Ken Wilber

(Ein Auszug aus: integrallife.com, Being vs. Knowing: Ending the Debate Between Epistemology and Ontology, Integral Theory Conference Keynote Address.) 2015

Bestimmt Epistemologie Ontologie, eine typische Position des Idealismus, oder begründet Ontologie Epistemologie als eine klassische Position des Realismus? Meine Version des integralen Ansatzes ist, dass beides gleichermaßen existiert und gleichermaßen wichtig ist. Keines von beiden ist grundlegender oder vorherrschender als das andere.

Was wir mittels des AQAL-Rahmens mit seinen acht Zonen erkennen ist, dass die typischerweise idealistischen oder subjektiven Ansätze davon ausgehen, wie die Welt, betrachtet von den Innen-Zonen her aussieht – als eine Sichtweise von innen. Die mehr objektiven Ansätze des Realismus hingegen entstehen aus einer Betrachtungsweise der Welt aus den Außen-Zonen heraus – die Sichtweise von außen. Beide sind gleichermaßen real, gleichermaßen wichtig, gleichermaßen mit aufzunehmen und es ist keine gegenüber der jeweils anderen zu privilegieren. Doch in den meisten Debatten wird leider jeweils eine von beiden privilegiert.

Epistemologie und OntologieWas wir dort draußen sehen, ist nicht nur ein Ergebnis einer gegebenen Ontologie dessen, was gesehen wird, sondern auch der Methodologie und der Epistemologie, die an dem Erkennen beteiligt sind. Dies alles ist mit dem endgültigen Ergebnis verknüpft. Das bedeutet nicht, dass die Charakteristik des erkannten Objektes vollständig durch das wahrnehmende Subjekt erschaffen wird, d.h. wir reden nicht von einem epistemischen Trugschluss oder einem subjektiven Idealismus. Es bedeutet lediglich, dass die Eigenschaften des erkannten Objektes zu einem Teil von den Mitteln des Erkennens abhängen.
Epistemologie und Ontologie sind zwei ganz grundlegende, historisch vorherrschende Sichtweisen und wir sehen Beispiele von ihnen in allen vier Quadranten, als die Innenansicht und die Außenansicht der Zonen in jedem der Quadranten. Die integrale Aussage dazu ist, dass sie alle Recht haben und alle richtig sind, soweit sie adäquat ihre jeweilige Zone beschreiben.

Jede Sichtweise ist richtig, wenn sie sich auf ihren spezifischen Erkenntnisbereich konzentriert und richtig durchgeführt wird. Wenn dies der Fall ist, dann erhalten wir eine wahre und partielle Wirklichkeit, und diese muss in einen integralen Gesamtansatz mit aufgenommen werden. Sichtweisen sind dann falsch oder unrichtig, wenn sie andere Sichtweisen kritisieren für das, was diese angeblich falsch machen, d. h. wenn beispielsweise eine Innenansicht alle Außenansichten eines ontischen Trugschlusses beschuldigt oder wenn eine Außenansicht alle Innenansichten eines epistemischen Trugschlusses beschuldigt. Für die integrale Metatheorie liegt ein epistemischer Trugschluss nur bei einer Überbetonung der Innenansicht vor, was der Fall ist, wenn bestehende, objektive Aspekte der Außenansicht von Wirklichkeit verneint werden oder wenn gesagt wird, dass sie in Gänze von menschlicher Erkenntnis abhängen. Der epistemische Trugschluss ist, mit anderen Worten, die Vorstellung, dass es ausschließlich eine innere, hervorgebrachte Welt gibt und alle Objekte ausnahmslos Ergebnis von Hervorbringungen sind. Doch das ist nicht wahr. Jeder Quadrant hat, klar und eindeutig, ein Innen und ein Außen. Demgegenüber liegt – für die integrale Metatheorie – ein ontischer Trugschluss nur bei einer Überbetonung der Außenansicht vor, wenn die bedeutenden Hinzufügungen, Erschaffungen und Hervorbringungen der Strukturen des erkennenden Subjektes verneint werden und ihr hervorbringender Einfluss als epistemischer Trugschluss bezeichnet wird.

Epistemologie und Ontologie

Abb.: Die 8 Hauptperspektiven vom Ken Wilbers Integral Methodologischem Pluralismus

Nimmt man Entwicklungsstudien ernst, gelangt man zu einer gleitenden Skala von Wahrheit, mit der Vorstellung, dass jede Ebene wahr und jede höhere Ebene wahrer ist. Das erste, was man beim Studieren der Entwicklungsmodelle lernt ist, dass jede Entwicklungsebene eine andere Welt sieht, und es gibt nur zwei Weisen, damit umzugehen. Die eine davon ist, dass man behauptet, dass es nach wie vor nur eine einzige vorgegebene Realität gibt und dass jede der Entwicklungsstufen diese Realität klar sieht. Doch wenn man das tut, dann gelangt man niemals zu einer wahren Wahrheit, da diese Wahrheit erst am Ende von Entwicklung und Evolution gesehen werden kann. Da jedoch Evolution niemals an ein Ende kommt, bedeutet dies, dass Wahrheit niemals gesehen werden kann. Demgegenüber steht die – wie ich sie nenne – gleitende Skala von Wahrheit. Die Entwicklungsstudien geben uns bereits eine Fülle von Evidenz dafür. Wir haben Evidenz dafür, dass jede Ebene mit Bewusstsein ausgestattet ist und jede höhere Ebene mit mehr Bewusstsein ausgestattet ist. Jede Ebene ist liebesfähig, jede höhere Ebene ist mehr liebesfähig. Jede Ebene hat eine Moral, jede höhere Ebene hat eine höhere Moral. Jede Ebene hat eine Identität, jede höhere Ebene hat eine umfassendere Identität, usw., praktisch ad infinitum. Jede Ebene ist wahr, jede höhere Ebene ist wahrer.

Stellen wir uns vor, wie die Welt in fünfhundert Jahren auf unsere Wahrheiten zurückblicken wird. Zu den Zeiten der Stämme, mit deren typischer prä-operationaler Kognition und zu den mythisch-traditionellen Zeiten, mit ihrer konkret operationalen Kognition hatte kein Individuum ein Bewusstsein über oder eine Vorstellung von Atomen. Zu diesen Zeiten existierten keine Atome, jedenfalls nicht im Bewusstsein von irgendjemand. Mit dem Erscheinen von formal-operationaler Kognition und den dazugehörigen Methodologien wurden Atome entdeckt und sie existierten von da an im Bewusstsein verschiedener Individuen. Mit dem Erscheinen von pluralistischer Kognition und den entsprechenden Methodologien wurden verschiedenartige Quarks entdeckt. Und mit der vereinigenden Kognition wurden die vereinigenden Zusammenhänge der Quarks entdeckt. Mit einer noch höheren Kognition wurden die Stringtheorie und die M-Theorie entwickelt. Jeder Ebene ist wahr, jede höhere Ebene ist wahrer. Und dieses „wahr“ ist so wahr wie etwas nur wahr sein kann. Es ist die einzige Möglichkeit, wie eine wirkliche und sinnvolle Bedeutung von Wahrheit vor dem Hintergrund einer alles durchdringenden Evolution existieren kann. Das Erkennen der integralen Einheit von innen-subjektiven und außen-objektiven Sichtweisen in allen vier Quadranten bzw. allen acht Zonen gibt uns eine gleitende Skala von Wahrheit. Jede Ebene ist wahr, jede höhere Ebene ist wahrer. Und jede Ebene kann Wahrheit erkennen, so wahr wie diese Wahrheit sein kann, so gut wie dies zu dieser Zeit mit den vorhandenen Techniken und Werkzeugen möglich ist. Dies ist Wahrheit, soweit Wahrheit irgendeine konkrete Bedeutung haben soll.

Die Entwicklung und das Wachstum gehen weiter und führen zu immer mehr Wahrheit, auf jeder höheren Ebene. Dies bedeutet keine Verneinung von Wahrheit, so wie diese sich auf den niederen Ebenen präsentiert. Wahrheit wird lediglich in einer Gesamtheit von Wirklichkeit entsprechend verortet und dabei sind Epistemologie und Ontologie, innen und außen, zwei Aspekte der gleichen zugrunde liegenden, sich entfaltenden Ganzheit. Auf diese Weise, und nur auf diese Weise, können wir den epistemischen und den ontischen Trugschlüssen entkommen. Und nur auf diese Weise können diese zwei archetypischen Feinde – Idealismus versus Realismus, Spiritualismus versus Materialismus, subjektiv versus objektiv, empirisch versus rational, epistemisch versus ontisch, realistisch versus hervorbringend – vollständig anerkannt und vollständig integriert werden. Schließlich weist dies auf eine grundlegende Maxime integraler Ansätze hin: Wo immer man zwei sich diametral gegenüber stehenden Gegensätzen begegnet, so wie Realismus und Hervorbringung, macht man sich auf die Suche nach Möglichkeiten, beide miteinander zusammenzubringen. Die Wahrheit liegt dabei immer in der zugrunde liegenden Ganzheit, ohne Ende, ohne Ende.

Hinweis: In einem Erweiterungsschritt des Modells der 4 Quadranten hat Ken Wilber für jeden Quadranten zusätzlich eine Unterscheidung von innen/außen gemacht, in der Abbildung ist das „Innen“ der Kreis und das „Außen“ die Fläche um den Kreis. Dadurch entstehen 8 Zonen oder Horizonte oder Ereignisbereiche von Hauptperspektiven. Auf diese Unterscheidung nimmt der Text Bezug.

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