die Grundlage der kontemplativen Traditionen im Osten und im Westen, das empirische Selbst ist nicht das wahre Selbst. Konventionell ist es so, aber letztendlich ist es das nicht. Der reine Zeuge ist keines der Objekte, die erscheinen und es ist nichts, das gesehen oder gefühlt werden kann. So kann man sich das vorstellen. Ruht man im reinen Zeugen und bemerkt man, dass man nichts von dem ist, was erscheint – „neti neti“, ich bin nicht dies, nicht jenes, dann gibt es doch das ICH BIN. Der Zen-Meister Shibiyama nennt es absolute Subjektivität. Es ist das, was niemals zu einem Objekt gemacht werden kann, und auch nicht zu einem (kleinen) Subjekt. Als die reine Bewusstheit ohne ein Objekt, die sich der Objekte bewusst ist, kann man bestimmte Dinge bemerken. Diejenigen von euch, die mit diesen Zuständen vertraut sind, wissen, dass der reine Zeuge nicht das Letztendliche ist, weil es Turiyatita gibt, wo ein bezeugtes Erleben von Leerheit verschwindet. Doch viele Menschen können ein Gefühl vom Zeugenbewusstsein bekommen, dem reinen ICH BIN –nicht dies, nicht jenes. Wenn man dann im Zeugen ruht, dann erfährt man, dass das Zeugenbewusstsein keine Erfahrung ist. Es ist ein Feld reiner Wahrnehmung, in dem Wolken und Gedanken durchziehen können, in dem die Aufmerksamkeit erscheint und Erfahrungen kommen, verweilen und wieder gehen. Objekte erscheinen, verweilen, plagen einen manchmal und verschwinden auch wieder, und du bist dir deiner selbst bewusst als deinem kleinen Selbst. Das ist immer noch da, schaut sich um, und du bist dir dessen bewusst. Doch dieses Gewahrsein selbst hat weder einen Anfang noch ein Ende. Das ist eine der Notwendigkeiten dabei, dass man dort tief genug eindringt, um das zu erreichen, um zu erfahren, dass es keine Erfahrung ist, und das ist dann die letzte Erfahrung, die man macht.

Jenseits des Vierten

Man kann dieses Bewusstsein (wieder)erkennen. Erfahrungen kommen und gehen, doch was nicht kommt und geht ist so sehr eine Nicht-Erfahrung, dass es oft das Ungeborene und Ungeschaffene genannt wird, weil es niemals in den Strom der Zeit eintritt.

Frage: Das führt mich zu den [Bewusstseins]Strukturen. Ich hatte vor etwa einem Jahr eine Erfahrung, und es war nicht wirklich eine Erfahrung. Meine Herzfrequenz beschleunigte sich für etwa eine Woche und es schüttelte mich am ganzen Körper. Dann ereignete sich etwas Merkwürdiges, sehr einfach und sehr subtil, was ich so beschreiben möchte, dass eine Verbindung zu dem Raum entstand, in dem sich etwas ereignet – und es gab kein Ich, das irgendetwas verursachte …

KW: Das ist Turiyatita …

Frage: … und das veränderte alles, auf eine sehr merkwürdige Weise. Es war wie ein Blitz, der in meinen Körper einschlug und es schüttelte mich für etwa eine Woche wie ein Blitz. Danach gab es eine Art körperliches Erleuchten. Ich sprach mit Menschen, ohne darüber nachzudenken, was ich sagen würde, nichts war wie früher, und die Menschen waren sehr bewegt und weinten, es war so merkwürdig, und bei mir hatte eine Ausdehnung stattgefunden. Ich denke nicht, dass das Thema der Strukturinterpretationen darauf zutrifft.

KW: Ja, das findet vollständig außerhalb dieser Welt statt, keine Frage. Doch was du beschreibst, ist dem nächsten Schritt sehr nahe, weil eines der Dinge, die sich ereignen – und das ist nur ein kleiner Geschmack davon, man kann das über Jahre der Praxis immer weiter vertiefen –, doch dieses ICH BIN ist ein SELBST, was weder gesehen noch gefühlt noch berührt noch gehört werden kann. Daher ist es niemals ein Objekt. Alles, was man wahrnimmt, wenn man nach seinem wahren Selbst Ausschau hält, ist ein unermessliches Erleben von Freiheit, als eine Freiheit von Objekten, und diese Freiheit ist kein weiteres Objekt. Es ist die Freiheit von Erfahrungen und nicht nur eine weitere Erfahrung. Es ist die Befreiung aus der Zeit und nicht noch mehr Zeit. Zeit beginnt, verläuft, vergeht, Menschen bewegen sich und machen Erfahrungen, doch all das ist nicht das, was man ist.

Frage: Das Paradoxon, welches diesen Zustand für mich ausgelöst hat, war die Verwirklichung einer Möglichkeit, und „Möglichkeit“ ist das Wort, das für mich am nächsten kommt, ohne daraus ein weiteres Ding zu machen. Diese Möglichkeit als Möglichkeit war in sich selbst eine Möglichkeit. Das war der Blitzschlag.

KW: Ich finde dies eine sehr gute Definition für dasjenige, was man haben muss, bevor man irgendetwas anderes haben kann. Was passieren kann, ist, dass Menschen in diesen Zustand von Freiheit kommen. Wenn man dort hineingelangt – ohne zu drängen – und dort ruht ohne zu ruhen [als eine Aktivität], und dort verweilt ohne sich festzuhalten, dann ist dieses Erfassen von Bewusstheit ohne ein Objekt die große Befreiung. Selbst das Wort Bewusstheit trifft es nicht, Leerheit trifft es besser – und diese Leerheit ist leer. Wenn man also Leerheit [als ein Wahrnehmungsobjekt] erfährt, ist es nicht diese Leerheit. Und alles was man tut ist „neti neti“, und man erreicht und erkennt es niemals in einem Objekt der Zeit, weil das wieder „neti neti“ ist. Es ist etwas, was immer schon vollständig gegenwärtig ist, als der grundlose Grund und das reine Ungeborene, Ungeschaffene, Unmanifeste, Unbegrenzte, doch wenn man sich dessen als „Unendlichkeit“ bewusst ist, dann ist es das nicht. Bleibt man in dieser unmanifesten Absorption, dann verhindern die „Physik und Mechanik“ dieses Raumes, dass Objekte im Bewusstsein auftauchen.
Kommt man dort wieder heraus, bezeugt man Objekte, die erscheinen, bei vielleicht vollständigem Desinteresse, wie ein Spiegel und seine Objekte, und das ist das, was mit dem spiegelnden Bewusstsein gemeint ist. Ein Objekt taucht auf, und ohne die geringste Anhaftung oder ein Ergreifen wollen reflektiert das Bewusstsein das Objekt. Das gilt auch für das Gewahren des eigenen Selbst, auch dies ist ein Objekt, das gespiegelt wird. Diese Wahrnehmung geschieht bereits schon, es ist unmöglich, sie nicht zu haben. Es geht darum,das zu erkennen. Du hörst meine Stimme, hast Sinneswahrnehmungen, nimmst dein kontrahiertes Selbst wahr – das ist es. Und wenn man das nicht mitbekommt, dann ist ES das, was es nicht mitbekommt. Daher ist es unmöglich, es zu vermeiden. Der Seinsgrund wird oft als ein Zeuge erfahren. Wenn der Zeuge sich auflöst geschieht folgendes: Man sitzt, man bezeugt als spiegelnder Geist, Dinge erscheinen, Verlangen erscheint, und wenn Verlangen erscheint, dann versucht man nicht, das Verlangen zu beenden, sondern ist sich einfach dessen bewusst, als ein spiegelnder Geist. Man betrachtet zum Beispiel einen Berg, und „betrachten“ ist eigentlich zu viel gesagt. Der Berg erscheint im Bewusstsein, und es gibt Bewusstheit und den spiegelnden Geist, und Soheit bedeutet dann, in einem Zen-Wort, dass „der Boden des Eimers durchbricht“. Das Empfinden hinter seinem Gesicht zu sein und von dort den Berg zu betrachten verschwindet. Alles, was übrig bleibt, ist eine Wahrnehmung von Gesicht, und man ist gleichermaßen beides. Man schaut nicht auf den Berg, man ist der Berg. Man kann diesen Berg schmecken, er ist das Innere dessen, was man im Kopf hat, es ist die Substanz dessen, wer und was man ist. Man ist der Berg und es gibt kein Betrachten. Etwa wie: ich sehe den Berg, wie er sich selbst sieht. Ein traditionelle Beschreibung wäre: Der Berg erscheint selbstbefreit in das, was er ist. Er erscheint ohne irgendein Anhaften, so wie er ist, in dieser unermesslichen Geräumigkeit. Und wenn man irgendetwas ist, dann ist man dieses Feld, indem das erscheint, doch wenn man dieses Feld als ein Inhalt fühlt, dann ist es das nicht, sondern lediglich ein weiterer Inhalt.

Frage: Es gibt einen Moment, wo man diesen Raum fühlt, der jedoch nicht dieser Raum ist.

KW: Ja, eine Erfahrung, die keine Erfahrung mehr ist. Die reine, immer schon gegenwärtige Istheit, eine Transparenz, die immer schon da ist, und du bist einfach diese unermessliche Gesamtheit.

Involution, wie sie noch nie gesehen wurde

Frage: Für mich geht es immer noch um die Frage der Rolle der [Bewusstseins]strukturen. Ist es so, dass die Kontraktion ein Ergebnis dessen ist, dass die Strukturen diese Erfahrung – oder wie auch immer wir das nennen – nicht erlauben? Meine andere Frage ist: Gibt es irgendetwas, was jemand aktiv tun kann, um die Ebene von Komplexität einer Bewusstseinsstruktur zu erhöhen, welche dann wiederum diese Erfahrung möglich macht?

KW: Auch in der tiefen Erfahrung von Turiya, dem Zustand des ICH BIN, dem Zeugenbewusstsein, Big Mind – und das ist wirklich ein Aspekt der Unendlichkeit, im Vedanta ist das ein Teil von Saguna Brahman, Brahman mit Eigenschaften –, gibt es immer noch eine subtile Identifikation. Auf der einen Seite gibt es den Zeugen und auf der anderen Seite das Bezeugte, als eine subtile Dualität, beispielsweise eine subtile Erfahrung von Seligkeit, und all das ist Saguna Brahman. Und dann gibt es Nirguna Brahman, wo all das wegfällt oder fallengelassen wird, der Raum in dem alles erscheint, der jedoch kein Wahrnehmungsobjekt ist. Ich möchte an dieser Stelle die Namen der Selbste aufführen, so wie ich sie bezeichne. Das Selbstempfinden, das man im grobstofflichen Bereich hat, nenne ich das Ego [als ein grobstofflich orientiertes Ich]. Das Selbst, das sich im subtilen Raum orientiert und durch und von diesem Bereich aus schaut, nenne ich Seele. Das Selbst, das den kausalen Bereich betrachtet – und bei dieser Definition werden kausal und Turiya zusammengefasst, so dass wir vier Hauptzustände haben – , ist das wahre Selbst oder der leere Zeuge. Das Selbstempfinden im und aus dem Nicht-dualen heraus ist die Soheit. Wir haben also mit diesem Modell vier generelle Orientierungen des Selbst [je nach Wahrnehmungsbereich]: Ego, Seele, Selbst und Soheit. Doch es gibt zwei Achsen, entlang derer wir uns entwickeln. Das eine ist die vertikale Achse der Entwicklungsstufen und Strukturen und das andere ist die horizontale Achse der Zustände. Man kann das im Wilber-Combs-Raster darstellen, wo die Entwicklungsstrukturen vertikal und die Zustandsstufen horizontal aufgetragen sind. Man beginnt bezüglich der Strukturen bei Infrarot, als einer grobstofflichen Orientierung. Auf eine Weise durchläuft jeder Mensch die Zustandsstufen und zwar aller vierundzwanzig Stunden, von Wachen, Träumen zum traumlosen Tiefschlaf. Sogar in jeder Sekunde beginnen wir in der Soheit und ziehen uns dann zuerst zusammen zum Zeugenbewusstsein, dann zu subtileren, emotionalen Formen und gelangen schließlich zum grobstofflichen Bereich, wo konkrete Objekte gesehen werden. Es gibt eine Mikrogenese, eine Phylogenese, eine Ontogenese, eine Kosmogenese, als Schöpfungen von Augenblick zu Augenblick. Diese Zustände durchlaufen wir von Augenblick zu Augenblick und haben Zugang zu ihnen, und unser Bewusstseinsschwerpunkt bewegt sich in einer sequentiellen Abfolge durch sie hindurch, vom Grobstofflichen zum Subtilen zum Kausalen zum Nichtdualen. Der Grund dafür, warum es sich um eine sequentielle Abfolge handelt, obwohl alle diese Zustände immer gegenwärtig sind, und zwar praktisch seit unserer Geburt, ist der, dass Wachheit (im engl. großgeschrieben) im Wachzustand beginnt. Daher nennt man ihn auch den Wachzustand, doch es ist nicht der einzige Zustand, in dem Wachheit möglich ist. Doch die Wachheit beginnt dort ihre „Karriere“. Die meisten Menschen, die sich schlafen legen, verlieren die Wachheit, die sie im Wachzustand haben, und im tiefen formlosen Tiefschlaf verschwindet die Wachheit ganz. Doch es beginnt im Wachzustand und nicht zum Beispiel im Traumzustand. Menschen beginnen nicht damit, im Traumzustand wach zu sein und diese Wachheit zu verlieren, wenn sie aufwachen. Daher die Abfolge des Erwachens in den Zustandsstufen des Bewusstseins. Diese Abfolge finden wir auch in den Landkarten der großen meditativen Wege und auch in Studien, die sich mit diesen Wegen beschäftigen. Daniel P. Browns Studie habe ich beispielsweise im Buch Psychologie der Befreiung angeführt, oder auch Evelyn Underhills einfaches Vier-(Zustands-)Stufen-Modell zeigt diesen Weg auf [in ihrem Buch Mystik]. Im grobstofflichen Bereich nennt sie das Reinigung, danach subtile Erleuchtung, im Kausalen die dunkle Nacht und dann nicht-duale Vereinigung. Zustandsstufenabfolgen dieser Art finden wir überall auf der Welt. Auf praktisch jeder der Strukturstufen kann man [im Bild des Wilber-Combs-Rasters] eine Abzweigung nach rechts nehmen und den Weg durch diese Zustandsstufen hindurch nehmen – z. B. durch die Aufnahme eines meditativen Trainings, bei dem zuerst die grobstofflichen Objekte, dann die subtilen Objekte, dann die kausalen Objekte losgelassen werden und – peng – ist man aus dem sich drehenden Rad ausgestiegen. Dringt man dann noch weiter vor, ist man – peng – wieder im Rad, und jetzt beginnen die Paradoxien. Es gibt niemanden zu retten, was zum Teufel tue ich hier eigentlich, und warum sollte ich dich retten? [Lachen] Das ist ein wirkliches Dilemma. Diese Abfolge ist wirklich sehr bedeutend, ob wir in der nicht-dualen Soheit beginnen und uns bis zum Grobstofflichen kontrahieren, oder ob wir bei unserer Wachheit im Grobstofflichen beginnen, als eine permanente Eigenschaft, und diese auf einem meditativen Weg in subtile, kausale und nicht-duale Bereiche hineinbringen, wo uns die große Befreiung erwarten, Big Mind und Soheit. Es gibt jede Menge gute Gründe, dies zu tun. Doch was dabei nicht gesehen werden kann, ist eine Bewusstseinsstruktur. Alle Übungen, die wir gerade durchgegangen sind, von grobstofflichen Objekten wie Bergen zu subtilen Objekten wie Gedanken zu kausalen Objekten wie dem Zeugen bis zur nicht-dualen Soheit – du bist der Berg –, bei all dem, was wir uns auf diesem Weg angeschaut haben, haben wir keine einzige Bewusstseinsstruktur gesehen. Und als eine Fußnote dazu: Wir haben auf diesem Weg auch keinen einzigen Schatten gesehen. Wir haben weder Bewusstseinsstrukturen noch Schatten gesehen, weil man die auf diese Weise nicht sehen kann. Das ist das Problem. Das was an Psychologie in den kontemplativen Traditionen enthalten ist, gibt uns kein detailliertes Verständnis dieser Strukturen, und an Stellen, an denen wir das finden, sind die Beschreibungen sehr allgemein, weil man diese Dinge durch Introspektion nicht gut erkennen kann. Dadurch entgehen einem wirklich wichtige Dinge. Als ein Beispiel: Vedanta erkennt diese Strukturen und nennt sie Hüllen. Diese Hüllen, von denen es fünf gibt, sind die Hülle von Nahrung, von Prana, von Geist, von höherem Geist und die Hülle von Seligkeit. Die dritte Hülle, die Hülle von Geist, enthält dabei alle sechs Stufen des ersten Rangs von Spiral Dynamics [Beige, Purpur, Rot, Blau, Orange und Grün]. Diese Genauigkeit geht also nicht sehr weit. Wenn man beispielsweise die Kulturkriege in diesem Land [USA] verstehen und erklären will, dann hilft einem dieses Modell nicht weiter.

Arhats und Bodhisattvas

Frage: Die Bewusstseinsstruktur ist dann also zugleich Kontext und Inhalt, man kann sie als einen Kontext [oder Bewusstseinshintergrund] nicht sehen, doch in dem Augenblick, wo man sie [z. B. in der Meditation] erkennt, wird sie zu einem Bewusstseinsinhalt.

KW: Ja, auf eine unscharfe und ungenaue Weise. Diese Strukturen sind nicht völlig unbewusst, und man kann sie [z. B. in der Meditation] unscharf wahrnehmen. Was die westlichen Strukturmodelle hingegen nicht erkennen, sind der höhere Geist und die Seligkeitshülle, Anandamayakosha, doch die Stufen darunter hat der Westen in einer großen Detailschärfe erkannt und beschrieben. Viele der großen Entwicklungsforscher erkannten einige wenige Menschen auf den höheren Entwicklungsebenen und postulierten daraufhin höhere Entwicklungsstrukturstufen. Abraham Maslov erkannte die unteren sechs Stufen und postulierte noch höhere Stufen von Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz, Lawrence Kohlberg postulierte eine universelle moralische Entwicklungsstufe und so weiter. Der Grund dafür, warum westliche Entwicklungsforscher diese höheren zwei oder drei Stufen nicht gesehen haben, liegt nicht darin, dass sie anti-spirituell waren. Sie trafen jedoch innerhalb der Population, die sie studierten, nur auf sehr wenige Menschen auf diesen Stufen, so dass sie diese Stufen nicht in ihre Landkarten mit aufnahmen. Doch wenn sie auf Tausende von Menschen auf den höheren Stufen getroffen wären, dann hätten sie davon berichtet. Was der Westen im Hinblick auf diese Strukturen bringt, ist sehr hilfreich – man kann auf der roten, bernstein, blauen, orangen, grünen Strukturstufe sein, und sie alle sind Anandamayakosha. Verwendet man lediglich Vedanta, Vajrayana oder das Chakra-System usw., dann kann man vieles von dem, was gerade geschieht und was wichtig ist, nicht erkennen. Man erkennt keine Kulturkriege, weder da draußen noch in einem selbst. Die Hinzufügung der westlichen Strukturen [zu den kontemplativen Zustandsstufen] ist daher sehr hilfreich. 

Und das führt uns zurück zu unserer ursprünglichen Frage – warum sollte man sich [aus der Erfahrung der Absolutheit und Vollkommenheit heraus] noch um irgendetwas oder irgendwen kümmern?

Frage: Ja.

KW: Darauf gibt es eine Reihe von Antworten. Die erste ist: Frage Nagarjuna und er gibt dir eine Antwort. Er begründet, warum man ein Bodhisattva und nicht ein Arhat sein sollte. Die Traditionen beantworten dies auf zwei Weisen. Zum einen: Weil wir es versprochen haben.

Frage: Wirklich? Wann habe ich das versprochen? [Lachen]

KW: Es gibt das Bodhisattva-Gelübde.

Frage: Das Versprechen, immer wiederzukommen.

KW: Ja, es ist ein Versprechen. Die zweite Antwort darauf ist, dass, wenn man in das Rauschen des Windes in den Blättern als eine Gesamtheit hinein fühlt, als ein Bild für die Welt der Formen, dann wird diese Welt der Formen zu einer Ornamentierung und eines Gewebes des eigenen SELBST. Und ein SELBST, das sich in der Welt der Formen nicht zurechtfindet und dort auch nicht helfen kann, ist eine mangelhafte Verwirklichung. Es geht also darum, sich in Turiyatita immer tiefer einzufühlen, um die Welt der Formen zu sehen und sich nicht davon abzuwenden. Das ist die Praxis, und diese Praxis ist nicht völlig anders als die des Arhat, als ein reines Bezeugen, ohne sich zu identifizieren. Das sollte man eigentlich schon auf dem „Weg nach oben“ getan haben. 

Frage: Der Impuls selbst formt die Form.

KW: Ja, eine gestaltende Form. Viele der Traditionen, die mit Turiyatita arbeiten, verwenden ähnliche Formulierungen. Als ein menschliches Wesen auf dem Weg nach oben in die Leerheit ist es sehr schwierig, jegliches Verlangen von grobstofflichen, subtilen und kausalen Formen zurückzulassen. Wenn wir dann in das Nichtduale eintreten, dann begegnen wir wieder grobstofflichen, subtilen und kausalen Objekten, Objekten der ersten sechs Chakren, und daher setzt sich die Praxis auf dem Weg nach unten weiter fort. Und das meint genau dies – das Erkennen dieser Objekte als das Gewebe meiner eigenen Wesensnatur und sich nicht von ihnen zurückzuziehen. Als ein Bodhisattva hat man dies versprochen. Natürlich hat man das Gewebe von Turiyatita nicht verstanden, wenn man seine strahlende und leere Eigenschaft nicht erkannt hat.

Frage: Kann es nicht auch sein, dass das Versprechen, dies zu tun, auch eine Form von Anhaftung sein kann?

KW: Für Menschen, ja. Das zu vermeiden ist sehr schwierig, und es ist ein Zugeständnis an das Menschsein. Doch das ist ein großes Thema. Sogar im Mahayana wird die Frage gestellt: Lehren wir Mitgefühl auf dem Weg nach oben oder entsteht nicht sowieso Mitgefühl, wenn man eine große Satori-Erfahrung hat? 

Frage: Genau. Das ist genau das, ich was ich denke. Entspannt man sich in die Satori-Erfahrung, dann zeigt sich Mitgefühl als gestaltende Form.

KW: Ja, richtig, und dennoch lohnt es sich, dies schon auf dem Weg nach oben zu trainieren. Ich denke es ist keine Sache von entweder/oder, weil Menschen als Menschen letztlich beides machen. Die Praxis von Mitgefühl hilft auf dem Weg nach oben, und auf dem Weg nach unten hält man danach spontan Ausschau.

Frage: Ja, das macht Sinn.

KW: Ich denke, das ist das, was geschieht, und es ist eine ehrliche Weise dies zu tun. Im Hinblick auf das Gewebe geht es darum, den Schmerz voll zu erleben und gleichzeitig seine Transparenz zu sehen. Eine Formulierung, die ich dafür verwende: Je mehr man meditiert, umso mehr tut es weh und umso weniger kümmert es einen. Man wird sehr viel empfindsamer, weil man sehr viel offener ist, nicht kontrahiert und alles in einen hinein strömt. Es tut höllisch weh. Man bleibt offen dabei und zieht sich nicht zusammen und kontrahiert nicht. Wenn es keine Grenze gibt zwischen dir und dem Schmerz, dann hat der Schmerz nichts, wo er durchbrechen könnte.

Frage: Schmerz und Mitgefühl sind eins – nicht-dual.

KW: Ja. Das ist eine wirkliche Veränderung, auf welche Weise man in Beziehung steht zu allem, was erscheint. Wenn man verstanden hat, dass die Welt der Formen eine Ornamentierung meiner eigenen Manifestation ist, dann entspringt dem Herzen ein überströmender Ruf – Suzuki hat einmal gesagt, und er bezieht sich auf Meister Eckhart, dass Erleuchtung wie das Rufen in einem Tal ist: Man hört das Echo des Rufens. Ich habe das früher nicht verstanden, doch es ist ein Ruf oder Rufen, das gesamte manifeste Universum ist ein Ruf der Freude und überall ertönt ein Echo im Anderen. Ruft man also nicht, hat man das Versprechen gebrochen und wird wieder zu einem Arhat. Es ist dieses heikle Verständnis beider Seiten – ein sich immer weiter entwickelndes Universum und das EINE, die Vielen und das EINE, und in beides hineinzufühlen. Die Traditionen haben unterschiedliche Benennungen dafür, um Menschen daran zu erinnern. Die verbreitetste Formulierung im tibetischen Buddhismus und dem Dzogchen ist die Vorstellung der Selbstbefreiung, und zwar nicht nur für Menschen; sondern alles, was erscheint, ist selbst-befreit in seinem eigenen Zustand. Das bedeutet, es erscheint in seinem eigenen Raum, und du bist dieser Raum, solange bis du das erkennst, und dann bist du es nicht mehr, und dann taucht der nächste Augenblick auf. Es geht darum, beides zu erkennen, den Raum und sich nicht damit zu identifizieren. Wenn man das tut, ist es vorbei und der nächste Augenblick erscheint.

Frage: Das ist cool.

KW: Ja, lasse das Ego sich entspannen, lasse die Selbstkontraktion sich entspannen, in die unermessliche Ausdehnung allen Raumes.

Frage: Das zu haben, was man hat …

KW: … und zu erkennen, dass es immer schon erkannt ist.

Frage: Das, was hat und das Gehabte.

KW: Ja, gleichzeitig, und das Wer ist frei davon, das Wer löst sich auf und man hat es wieder. Es ist frei und man hat es, hat es, hat es. Beide Seiten. Es ist diese Selbstbefreiung von Augenblick zu Augenblick, so wie es ist.
Ein weiterer, sehr verbreiteter Satz dafür ist: Lass alles erscheinen, so wie es ist, und alles ist selbst-befreit, so wie es ist. All dies geschieht in der unermesslichen Leerheit allen Raumes. Und wenn man irgendetwas ist, dann ist es diese Geräumigkeit, diese absolut unendliche Geräumigkeit, innerhalb derer alles erscheint.

Ewigkeit in Liebe

Frage: Meine Frage bezieht sich auf den ersten Teil der Frage [eines Teilnehmers]. Um dem etwas entgegenzusetzen: Es geht doch um das Gefühl, das was ist, ganz zu liebe und sich ganz darauf einzulassen. Die Leerheit alleine hat etwas Trockenes. Worum es geht, ist doch, dass wir dabei ganz anwesend sind und in einer Liebesbeziehung zu dem stehen, was ist. 

KW: Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt. Hierbei kommen wir zur Fülle, zur überströmenden Manifestation und zur Liebe. Es gibt diesen wundervollen Satz, ich glaube er ist von Blake: „Die Ewigkeit ist in einer Liebesbeziehung mit den Manifestationen der Zeit.“ Ich denke auch, dass das Leben so angelegt ist, dass wir in dieser Liebesbeziehung zu dem, was ist, leben aus reiner Liebe heraus und nicht aus einer Anhaftung oder Abhängigkeit. Dabei hilft uns das Erkennen der Leerheit darin. Doch das Kreisen in der Leerheit gibt uns noch nicht die Leidenschaft, die Schönheit, die Wahrheit und das Gute dieser Überfülle. Ich mag die Vorstellung der frühen yogischen Philosophie mit Shiva und Shakti. Shiva ist männlich, die reine Leerheit, das Zeugenbewusstsein, von dem gesagt wird, dass es im siebten Chakra wohnt und keinerlei Berührung mit der Manifestation hat. Shakti, das Feminine, die Einheit des Kundalini, als die Gesamtheit der Manifestation, Shakti ist „wie eine Frau“, tanzendes Leuchten und strahlende Seligkeit und Freude. Worum es dabei geht, ist, beides zusammen zu bringen. Shiva ist hoffnungslos in Shakti verliebt, als die unermessliche Öffnung und Leerheit, und Shakti ist alles das, was erscheint, das gesamte leuchtende Universum, dieses unermessliche Licht, ein spielerischer Tanz von Augenblick zu Augenblick. Shiva ist die reine maskuline Präsenz und Shakti ist das Strahlen und Leuchten. Es ist die Einheit von Leerheit und Leuchten, um die es nicht nur im Yoga geht, sondern auch im Dzogchen. Ich mag das, weil es uns gewissermaßen im Spiel lässt, es erinnert uns daran, dass es diesen liebenden Geschmack in all dem gibt, was geschieht. Wenn wir dazu die Vorstellung von Gott als eine zweite Person hinzunehmen, dann bedeutet dies auch eine intensive Liebesbeziehung mit dem gesamten Universum. Selbst in dem Mythos „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab …“ geht es um diese Vorstellung.

Frage: Ich habe dabei die Vorstellung eines Tanzes. Was wäre dieser Tanz wenn niemand zuschaut, und was wäre das Zuschauen ohne den Tanz? Beides ist wichtig.

KW: Das ist auch die Antwort auf die Frage, die z. B. [George] Berkeley gestellt hat in dem Versuch, daraus eine Philosophie zu entwickeln, und zwar die Frage, ob etwas existiert, bevor es gesehen wird. Existiert ein Baum, auch wenn niemand ihn sieht? Und die Antwort ist „ja“, weil Gott ihn sieht, das ICH BIN ist immer gegenwärtig. Ich denke, er hatte eine entsprechende tiefgreifende Erfahrung gemacht und versuchte in seiner Philosophie alles in Verbindung zum Big Mind zu setzen, Big Mind als dem Geist Gottes …

Ich mag diese Darstellungen [von Shiva und Shakti] und habe davon auch welche in meinem Loft aufgehängt: Shiva und Shakti in sexueller Vereinigung in der Lotus-Position und einander zugewandt. Das repräsentiert den letztendlichen Zustand. In der tibetischen Tradition gibt es viele Darstellungen davon, farbig und ornamentiert. Das ist sehr tantrisch, ein Spiel mit all diesen Ornamenten, dem Leuchten und der Überfülle. Sieht man Dinge wie Vajrasattva oder Avalokiteshvara und all die Buddhas und Bodhisattvas – sie alle sind reich ornamentiert, haben Glöckchen, Vajras [ein buddhistisches Ritualobjekt] usw. Doch die eine Ikone, die keinerlei Dekorationen hat, ist die von einem nackten Mann und einer nackten Frau in Vereinigung. Das ist Samantabhadra und Samantabhadri, maskulin und feminin, die höchste Ikone, die höchste Verwirklichung. Die Nacktheit bedeutet das nackte Gewahrsein. Das war auch der Namensgeber für unsere Webseite „integral naked“. Dort gibt es nichts hinzuzufügen. Das nackte Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick ist das, was ist.

Die selbstbefreiende Natur der Wirklichkeit

KW: Es gibt vier Zeilen, als die geheime, letztendliche Lehre im Mahamudra. Wir haben über jede davon schon gesprochen. Ich spreche die Aussagen darüber zuerst aus meiner Erinnerung, und dann können wir über deren Bedeutung reden.

Alles ist GEIST.
GEIST ist leer. 
Leerheit manifestiert sich frei.
Freies Manifestieren ist selbst-befreiend.

Die erste Aussage „Alles ist Geist“ bedeutet, dass alle Objekte, grobstofflich, subtil und kausal, in der eigenen Wahrnehmung erscheinen. Wir haben das in einer kleinen Übung schon erfahren. Es kann sich um ein grobstoffliches physisches Objekt handeln, die gesamte Natur; oder ein subtiles emotionales Objekt ,ein Körperempfinden, ein Gefühl, ein Gedanke, eine Erleuchtung oder Einsicht; oder ein kausales Objekt, als etwas sehr sehr subtiles, Seligkeit, Liebe, all-umfassend, alles dies erscheint nirgendwo anders als in der eigenen Wahrnehmung. Dabei gibt es den Aspekt von Gewahrsein, als dem Raum, in dem alles erscheint. Wenn wir sagen, dass Gedanken im eigenen Gewahrsein auftauchen, dann ist man selbst dieser Raum von Gewahrsein. Die Unbegrenztheit dieses Raumes ist der wahre GEIST, das ist Big Mind. Zusätzlich zu diesem Gewahrsein, was bereits immer schon anstrengungslos vorhanden ist, man muss nichts tun, damit dies geschieht, um z. B. meine Stimme zu hören – Big Mind hört zu, Gott hört zu, doch zusätzlich dazu gibt es eine Spannung, und diese Spannung ist fokussiertes Gewahrsein oder konzentrierte Aufmerksamkeit. Dieser Fokus ist gerichtet auf grobstoffliche, subtile und kausale Objekte, zusammen mit einer Identifikation. Mit dieser Identifikation erfolgt die Selbstkontraktion, als das Empfinden eines separaten Selbst, das Ego im negativen Sinn. Das endliche Selbst (oder die Selbste), derer man gewahr ist und die man „Selbst“ nennt, ist nicht einmal ein wirkliches Subjekt, es ist ein Objekt. Wenn wir denken, es sei ein Subjekt und sagen: „Ja, ich werde da sein“, „ Ich sehe es“, „Ich verstehe, was du meinst“, dann ist das eine Lüge. Es handelt sich um ein Objekt und nicht um ein Subjekt. Die Gesamtsumme dessen, was man über sich selbst weiss, ist nicht das wahre SELBST. Daher ist es ein Geheimnis. Doch alle diese Objekte erscheinen im eigenen Geist, das sagt die erste Aussage – alles ist GEIST und das meint Big Mind. 

Die zweite Aussage lautet: GEIST ist leer. Weil es Gewahrsein ist, hat es keine Eigenschaften. Es kann noch nicht einmal als ein Objekt – oder Subjekt – gesehen oder gefühlt werden. Es ist die unermessliche Ausdehnung allen Raumes – und kein Raum. GEIST ist leer. Auf diese unermessliche Leerheit kann man sich konzentrieren, so dass keinerlei Objekte mehr erscheinen. Und das ist der Theravaden Buddhismus. Doch die folgenden zwei Aussagen sind sehr ähnlich zu der Aussage Shankaras: „Die Welt ist Illusion – Brahman allein ist wirklich – Brahman ist die Welt“. Hier kommt die Manifestation hinzu, das Überfließende.

Die dritte Aussage lautet: „Leerheit manifestiert sich frei“. Alles ist spontan gegenwärtig. Das bedeutet, dass diese unermessliche Leerheit nicht nur Leerheit ist. Darauf hat Mahayana immer hingewiesen. Die unermessliche Leerheit ist kein Auto und auch keine Wolke, es ist kein Baum und kein Gedanke, es ist leer. Die Leerheit nimmt wahr was geschieht. Ich erkenne, dass alles GEIST ist, ich erkenne, dass GEIST leer ist, doch diese Leerheit manifestiert sich frei, sie entäußert sich spontan und überfließend, und das ist die dritte Aussage. Bei der vierten Aussage geht es darum, wie wir gegenüber dieser überströmenden Liebe frei von Anhaftungen bleiben. Das bedeutet, freies Manifestieren ist selbst-befreiend. Es heißt, dass alles, was von Augenblick zu Augenblick erscheint, nichts „klebriges“ an sich hat. Das Gewahrsein muss nicht daran hängen blieben. Der Wind weht durch die Bäume und Blätter und hält dabei nicht an, er fließt frei hindurch. Und alles, was frei fließt und sich frei manifestiert, ist selbstbefreiend, so lange man selbst nicht da ist. Gibt es eine Wahrnehmung von Ich, dann ist dies die eigene Aufmerksamkeit. Man ist dann nicht mehr die unermessliche Geräumigkeit, sondern man ist in der Selbstkontraktion. Sobald man also eine Wahrnehmung von sich selbst erlebt, dann sollte man diese loswerden, nicht wahr? Nein, es ist einfach das, was es ist, und es ist in Ordnung.

Frage: Die Beatles würden sagen: Let it be.

KW: Ja, und wenn man es nicht sein lassen kann, dann kann man es nicht sein lassen, und kann dann einfach nur sein. Man kann dabei nichts falsch machen, darum geht es. Nichts, was man tun kann, verletzt diese Leerheit. Dann ist man frei. Man kann es auch anders formulieren, auf eine Weise, wie Adi Da es formulierte, und ich denke, dass er in diesem Fall genau richtig liegt. In wirklich schlimmen Augenblicken, wenn man leidet, dann beginnt man zu verstehen. Doch wenn man auch in guten Augenblicken erkennt, dass man immer noch leidet, dann beginnt man wirklich zu verstehen. Wenn man jedoch erkennt, dass man in seinen besten und schlimmsten Momenten immer leidet, dann versteht man. Jede Bewegung, die man macht, um es zu erlangen, setzt voraus, dass es nicht bereits schon gegenwärtig ist. Daher wird es verpasst mit jeder Bewegung dahin. Das ist die negative Seite. Die positive Seite ist – es spielt keine Rolle. Es ist immer richtig, so wie es ist.

Frage: Auch innerhalb des Gedankens „Es ist nicht richtig“ ist es richtig. Auch wenn man es nicht lassen kann, wie es ist, ist es in Ordnung. Man lässt dies dann auch sein wie es ist.

KW: Das ist das Geheimnis. Es gibt – im Neuplatonismus und speziell im Dzogchen – viele unterschiedliche Aussagen, die im Wesentlichen immer etwas aussagen wie „Es ist zu nahe, um es zu erlangen. Es ist zu einfach, um es zu glauben“ usw. Es ist noch viel einfacher, als man es sich vorstellen kann. Es ist immer-schon der Fall. Es ist nicht schon der Fall, es ist immer-schon der Fall und kann nicht erlangt werden, durch keinerlei Anstrengung. Manche strengen sich wirklich dabei an, doch es funktioniert nicht. Dies ist übrigens auch ein Beweis für die Omnipräsenz Gottes. Das ICH BIN, das Allumfassende, ist die Verbindung zwischen der Allumfassendheit und einem selbst. Kein Individuum ist Gott, das ergibt keinen Sinn, es sei denn, man ist paranoid oder schizophren. Doch jeder Mensch ist identisch mit Gott, im Sinne von eins mit Gott, wenn diese Verbindung besteht – zu Gott als der höchsten Identität. Eines der Dinge, was diese Verbindung vom Menschen zu Gott ermöglicht, ist, dass Menschen Gott in Begriffen einer ersten, zweiten und dritten Person erkennen/erfahren können. Gott – gesehen in Begriffen einer dritten Person – kann das große Gewebe des Lebens sein oder der allumfassende Raum oder andere Erkenntnisweisen einer dritten Person als Aspekte Gottes, die als eine dritte Person wahrgenommen werden – als Saguna Brahman. Saguna Brahman hat verschiedene Eigenschaften, die es mit menschlichen Wesen gemeinsam hat. Traditionell ist dies Bewusstsein und Seligkeit. Doch Bewusstsein kann – und das fügt die integrale Theorie hinzu – Gott als eine erste, zweite und dritte Person erkennen. Wann immer man also GEIST als eine dritte Person wahrnimmt, als ein pantheistisches Alles-was-erscheint, dann ist dies ein Erkennen-als-ein-Objekt, und das ist OK. Das ist es. Und man kann Gott ebenso als eine zweite Person sehen. Stellt man sich beispielsweise einen großen Schöpfer oder Künstler oder eine große Intelligenz vor, oder einfach nur eine große Seele, die alles das erschaffen hat, was man aus der Perspektive einer dritten Person sieht, den gesamten Raum, den Grand Canyon, Gaia, das große Gewebe des Lebens – dann erfährt man Gott als ein großes DU, zu dem man auch sprechen kann. Dies kann man unterschiedlich variieren. Man kann sich – als Mann oder Frau – z. B. als Shiva vorstellen, verzückt in Liebe zur geliebten Shakti. Shakti ist hierbei Gott als zweite Person, die man umarmt. Wenn man Tantra praktiziert, dann ist der oder die Geliebte buchstäblich Gott als Göttin. Es gibt eine Dimension von ihr, welche eine Verbindung zum absoluten Göttlichen hat. Es ist eine Praxis, aufzuwachen zu dem, was wirklich vor sich geht. Und man kann GEIST als eine erste Person sehen, als ICH BIN, der große Zeuge oder die große Zeugin. Dieses Bezeugen, wenn sich der Geist beruhigt – man kann es nicht verpassen, aber es ist einfacher, wenn der Geist sich beruhigt und man grobstoffliche Objekte vorbeiziehen lässt, subtile Gedanken vorbeiziehen lässt, und der Zeuge lässt dann all dieses los. In dem Raum, den man dabei fühlt, ist absolute und unbegrenzte Gottheit. Alles das, was man in der Geräumigkeit des ICH BIN fühlt, ist Gott. Gott schaut durch die eigenen Augen, spricht durch die eigene Stimme und hört mit den eigenen Ohren. Es gibt keinen anderen Weg, das Unbegrenzte in die begrenzte Welt zu bekommen, außer durch die eigene Stimme, das eigene Gesicht, den eigenen Körper. Und das gilt für alle empfindenden Wesen, und das ist das, was „empfindend“ meint, Bewußtheit. Unabhängig davon, ob die eigene Aufmerksamkeit sich dessen bewusst ist oder nicht, die Bewusstheit ist da, 24 Stunden täglich. In dem Maße, wie sich der eigene Bewusstseinsschwerpunkt verschiebt, von Aufmerksamkeit zu Bewusstheit, nimmt man an einer höheren Identität teil.

Perspektiven und Praxis

Frage: Die Praxis der Entspannung in den gegenwärtigen Augenblick hinein, das Hineinschmelzen in das, was ist, bringt einen auf den Boden. Es ist Hingabe. Es ist wie eine absichtsvolle Hingabe der Absichten und des Willens.

KW: Ja. Speziell für diejenigen, die gerne mit Gott als einer zweiten Person arbeiten, als einer Hingabepraxis, gibt es viele tiefgreifende und nützliche Übungen … Ist man sich seiner selbst bewusst, sollte man nicht nur GEIST als eine erste Person praktizieren, als eine bezeugende Praxis, die Wahrnehmung der Selbstkontraktion. Es ist OK, wenn man das macht, weil man dann nicht mehr diese Selbstkontraktion ist. Doch nimm dein Selbst, nimm dich selbst so wie du bist und übergib dich Gott. Übergib dich etwas anderem. Man kann sich dieses Andere als Shakti vorstellen oder als Shiva, zu welcher Seite man dabei neigen mag. Man kann auch beides nehmen. Doch übergib diese Selbstkontraktion. Jeder weiß, was damit gemeint ist, weil jeder diese Selbstkontraktion jetzt spüren kann. Man kann diese Selbstkontraktion bezeugen, und man kann sie dem Anderen, dem Geliebten, als eine Opfergabe übergeben.

Frage: … als ein radikales Erlauben, dass das geschieht, was geschieht, und dass sich das zeigt, was sich zeigt.

KW: In einer Praxis der zweiten Person stellt man sich dabei – als eine Übung – vor, dass GEIST als eine zweite Person, das große DU, Gott oder die Göttin, mit hundertprozentiger Liebe ein Licht in jeden Winkel des eigenen Seins aussendet. 100% Liebe und Vergebung scheint auf jeden noch so kleinen Aspekt der eigenen Selbstkontraktion. Wir wissen von den dunklen Aspekten in uns, und von den Geheimnissen, die wir haben und die wir mit niemandem teilen. Wir nehmen unsere Selbstkontraktion und erlauben, dass diese geliebt wird. Das ist Hingabe, und als ein Ergebnis dieser Übung erscheint eine ganz außerordentliche Dankbarkeit. In der Tradition dieser Praxis einer zweiten Person des GEISTES, als eine Dimension unseres Seins, gibt es die Vorstellung von Liebe, Dankbarkeit und eines Gesegnet-Seins. Dankbarkeit und Vergebung sind sehr wirksame Praktiken. Diese Praktiken reflektieren die Struktur eines jeden Augenblicks, die vier Quadranten Gottes.

Frage: Es beginnt als eine 2te-Person-Praxis, doch wenn man eins mit Gott ist, dann gibt es keine zweite Person mehr.

KW: Ja und Nein. Der strahlende Scheinwerfer der Liebe, dieses leuchtende Feld liebenden Lichtes, scheint auf die eigene Selbstkontraktion, wenn man das SELBST noch nicht erkannt hat. Hat man es verwirklicht, scheint das Licht auf das endliche und gewöhnliche Selbst, das man nach wie vor hat, mit dem man jedoch nicht mehr identifiziert ist. Es sind die endlichen Aspekte des Selbst, die einem erlauben Shiva oder Shakti zu sein. Man ist ja nach wie vor eine Form von Manifestation. Man hat einen grobstofflichen Körper – man ist nicht dieser grobstoffliche Körper; man hat einen subtilen Körper – man ist nicht der subtile Körper; man hat einen kausalen Körper – man ist nicht der kausale Körper. In der Selbstkontraktion liebt Gott mich als einen Sünder und vergibt mir. Hat sich die Selbstkontraktion aufgelöst, liebt mich Gott in der Form, die ich habe. Das heißt, ich habe nach wie vor eine endliche Form. Wenn man in einer Liebesbeziehung sein möchte, braucht man dazu eine endliche Form, und das ist das, was die zweite Person macht. Sobald sich etwas manifestiert, gibt es die vier Quadranten, es gibt das Ich und das Wir – oder DU [und das ES]. Und die Vorstellung dabei ist, diesem in seiner frühesten Form zu begegnen – Saguna Brahman, Shiva und Shakti. Und GEIST als eine dritte Person bedeutet, alles so zu erkennen, wie es ist, als ein ES, eine dritte Person, die Istheit oder die Soheit von allem, was erscheint, einschließlich Liebe und Verlangen und dem Bezeugen, einfach von allem, was erscheint. Das ist das „Dharma“ des Buddha-Dharma-Sangha. Und auch das ist eine Praxis. Es gibt also im Zusammenhang mit der Selbstkontraktion die Praxis einer ersten, zweiten und dritten Person, und es gibt diese Praxis auch ohne Selbstkontraktion – dann erscheinen die erste, zweite und dritte Person einfach.

Die drei Gesichter, Entwicklungshöhe

KW: Ich möchte in diesem Zusammenhang [des eben Gesagten] noch einmal betonen: Wenn man aus einer derartigen Erfahrung wieder herauskommt, in die Welt der Formen, dann gibt es Entwicklungshöhe. Das sind Strukturen, und diese Strukturen bestimmen die Interpretation, die man diesen grundlegenden Orientierungen [einer ersten, zweiten und dritten Person] gibt. Auf einer mythischen Entwicklungsstufe wird man den GEIST einer zweiten Person als einen konkreten alten Mann im Himmel oder auf dem Berg erkennen. Das ist die Art und Weise, wie man dies sieht. Wir weisen darauf hin, dass diese vertikalen Strukturen die Weltsicht und die Interpretation bestimmen, mit der die Erfahrungen Gottes oder des GEISTES einer ersten, zweiten und dritten Person interpretiert werden, also alle Ebenen und alle Quadranten. Doch die Ebenen können nicht durch die Quadranten und durch Introspektion erkannt werden. Ich komme gleich noch einmal darauf zurück, warum das so wichtig ist. Wenn man die Welt der Formen umarmt, dann entwickelt sich diese Welt der Formen. Es gibt viele Möglichkeiten, diese sich entwickelnde Welt zu verstehen. Manche davon können durch Introspektion nicht erkannt werden, und dazu gehört die Entwicklungsstufe eines Menschen. Die Wahrnehmungen einer ersten, zweiten und dritten Person werden auf der magischen, der mythischen, der rationalen, der pluralistischen, der holistischen oder der transpersonalen Entwicklungsstufe sehr unterschiedlich interpretiert. Mit dem Begriff „integral“ meinen wir die derzeit höchstmögliche Entwicklungsstufe, in der Farbbezeichnung ist dies ultraviolett und klares Licht, oder Supermind. Wenn Supermind die höchste Entwicklungsstruktur ist, die sich bisher gebildet hat – und Big Mind ist der höchste Zustand der Zustandsentwicklung –, dann ist Supermind das (bisherige) Ende der Strukturentwicklung. Wir Menschen verfügen über beide Fähigkeiten, Zustandserleuchtung und Strukturerleuchtung, und durch die Strukturen interpretieren wir unsere Erfahrungen. Erinnern wir uns daran, Zen hat eine sehr gute Zusammenfassung dieser nicht-dualen Situation, und die lautet: nicht zwei, nicht eins. Das ist sehr zen-isch und es ist sehr gut.

Frage: Es weist auf den Unterschied zwischen Nichtdualität und Einheit.

KW: Ja, irrtümlich wird angenommen, dass Nichtdualität einfach nur nicht-zwei ist, und das stimmt, aber es ist auch nicht-eins. Also weder Monismus noch Dualismus. 

Frage: Es ist ein Hinweis auf etwas.

KW: Ja, es ist der Raum, der kein Raum ist. Es ist die Erfahrung, die keine Erfahrung ist. Es ist das Beste, was wir dabei tun können, und der Geist [mind] ist mit dabei. Der Geist erscheint in dem Raum, über den wir uns gerade zu sprechen bemühen. Signifikante können dabei weiterhin verwendet werden, sie können für alles verwendet werden, um ein Verständnis von einem Menschen zu einem anderen Menschen zu übertragen, solange beide dies erfahren oder zumindest in Kontakt stehen bezüglich dessen, worum es bei der Kommunikation geht. Für jegliche Erfahrung gilt, sie kann nicht [vollständig] in Worten gefasst werden, ganz zu schweigen von Nicht-Erfahrungen. Orgasmen sind nicht wirklich beschreibbar, Sonnenuntergänge sind auch nicht wirklich beschreibbar, der Geschmack von Käsekuchen ist ebenso nicht beschreibbar, und das gilt ebenso für die Erfahrung kausaler Formlosigkeit – all dies ist nicht wirklich beschreibbar. Worauf es bei der Verwendung von Worten wirklich geht, ist, ob die andere Person diesbezüglich schon Erfahrungen gemacht hat, und dann kann man sagen, „ … oh ich weiß, was du meinst“. 

Frage: Dabei kann man auch auf seine Erinnerung zurückgreifen.

KW: Ja. Warum es bei den Erfahrungen, über die wir hier sprechen, besonders schwierig ist darüber zu sprechen, ist, dass diese höheren Zustände und Stufen supra-mental sind, sie können unabhängig von der Tätigkeit des Geistes [mind] erfahren oder nicht-erfahren werden. Und sie sind nicht nur supramental, sie sind auch supra-gefühlt. Sie können nicht wie ein Objekt gewusst oder gefühlt werden. Das ist es alles nicht.

Frage: Ich kann den Akt des Wissens dabei nicht kennen, weil ich ihn damit zu einem Objekt mache.

KW: Im tibetischen Buddhismus wird dies sehr explizit unterschieden in Begriffen wie Rigpa und Yeshe. Yeshe meint ursprüngliche Weisheit und wird beschrieben als ein immer fortwährendes Wissen. Das bezieht sich auf diese leuchtende wissende Bewusstheit von Augenblick zu Augenblick. Kein Objekt, sondern absolute Subjektivität.

Frage: Für mich war Wissen und Kognition bisher das Gleiche.

KW: Es ist der oder die Wissende, aber nichts, was gewusst werden kann. Die Freiheit von Wissen ist die Wolke des Nichtwissens. Doch die Wolke des Nichtwissens wird gewusst. Es ist ein Wissen, dass kein Wissen ist, und eine Erfahrung, die keine Erfahrung ist, und ein Raum, der kein Raum ist. Doch der „Fall“ [aus der Gnade dieses Erlebens] dabei ist die Subjekt-Objekt-Trennung, egal worum es sonst noch geht. Es ist eine Zusammenziehung, eine Kontraktion um das Herz, eine Kontraktion inmitten der nicht-dualen Soheit, und man ist nicht mehr der Wind oder die Blätter oder was auch immer, sondern man schaut dorthin. Und das – peng – trennt alles voneinander. Wenn man das bei sich so feststellt, ist das OK, es gibt immer noch die nicht-duale Soheit, in der das alles stattfindet und die frei ist von dieser Getrenntheit.

Frage: Es gibt also eine Illusion von Getrenntheit.

KW: Ja. Es ist eine Illusion, und man kann dabei nichts falsch machen. Man kann nicht herausfallen, es ist eine Illusion des Herausgefallenseins.

Frage: Es gibt keine Sünde.

KW: Es gibt Sünde, und es gibt keine Sünde. Das ist sehr wichtig und betont, dass wir auch praktizieren müssen. 

Drei Wahrheiten

KW: Die endliche Welt ist endlich real. Dies führt uns zu der Doktrin der zwei, aber eigentlich drei Wahrheiten. Sie ist der Eckstein der Epistemologie der Traditionen. Diese Doktrin bedeutet [als Doktrin der zwei Wahrheiten], dass es relative und dass es absolute Wahrheit gibt. Die Analogie, welche ich in diesem Zusammenhang gerne verwende, ist die eines zusammengerollten Seils in der Ecke eines Raumes. Das Licht im Raum ist dämmrig, und ich halte das Seil für eine Schlange, die mir Angst macht. Jemand betritt den Raum, macht Licht, und ich sehe, dass es sich um ein Seil handelt. Das Licht, das angemacht wird, steht für eine Erleuchtung, in diesem Fall ist es erleuchtetes Wissen. Doch dann gibt es eine weitere Unterscheidung [in einer Doktrin von drei Wahrheiten], das Licht geht gewissermaßen zweimal an, als eine Analogie. Ich sehe eine Schlange in der Ecke, mache Licht an und erkenne, dass es sich um ein Seil handelt. Hier haben wir es mit einer relativen Wahrheit zu tun, und es gibt relative Wahrheit und relative Falschheit. Doch im Hinblick auf letztendliche Wahrheit sind sowohl die Schlange als auch das Seil Brahman oder GEIST oder Seinsgrund oder Soheit oder das Erscheinen im Raum des ICH BIN. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil sie bedeutet, dass wir es hier mit drei Dingen zu tun haben. Es gibt nicht nur Nirvana und Samsara, es gibt Nirvana, Samsara und ein krankes [oder falsches] Samsara. Das kranke Samsara ist zum Beispiel Schatten. Man schaut in der relativen Welt auf ein Seil und sieht eine Schlange. Das nennt man Neurose oder Psychoneurose oder Psychose. Das gesamte Gebiet der Psychotherapie hilft einem, Seile als Seile zu erkennen und keine Schlangen daraus zu machen. Die Kontemplation hingegen hilft einem, Brahman nicht zu vergessen, wann immer man Schlangen oder Seile sieht. Hier geht es um zwei wichtige Dinge. Die Kontemplativen sagen: „Oh, wir brauchen dieses Strukturzeug nicht, wir brauchen auch nicht das Therapiezeug. Schatten und Strukturen sind kein Problem, denn alles, worum es mir geht, ist Brahman. Ich will erwachen und dann bin ich aus alledem draußen.“ Doch das bedeutet, dass man eine Welt der gebrochenen Formen hat. Das Gefährt, mit dem man versprochen hat, andere zum Erwachen zu verhelfen ist, ist gebrochen. Das ist nicht das, worum es beim Bodhisattva-Gelübde geht, auch wenn Bodhisattvas weder Strukturen noch Schatten durch Introspektion erkennen können. Doch wenn sie diese erkennen, dann handeln sie entsprechend, weil es das Versprechen ist, dass sie gegeben haben. Das ist auch das Versprechen, dass wir als Integrale machen. Wir hören nicht auf mit dem Lernen, weil sich GEIST immer weiter entfaltet. Es gibt eine Menge Leute, die Schlangen sehen und sagen: „Das ist mir egal, ich werde sowieso erwachen …“ Doch dem ist nicht so. Man kann zum Seinsgrund erwachen, doch das Gefährt [als die eigene verkörperte Persönlichkeit], mit dem man unterwegs ist, ist völlig unbrauchbar. So kann man anderen nicht helfen. Was immer es auch ist, es ist eine ästhetisch hässliche Sache.

Frage: Danke, das hat einiges geklärt.

KW: Gut, und lasst mich noch etwas dazu sagen. Wir sprechen hier über Form. Der Bodhisattva gelobt, die Welt der Formen aus mindestens zwei Gründen zu umarmen, und ich halte beide für wichtig, und zu beiden gibt es mehrere Schulen und ganze Traditionen. Der eine Grund ist, dass man es versprochen und gelobt hat. Der andere Grund ist, wenn man das Gewebe von Turyatita fühlt, dann ist das ein Überströmen, aus dem heraus Mitgefühl erscheint, auch wenn in Turyatita nichts von diesem Mitgefühl ist. Es ist frei von Mitgefühl, doch ein überströmender Brunnen bringt Wellen mit einer eigenen Charakteristik hervor, sie entstammen also dem Brunnen und sind doch nicht der Brunnen. Die Zusammenfassung in vier Aussagen des Mahamudra dazu sind eine gute Weise, sich daran zu erinnern.

Alles ist GEIST.
GEIST ist leer.
Leere manifestiert sich frei.
Freie Manifestation ist selbst-befreiend.

Was Integral dem noch hinzu fügt, und wovon die kontemplativen Traditionen nicht sprechen, weil es durch Introspektion nicht oder nur unscharf zu erkennen ist, das sind die Strukturen der Zone 2 [des integralen Methodenpluralismus]. Die Methoden der Zone 1 sind nicht gut geeignet, diese zu erkennen. Was sie diesbezüglich erkennen können, ist unscharf, und nicht annähernd so detailliert wie das, was westliche Untersuchungen dazu herausgefunden haben.

Eines der wichtigen Dinge, die wir von westlichen Studien gelernt haben, ist, dass die Welt der Formen sehr viel besser verstanden werden kann als eine Welt von Perspektiven. Sagt man lediglich „Form“, dann ist es einfach nur Form, vielleicht noch differenziert in grobstoffliche, subtile und kausale Formen. Diese gilt es zu umarmen und das ist alles. Doch es gibt mindestens sechs oder sieben Hauptebenen von Form. Man kann diese Ebenen auf vielerlei Weise charakterisieren – man kann von unterschiedlichen Weltsichten sprechen, wie archaisch, magisch, mythisch, [modern], pluralistisch usw., es gibt ein unterschiedliches Selbstempfinden, wie sicherheitsbezogen, konformistisch, individualistisch usw., es gibt unterschiedliche Bedürfnisse, wie Maslov das beschrieben hat, wie physiologische Bedürfnisse, Sicherheit, Zugehörigkeit, Selbstachtung, Selbstverwirklichung – das ist alles richtig. Doch es gibt noch eine einfachere Weise, diese Ebenen zu charakterisieren, und zwar über die Fähigkeiten, Perspektiven einzunehmen. Es beginnt mit der Fähigkeit der Einnahme einer Perspektive einer ersten Person (das ist in den Farben Rot oder niedriger), geht weiter zu der Fähigkeit der Einnahme der Perspektive einer zweiten Person (das entspricht der Bernstein-Stufe), weiter zu der Perspektive einer dritten Person, die mit Orange erscheint, und der Fähigkeit zu einer Perspektive einer vierten Person, und das entspricht Grün. Die Fähigkeit zur Einnahme der Perspektive einer fünften Person entspricht Türkis, sechste Person ist Indigo, und so weiter. Was das philosophisch bedeutet, ist, dass GEIST sich selbst betrachtet und dabei erwacht, zu immer tieferen Dimensionen seines eigenen Seins. Dafür gibt es auch empirische Studien. Betrachtet man die Studien von Jane Lovinger und Suzanne Cook-Greuter, dann beschreiben sie die Ebenen des Selbst, von einem sich selbst schützenden Selbst zu einem konformistischen Selbst zu einem individualistischen Selbst zu einem autonomen Selbst zu einem integrierten Selbst usw. Das wird dargestellt als erste Person (1-p), zweite Person (2-p), dritte Person (3-p), vierte Person (4-p), usw. bis zur siebenten Person und noch darüber hinaus. Es gibt konkrete Studien, die zeigen, dass mit unserer Erweiterung in der Welt der Form sich auch unsere Perspektiven erweitern. Das bedeutet eine große Veränderung, weil jeder aus den großen kontemplativen Traditionen, und auch die meisten westlichen Psychologen, wie Whitehead, eine sehr monologische Sicht auf Wahrnehmung hatten, und zwar derart, dass ein Subjekt ein Objekt wahrnimmt, oder leere Weisheit kognitiv die Welt der Formen wahrnimmt. Das ist eine Flachlandbetrachtung, weil sie bedeutet, dass die einzige reine Wahrnehmung die Wahrnehmung der Leerheit ist. Doch wenn Leerheit irgendetwas in der Welt der Formen und als eine Form betrachtet, dann geschieht das von einem empfindenden Wesen aus, und dieses Wesen hat eine Perspektive. Wir betrachten die Welt aus Perspektiven, erste Person, zweite Person und so weiter. Reine Wahrnehmung existiert nur als reine Leerheit. Doch da „Leerheit nichts anderes ist als Form“, bedeutet dies, dass Wahrnehmung eine Perspektive hat, sobald sie auf den manifesten Bereich trifft. Die Welt von Samsara ist daher in erster Linie die Welt von Perspektiven. Wir wollen beides, reine Bewusstheit, die durch ihre Perspektiven schaut. Das kann, wenn man ehrlich zu sich selbst ist, bedeuten, dass wenn man sich einem Test unterzieht, wo sich der eigene Bewusstseinsschwerpunkt befindet, dann kann dies bei Orange sein. Das ist in Ordnung, man kann damit trotzdem 100% Zugang zum ICH BIN haben. Man kann ein entsprechendes Training durchlaufen, ein autorisierter Zen Lehrer sein und sich bei Orange befinden. Und das kann man auch bei Bernstein und Rot machen. Dies alles ist möglich bei 100% spirituellem Zugang. Was ich an diesem Modell mag, ist, dass es die Möglichkeit vorsieht, dass Menschen, auf welcher Entwicklungsstufe auch immer – abgesehen von den Extremen –, 100% Zugang zu Gott haben, zur Leerheit. Man kann daher zu 100% frei sein. Die Entwicklung macht einen nicht freier, doch was mit der Entwicklung zunimmt, ist die Fülle, man erhält immer mehr Form. Das bedeutet auch, dass man zu mehr Hilfe und Unterstützung fähig ist. Mit der Entwicklung der eigenen Strukturen entwickelt man sich in der Welt der Formen, und die eigene Fülle nimmt immer mehr zu – nicht freier, aber die Fülle nimmt zu. Ich liebe die Art, dies zu formulieren. Ich mag, wie das Ganze funktioniert. Es macht so viel Sinn. Das wollte ich zum Abschluss des ganzen Gesprächs noch sagen. Und ich möchte euch dafür danken.

 

bisherige Veröffentlichungen: Integrale Spiritualität / A Deeper Cut (Hörbuch)

  • Online Journal, Ausgabe 50
    Ken Wilber (Einführung): Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität
    Kapitel 8: Die Welt des schrecklich Offensichtlichen
  • Online Journal, Ausgabe 53
    Ken Wilber: Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität (Fortsetzung)
  • Online Journal, Ausgabe 58
    Ken Wilber: Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität (Fortsetzung)
  • Online Journal, Ausgabe 61
    Ken Wilber: Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität (Fortsetzung)
    Appendix II: Integrale Post-Metaphysik
  • Online Journal, Ausgabe 71
    Ken Wilber: Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität (Fortsetzung)
    IS Call on Appendix II: Integral Post-Metaphysics 3, Brendan Snow
  • Online Journal, Ausgabe 72
    Ken Wilber: Aus der Telefonkonferenz 2006 zum Buch Integrale Spiritualität (Fortsetzung)
    IS Call on Appendix II: Integral Post-Metaphysics 8, Ewan Townhead

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