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Es gibt nur sehr wenige Autoren, die mein Leben so geprägt haben wie Ken Wilber. Wege zum Selbst war 2003 eine Offenbarung: der Gedanke, schrittweise alles zu integrieren, mich schließlich von nichts mehr getrennt zu fühlen. Manche Gedanken bringen in mir etwas zum Klingen, was dann nicht mehr verebbt. Dieser gehört dazu.

Der folgende Artikel ist aus der Perspektive meiner Arbeit mit Wilbers integralem Ansatz und dem verwandten der Spiral Dynamics von Don Edward Beck und Christopher C. Cowan geschrieben; er ist folglich sehr subjektiv.

Eine intensive Beschäftigung mit ihnen in Bezug auf Politik (der Gegenwart wie der Vergangenheit) begann für mich 2006, als ich von der im Entstehen begriffenen Fachgruppe integrale Politik (FiPol) im Arbeitskreis Ken Wilber hörte. Der war damals noch Teil der Deutschen Transpersonalen Gesellschaft und machte sich bald darauf als Integrales Forum selbstständig. Es ging von Anfang an darum, wie der integrale Ansatz und Spiral Dynamics in der Politik konkret umgesetzt werden könnten. Dabei standen zwei Aspekte im Vordergrund: die vier Quadranten, vor allem das Verhältnis von innen (Gefühle, Werte, Stimmungen, gesellschaftliche Tendenzen usw.) und außen, sowie die Entwicklungsebenen.

Die innere Seite des Politischen

Die vier Quadranten machten endlich etwas klarer fassbar, was mich schon seit Langem beschäftigt hatte. Es springt im politischen Geschehen ja geradezu ins Auge, was für eine starke Rolle Gefühle spielen, und sie werden durchaus auch politisch genutzt. Aber in politischen Diskussionen kamen sie praktisch nie zur Sprache, wurden nicht in die Betrachtung und Erörterung einbezogen. Es wurde sachbezogen diskutiert – endlos, nervtötend, langweilig und oft aggressiv. Deshalb hatte ich mich viele Jahre zuvor aus allem zurückgezogen, was sich Politik nannte – enttäuscht und traurig, denn dieser Bereich erschien mir trotzdem sehr wichtig.

Ich versuchte damals, die jugoslawischen Teilungskriege besser zu verstehen und die Frage zu beantworten, wie es dazu gekommen war, dass Nachbarn und Verwandte einander umgebracht hatten. Immer deutlicher war dabei geworden, dass nicht nur wirtschaftliche, politische, ideologische und soziale Faktoren eine wichtige Rolle gespielt hatten, sondern auch Gefühle, Verdrängtes und religiöse Vorstellungen, und dass das alles aufeinander bezogen war, das eine nicht vom anderen zu trennen.[1] In der universitären Geschichtswissenschaft stieß ich damit fast nur auf Unverständnis. So war Wilbers Ansatz eine beglückende Bestärkung, Vertiefung und Erweiterung.

Doch die Arbeit in der FiPol war anfangs phasenweise mühsam. Immer wieder gerieten wir in die gewohnten Diskussionen, sehr engagierte Versuche, die anderen von der eigenen Meinung zu überzeugen. Allerdings hatten wir sehr früh eine hilfreiche Entscheidung getroffen: Wir wollten Störungen Vorrang geben. Das brachte uns weiter, obwohl es jedes Mal unangenehm war, da ein innerer Widerstand überwunden werden musste. Es stellte sich heraus, dass das zum Wesen von Störungen gehört: Etwas soll jetzt hier keinen Platz haben – weil es nicht zum Thema gehört. Aber alles, was während eines Gesprächs im Bewusstsein auftaucht, hat mit diesem Gespräch zu tun – und sei es, dass jemand endlich das Fenster öffnen will, weil die Luft so schlecht ist und das Ganze mehr Bewegung braucht.

So waren wir durch die Arbeit selbst auf ein weiteres wichtiges Element von Wilbers integralem Ansatz gestoßen: die Schattenarbeit. Und zugleich auf eine der vielen Erkenntnisse, zu denen diese Arbeit immer wieder geführt hat: Was wesentlich ist, zeigt sich – beginn einfach mit einem offenen Geist! Es ging nicht darum, ein geistiges Konzept nun in der Politik umzusetzen, auch wenn wir das zuweilen versuchten. Nach und nach habe ich entdeckt, dass ich Antworten auf die Fragen erhalte, mit denen ich gerade beschäftigt bin – durch ein Erlebnis, ein Buch, einen anderen Menschen … Ich bemerke es nicht, wenn ich systematisch vorgehe. Es braucht eine Aufmerksamkeit für das, was gerade unvorhergesehen geschieht.

Eine weitere Überraschung war, wie sich die Gruppenatmosphäre, das Empfinden dessen, was wir gemeinsam waren, veränderte. Entscheidend waren dafür Konflikte und dass Einzelne in der Gruppe dazu Schattenarbeit machten, also dem begegneten, was sie an den Meinungen anderer empörte. Es ist ja eine Binsenwahrheit, dass man dabei entdeckt, dass man das, was einen erregt, selbst auch ist. Das zu erleben aber ist ein Abenteuer.

Der Dialog nach David Bohm

Ein großer Schritt zu einer anderen Gruppenatmosphäre war, als uns Nicole Lieger mit dem Dialog nach David Bohm bekannt machte. Er bestärkte uns darin, wirklich von uns und unseren Erfahrungen zu erzählen und Behauptungen über die Wirklichkeit immer mehr sein zu lassen. Eine Aussage, dass etwas so und so ist, schließt unwillkürlich ein, dass anderes, was sich damit nicht verträgt, nicht ist. Das Bild der Wirklichkeit ist schon besetzt. Damit sind alle anderen Sichtweisen ausgeschlossen, und diejenigen, die die Welt anders sehen, fühlen sich entsprechend. Das hat etwas Existenzielles: Ich habe jetzt hier keinen Platz. Verschärfend kommt meist hinzu, dass es um Themen geht, von denen sehr viel abzuhängen scheint, etwa Gerechtigkeit, Freiheit, Krieg oder Frieden, das Überleben der Menschheit oder aller Lebewesen auf der Erde. Das scheint mir ein wesentlicher Grund für viele erbittert geführte politische Diskussionen zu sein.

Durch den Dialog sprach von Beginn eines Treffens an (zweimal im Jahr drei Tage) jeder von sich selbst, den eigenen Gefühlen, Wünschen, Hoffnungen und so weiter und „legte“ das für die gesamte Gruppe in die Mitte des Kreises. Auch wurde durch die Pause nach jedem Beitrag nichts überdeckt, auch wenn niemand weiter darauf einging. Selbst Unverstandenes hatte so einen Platz und blieb gewissermaßen in der Schwebe, bis der weitere Austausch zu einer Anknüpfung und damit zu einem beginnenden Verständnis führte. Zuweilen wurden Einzelne auch nachdrücklich, weil ihnen die Resonanz fehlte. Das war okay; dann wandten wir uns dem zu.

Sowohl der bevorzugte Umgang mit Störungen als auch der Dialog führten dazu, dass ich ein neues Verhältnis zu Menschen gewann, die auf mich anfangs unscheinbar und uninteressant gewirkt hatten. Immer wieder kamen für mich wertvollste Beiträge von ihnen. Mit der Zeit verstand ich auch, weshalb: Dadurch dass sie wenig mitredeten, standen sie eher am Rand und konnten leichter beobachten, was geschah.

Zudem gaben die Pausen im Dialog die Möglichkeit, die eigene innere Reaktion auf das Gehörte mitzubekommen – etwas, was ich besonders in politischen Gesprächen für wesentlich halte. Erst so wird es möglich, eigene und Gruppenmuster zu erkennen und infrage zu stellen sowie mehr als nur die Meinungsäußerungen zum Thema aufzunehmen, also auch Stimmungen, eine – vielleicht nur scheinbare – Abirrung vom Thema und weitere tiefere Schichten dessen, was grade passiert.

Das sind zum einen Voraussetzungen für grundlegende Veränderungen, weil nur durch einen weiteren Blick auf das, was wir tun, der Rahmen, innerhalb dessen wir uns bewegen, sichtbar wird, also Verhaltensmuster und Grundannahmen, die niemand infrage stellt, weil sie so selbstverständlich erscheinen.[2] Zum anderen entsteht so ein Gefühl für ein Wir, einen energetischen Zusammenhang der Gruppe.

Die Gesellschaft als energetischer Zusammenhang

Das hat mich dazu geführt, ihn auch in der Gesellschaft zu entdecken. Immer wieder melden sich einzelne Gruppen aggressiv zu Wort und werden dann in der Regel auch aggressiv zurechtgewiesen. Scheinbar tragen die Schreihälse dafür selbst die Verantwortung. Aber jedem aggressiven Auftreten liegt ein vorangegangenes – meist langes – Nichtgehörtwerden zugrunde. Wir verbinden Gewalt mit heftigen Worten oder gewalttätigem Handeln; dass auch ein Ignorieren eine Form von Gewalt darstellt, kommt selten zur Sprache.

Ob radikale Umweltaktivisten, Nationalisten oder Autonome, sie alle empfinden einen Mangel – der sie persönlich betrifft und zugleich ein gesellschaftlicher ist. Es gibt eine Schwierigkeit, ein Leiden, eine Angst oder Ähnliches, was in der Öffentlichkeit zu wenig oder gar nicht beachtet wird, in den politischen Debatten keine oder kaum eine Rolle spielt und in politische Entscheidungen nicht oder nicht ausreichend einfließt.

Das ist weitgehend dadurch bedingt, wie wir den öffentlichen Raum und politische Entscheidungen strukturiert haben, beides stark wirtschaftlich oder entsprechend der Wirtschaft: Die Öffentlichkeit ist weitgehend von großen Medienunternehmen bestimmt, die zu einem großen Teil nach Marktgesichtspunkten (Verkaufszahlen, Einschaltquoten und davon bestimmten Werbeeinnahmen) arbeiten; für politische Entscheidungen sind die Parlamente und Regierungen zuständig, die von Parteien besetzt werden, die um Wählerstimmen konkurrieren. Grundlegend ist in beiden Konkurrenz – Diskussionen führen, recht haben, die eigene Meinung durchsetzen, durch Mehrheit Abstimmungen gewinnen, auf Kosten anderer wachsen usw. –, nicht Kooperation. Das zeigt sich dann im Verhalten, in der Atmosphäre und nicht zuletzt in der Sprache, wo politische Abstimmungen zu „Siegen“ und „Niederlagen“ führen, Parteiführer und Regierungschefinnen „angeschlagen“ sind oder „gestürzt“ werden, Politiker „das Gesicht verlieren“ …

Mit einem dialogischen Vorgehen können wir einen anderen Weg wählen: Wir schaffen einen Raum für alle Sichtweisen, weil wir uns bewusst sind, dass wir alle brauchen, um zu einem annähernd passenden Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen, und weil wir als Gesellschaft alle miteinander zusammenhängen und uns schädigen, wenn wir Einzelne oder Gruppen ausgrenzen.

Das Glück gemeinsamer Gesellschaftsgestaltung

Die Arbeit mit dem integralen Ansatz hat also nicht nur dazu geführt, die Gesellschaft als Dimension des eigenen Seins zu erfahren, sondern auch dazu, ein anderes Verständnis von Gesellschaft zu gewinnen. Zudem hat sich mein Engagement in ihr verändert. Ich suche nur noch Gruppen auf, die zumindest in Ansätzen Gefühle einbeziehen und dialogisch arbeiten – es gibt immer mehr davon.

Damit hat sich auch mein Verständnis von Politik verändert. Sie hat aufgehört, ein „schmutziges Geschäft“ zu sein, etwas, wo man, aus recht unklaren Gründen, tendenziell dazu gezwungen oder dazu verführt wird, anders zu sprechen als man denkt und anders zu handeln als man eigentlich handeln will. Sie hat im Gegenteil angefangen, eine beglückende Tätigkeit zu sein – das, was nach Hannah Arendt mit der berühmten Formulierung in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wirklich gemeint ist: „the pursuit of happiness“, das Streben nach Glück. Die Gründer der USA hätten kein persönliches Glück gemeint, sondern das Glück gemeinsamer Gesellschaftsgestaltung.[3]

Ich halte das Miteinanderverbundensein für eine wesentliche Voraussetzung, um die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern. Zum einen, weil sie so komplex sind, dass wir aller Perspektiven bedürfen, die uns möglich sind. Mehrheitsentscheidungen schließen immer einige von ihnen abweichende Perspektiven aus. Sie erscheinen nur schneller, tatsächlich sind sie viel langwieriger, oft endlos, weil immer wieder nachgebessert werden muss – ob es sich um die Einführung des Euros, die Erweiterung der EU, den Krieg gegen Jugoslawien oder Afghanistan, Atomkraftwerke, das Rentensystem, das Gesundheitssystem oder ein Verkehrssystem, das Autos und Flugzeugen den Vorrang gibt.

Zum anderen wegen eben dieses Glücks gemeinsamer Gesellschaftsgestaltung. Erst als ich 2008 auf der Tagung Integrale Politik in Sankt Arbogast erleben konnte, welches Glück und welche Energie damit einhergeht, wenn ich mich mit über hundert Menschen nicht nur in Grundanliegen, sondern in der Form des Umgangs, der Betrachtung und des Austauschs verbunden fühle, wurde mir ein schwerer lebenslanger Mangel bewusst. Danach ging ich tagelang durch Berliner Straßen ohne meine sonst übliche Zurückhaltung. Ich bekam nicht nur mit, wenn jemand etwas brauchte, sondern sprach die Person an, denn es war unsere gemeinsame Stadt, wir lebten hier gemeinsam, nichts trennte mich mehr vor den anderen, ich musste vor nichts auf der Hut sein.

Ich habe auch in den kleinen Gruppen, in denen ich mit dieser Art von Politik experimentiert habe, immer wieder die Erfahrung gemacht, wie reich ich mich fühlte, weil wir uns alle zeigten und das, was uns bewegte, was uns wirklich wichtig war, miteinander teilten. Es macht mich auf ganz andere Weise lebendig, als wenn ich im Grunde von allen, außer ein paar Freunden und Verwandten, getrennt bin. Und wie schön waren alle in diesen Gruppen, weil sie sich zeigen konnten, weil sie dem Bedürfnis, sich zu zeigen, endlich folgen konnten! Es waren Gruppen, in denen Liebe spürbar war – es sollte uns zu denken geben, dass Liebe und Politik üblicherweise nicht zusammengedacht werden, dass uns die Möglichkeit einer Verbindung zwischen ihnen nicht einmal in den Sinn kommt.

Wer aber einmal einen Volksaufstand, eine Revolution oder auch nur einen Universitätsstreik erlebt hat, weiß, wovon ich spreche. Auf einmal kann man in der Öffentlichkeit offen sprechen. Es gibt all diese Unmöglichkeiten, diese Grenzen, an denen man nicht nur zu sprechen, sondern auch zu denken und oft auch zu träumen aufhört, nicht mehr. Auf einmal scheint alles möglich – und es ist spürbar, wie viele Menschen sich Ähnliches wünschen, wie wenig man damit allein ist.

Der Umgang mit Gegenkräften

Es hat bisher nie lange gedauert, bis einige Menschen, die so eine Situation fürchten – ich vermute, weil sie unbekannt und unberechenbar ist, nicht nur, was den weiteren gesellschaftlichen Verlauf angeht, sondern vermutlich noch mehr in Bezug auf die eigenen inneren Regungen. Auch deshalb erscheint mir eine dialogische Praxis so wichtig: Sie macht uns vertraut mit Formen der Verständigung und des Entscheidens, die grundlegend sind, um in einer der bislang seltenen offenen Phasen (etwa einmal pro Generation) handlungsfähig zu sein und die gesellschaftliche Gestaltung nicht wieder an die Angst und diejenigen von uns, die von ihr getrieben werden, zu verlieren.

Im Reichtum, den die gemeinsame Gesellschaftsgestaltung mit sich bringt, sehe ich zudem den Schlüssel für die vielleicht größte Gefahr für jeden grundlegenden Wandel, mit dem wir eine freiere, gerechtere, lebensdienlichere Ordnung schaffen wollen: den Widerstand der bisher Privilegierten.

Denn sie handeln aus Angst, nicht weil sie unbedingt reich sein müssen, sondern weil reich (und mächtig) zu sein, bisher ihr Leben war. Ich kenne niemanden, der sich nicht mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften wehrt, wenn seine Existenz– und dazu gehört die Identität – angegriffen wird. Ich meine angreifen ganz wörtlich: wenn andere ihre Hand auf das Eigene legen und es einem entreißen wollen.

Das ist zum einen eine strategische Überlegung. Der Wandel zu einer freieren, gerechteren und lebensdienlicheren Gesellschaft ist bisher nie in allen Ländern gleichzeitig in Gang gekommen, auch wenn sich die Begeisterung (der neue Geist, die neue Energie) schnell übertragen hat. Und diejenigen, die sehr viel Geld und sehr viel Macht hatten, haben immer verstanden, diese einzusetzen, um solchen erfolgreichen Bewegungen den Garaus zu machen – oder ihnen so zuzusetzen, dass sie sich in waffenstarrende, auf Misstrauen gründende Militärmaschinen verwandelt haben, die dann schlimmer waren als die gesellschaftliche Ordnung, die sie gestürzt hatten.

Zum anderen widerspricht ein Kampf gegen eine Gruppe von uns ganz grundlegend einem integralen Wandel. Wenn ich will, dass alle Perspektiven zu Wort kommen, geachtet werden und in die Entscheidungen einfließen, kann ich niemanden ausschließen.

Durch Schattenarbeit weiß ich zudem, dass jeder Kampf, den ich führe, immer auch ein Kampf gegen mich selbst ist; vielleicht ist er am Ende vor allem das. Ich lebe in einer Gesellschaft, wo die allermeisten davon träumen, reich und damit mutmaßlich sorgenfrei zu sein. Es ist das große Glücksversprechen des Kapitalismus. Und ich muss ehrlich sagen, er hat nicht wenig davon eingelöst.

Der Schlüssel, um einen Ausweg aus der Angst und einer von Angst geprägten Gesellschaft zu finden, liegt nach meinem Eindruck im Reichtum der gemeinsamen Gesellschaftsgestaltung – bei der es darum geht, dass es allen gut geht, nicht nur materiell, sondern dass wir alle das bekommen, was wir brauchen, und das beitragen können, was wir beitragen wollen. Der Reichtum, den wir erleben, wenn wir unser Inneres frei mit anderen teilen (also den gesellschaftlichen inneren Quadranten überhaupt erst wirklich beleben), ist grenzenlos. Ich vermute, dass wir Reichen und die Superreichen, wenn wir diese Erfahrung machen, dahin kommen, die materielle Unersättlichkeit als einen schalen Ersatz zu erkennen. Bekämpfen wir die Unersättlichkeit, schaffen wir Angst, stauchen andere (und uns selbst) in sie zurück und schaffen mit Sicherheit das Gegenteil dessen, was wir zu wollen meinen.

Auch das ist nach meinem Verständnis ein Weg der Liebe. Sie bringt allerdings im Gesellschaftlichen wie im Persönlichen eine Menge Schwierigkeiten mit sich. Je mehr ich mich öffne, umso lebendiger werde ich, aber auch umso verletzbarer. Und ich werde unausweichlich mit allen Schattenseiten konfrontiert. Nicht auf einmal, aber nach und nach – was gereicht hat, um vor der Liebe immer wieder Reißaus zu nehmen. Es ist also ein Weg des Kampfes. Der Unterschied ist (er könnte nicht wesentlicher sein): Diese Kämpfe habe ich in mir auszutragen – und das Schwierigste in ihnen besteht darin, die eigene Angst auszuhalten und dann allmählich zu halten, das heißt, sich selbst zum Gefäß zu werden.

Entwicklungsebenen

Neben den inneren Quadranten waren die Entwicklungsebenen anfangs wohl der stärkste Impuls bei der Klärung, was integrale Politik sein könnte. In der Fachgruppe haben wir mehrfach den Versuch unternommen, sie auf konkrete Projekte anzuwenden, etwa ein Modellprojekt für junge Mütter in Berlin-Hellersdorf oder Ideen zu einem bedingungslos vergebenen Grundeinkommen.

Für mich als Historiker war es beglückend, dass jemand nicht nur einzelne Geschehnisse und Entwicklungen untersuchte, sondern in der Gesamtheit der Menschheitsgeschichte einen Sinn fand. Die intensive Arbeit mit Spiral Dynamics verstärkte das.

Mir gefiel daran auch, wie einfach es war, falsche politische Ansätze zu erkennen und stimmiger anzusetzen. So war die von der US-Regierung zusammen mit ihren Verbündeten betriebene Politik in Afghanistan nach dem Sturz und der teilweisen Vertreibung der Taliban offenkundig ein Fehler. Es konnte nicht gelingen, eine in weiten Teilen von Stammesstrukturen (purpur) und dem Ehrbegriff (rot) geprägte Gesellschaft, die zudem durch jahrzehntelange Kriege auch strukturell stark zerstört war, durch das Aufpfropfen einer demokratischen Staatsform (orange) zu entwickeln und zu modernisieren. Ja, die Frage stellte sich sogar, ob nicht grade die Taliban begonnen hatten, in dieser sehr schwierigen Lage einen entscheidenden Entwicklungsschritt zuwege zu bringen. Der sowjetische Versuch einer von außen unterstützten und von hier auch weitgehend gesteuerten Modernisierung war in den 1980er-Jahren ähnlich gescheitert wie es der US-amerikanische seit 2001 tut. Schließlich hatten verschiedene Mudschaheddin-Gruppen die kommunistische Regierung gestürzt, verwickelten sich aber in andauernde Kämpfe untereinander. Erst die Taliban beendete den Bürgerkrieg in weiten Teilen des Landes und begann, mit einem sehr strengen Islam schrittweise die Stammesgesetze zu verdrängen. Nach der Typologie von Spiral Dynamics erscheint mir das durchaus als Versuch, in einer verfahrenen rot geprägten gesellschaftlichen Situation den Übergang zu Blau zu versuchen. Das konnte nur gehen, wenn dieses Blau noch stark rot geprägt war. Hätten die westlichen Staaten daher nicht eher die Taliban, statt sie zu bekämpfen, nicht unter weiteren Druck setzen, in sinnvollen Projekten, vor allem zur wirtschaftlichen Erholung, vorsichtig unterstützen und ihnen so bei der Schaffung von Voraussetzungen für ein stabiles Blau helfen müssen?

Der Eindruck, aufgrund des Spiral-Dynamic-Ansatzes die Situation schnell verstanden zu haben, zeigt allerdings auch, wie gefährlich ein solches Vorgehen ist. Viele Fachleute, die die Situation im Land gut kannten, waren auch ohne diese Theorie zu der Einschätzung gelangt, es ginge nach dem Sturz der Taliban darum, die Gesellschaft von unten, das heißt von ihren Stammesgrundlagen her neu aufzubauen und dabei Elemente, die eine positive Entwicklung befördern könnten, etwa die Loya Dschirga (Große Ratsversammlung), zu stärken. Sie taten das aber aufgrund reicher Kenntnisse der verwickelten Gesamtsituation, nicht durch die rasche Anwendung eines Entwicklungsmodells.

So begann ich, Erfahrungen mit der Anwendung von Spiral Dynamics und dem integralen Ansatz zu machen, die beide infrage stellten. Je mehr ich ins Detail ging, umso mehr löste sich die schöne Übersicht der aufeinanderfolgenden Ebenen auf und machte einem Gewirr von einander oft widersprechenden Zusammenhängen Platz. Aber auch die Gesamtabfolge, die in beiden Modellen behauptet wird und unter anderem durch die schöne und auch logisch erscheinende Abfolge besticht, wurde mir zunehmend fraglich.

Keine Menschheitsepoche des roten Werte-Mems

Bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass es ein rotes Werte-Mem als Entwicklungsphase offenbar nie gegeben hat. Schaue ich mir die frühsten Formen von Staatsbildung in Sumer an, dann waren das Stadtstaaten mit Tempelwirtschaft. Erst später kam das Militärische dazu – durch den wachsenden Reichtum dieser Städte, durch die abgeschlossene Urbarmachung des Landes zwischen ihnen, wodurch sie direkt aneinanderstießen und bei weiterem Bevölkerungswachstum nicht mehr auf unbebautes Land ausweichen konnten, und durch nomadische Nachbarn, die auf ihren Reichtum aus waren.

Die historischen Beispiele, die als Beleg für eine rote Geschichtsphase angeführt werden – der Feudalismus des Frühmittelalters, Dschingis Khan und Napoleon – bezeichnen keine Entwicklungsphasen, sondern gewalttätige Übergänge oder Zustände. Im Feudalismus bestand die Reichsidee fort, es gab durchaus Gesetze, Verträge und Gerichte und mit dem Christentum eine religiöse und gesellschaftliche Ordnung, die einer absoluten Macht und einem höheren Sinn verpflichtet und unterworfen war. Dschingis Khan hat Stammesverbände staatlich geeint und ihnen eine ausgearbeitete Rechtsordnung gegeben, religiös war sein Ziel ein friedliches Nebeneinander von Buddhismus, Islam und Christentum. Er hat damit sehr viele blaue Strukturen geschaffen und vereinheitlicht. Napoleon ging es wesentlich um eine Modernisierung der Gesellschaft und die Förderung der bürgerlichen Wirtschaft in Frankreich. Er hat dazu in großem Maß die Wissenschaften genutzt; sein Code Civil ist für das Zivilrecht in vielen Ländern bis heute grundlegend.

Rot kennzeichnet demnach vor allem die gewalttätige Durchsetzung eines Willens. In einer bestimmten Perspektive sieht es so aus, dass ihn ein Einzelner einer Gesellschaft aufzwingt und dass dies das entscheidende Moment ist. Politische Führer wie Dschingis Khan und Napoleon, aber auch Stalin, Hitler und Mao haben Völker, die von inneren Kämpfen zerrissen waren, mit viel Gewalt geeint und neue Ordnungen geschaffen. Ihr Vorgehen scheint dem Glauben vieler entsprochen zu haben, dass es nur noch so gehen könne. Es ging nicht um die Durchsetzung eines rohen Egos, das sich gewaltsam aus den engen Bindungen eines Stammes befreit hätte.

Von der Fremdheit von Stammesgesellschaften

Ähnlich ist es mit dem purpurnen Werte-Mem beziehungsweise dem magisch-animistischen Bewusstsein. Die ganz große Mehrheit der menschlichen Gesellschaften fällt unter diesen Typus. Sie sind von einer so immensen Vielfalt, dass sie darin den gesamten zivilisatorischen Rest weit überragen dürften. Hinzu kommt, dass wir keine schriftlichen Quellen aus ihnen haben (sie sind allesamt vorschriftlich), sondern nur über sie, vor allem von Europäern seit dem Ende des 15. Jahrhunderts.

Wilber, der den Konstruktivismus immer wieder scharf kritisiert hat, hat ihn leider selbst nicht aufgenommen, was mir besonders bei seiner Betrachtung dieser Bewusstseinsebene aufgefallen ist, wo er den europäischen Blick nicht einbezieht. Da erzählt etwa ein Christoph Kolumbus in seinen Tagebüchern eifrig von den Bewohnern der von ihm entdeckten Westindischen Inseln, als könnte er sich mit ihnen unterhalten. Mal abgesehen davon, dass er und seine Begleiter die ihnen völlig fremde Sprache erst mühsam lernen mussten, ist Übersetzen nicht nur ein lexikalischer Vorgang; ich muss nicht nur wissen, was das betreffende Wort in meiner Sprache bedeutet, ich muss auch den Zusammenhang kennen, in dem es in der dortigen Kultur steht. Hinzu kommt häufig eine andere grammatische Struktur, die die Dinge der Welt grundlegend anders einteilt, zum Beispiel nicht in Geschlechter (Artikel), sondern in Wortklassen wie im Swahili.

Daniel Everett gibt in seinem Buch Das glücklichste Volk (englisch: Don’t Sleep, There are Snakes) über die Pirahã (gesprochen Pi-da-HAN) des Amazonas eine Übersetzung eines Jagdberichts wieder. Ich verstehe jedes einzelne Wort, aber ich verstehe nicht, was der Mann erzählt hat (S. 188–192). Die Pirahã sehen zudem Geister. Es wäre nicht zutreffend zu sagen: Sie glauben an sie. Zu Beginn des Buchs schildert Everett eine frühmorgendliche Szene: Die Dorfbewohner stehen aufgeregt am Fluss und sehen auf der anderen Seite einen Xigagaí, eines jener Wesen, „die über den Wolken wohnen“. Der Linguist und seine sechsjährige Tochter sehen – nichts. Everett war übrigens als Missionar zu ihnen gekommen, aber letztlich „bekehrten“ sie ihn. Ihre Sprache kennt keine Vergangenheitsform, daher konnte er ihnen nicht vermitteln, welche Bedeutung ein Jesus Christus für sie haben sollte, der seit zweitausend Jahren tot ist.

Ich kenne zwei Filme, die etwas von dieser immensen, ja „mind-blowing“ Fremdheit vermitteln, die Europäer jahrhundertelang befallen haben dürfte, wenn sie intensiver mit einer Sammlerinnen-Jäger-Gesellschaft in Kontakt kamen: Cabeza de Vaca von Nicolas Echevarria über den gleichnamigen spanischen Konquistador und Dead Man von Jim Jarmusch über einen jungen Buchhalter, der 1876 in den äußerten Westen der USA fährt, um dort eine Stelle anzutreten. Bezeichnenderweise glückt in beiden dem jeweiligen Protagonisten der Zugang zur anderen Kultur in einer Art Trance, das heißt die üblichen Einordnungen und die mit ihnen verbundenen Wertungen sind aufgehoben. Ich vermute, dass die wahnsinnige Gewalt der Europäer gegenüber in Stämmen lebenden Menschen auch daher rührt, dass ihnen der Kontakt mit ihnen regelmäßig den Boden unter den Füßen wegzureißen drohte. In gewisser Weise handelten sie aus selbst verschuldeter geistiger Notwehr.

Eine sanftere Form der Gewalt ist die Vereinnahmung dieser Kulturen in unsere Begriffssysteme. Leider gibt es bis heute nur wenige Bücher von Menschen aus solchen Kulturen – die bikulturell sein müssen, um sie überhaupt schreiben zu können. Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, dem empfehle ich Malidoma Patrice Somés Vom Geist Afrikas.

In Sammlerinnen- und Jäger-Kulturen scheint es zudem die verschiedenen Bewusstseinsebenen, die Wilber ausmacht, durchaus schon gegeben zu haben. Dazu eine unter Ethnologen bekannte Geschichte: Selbstverständlich wissen die Leute im Dorf, dass der Getreidespeicher eingestürzt ist, weil die Termiten einen Pfosten zerfressen haben. Geister kommen ins Spiel, um zu erklären, warum der Speicher gerade zu der Zeit einstürzte, als Großvater in seinem Schatten ein Nickerchen machte, und ihn erschlug.

In Spiral Dynamics gibt es übrigens eine grundlegende Annahme, die hiermit korrespondiert: Graves sieht die Werte-Meme als Funktion einer „psychischen DNA“, die von Anfang an im menschlichen Gehirn vorhanden sei und lediglich durch Existenzprobleme aktiviert werde. Das legt nahe, dass auch durch unterschiedliche Herausforderungen – im Alltag wie in außergewöhnlichen Situationen – unterschiedliche Werte-Meme aktiviert werden und Veränderungen in den Lebensbedingungen hier lediglich die Akzente verschieben.

Zunahme oder Abnahme von Komplexität?

Das wirft eine weitere Frage auf: Stimmt die Dynamik, die Wilber als der menschlichen und allgemeinen Evolution zugrundeliegend behauptet, der ständige Wechsel von Differenzierung und Integration, wobei mit jeder Integration eine völlig neue Qualität erreicht wird? Das Ganze ist, wenn ich es richtig verstehe, eine Übertragung aus der Physik und der Biologie: Atom – Molekül – Zelle – Organismus. Jedes Teil ist dabei zugleich selbst ein Ganzes (Holon). Was aber haben wir von Sammlerinnen- und Jägergesellschaften oder Hackbauerngesellschaften integriert? Wo ist die Fähigkeit, Geister zu sehen, geblieben? Vermutlich haben wir in unserem mehrtausendjährigen Zivilisationsprozess mehr verloren als die Fähigkeit, ein Tier im Buschwerk oder einen nahenden Tsunami zu erkennen. Ich sehe viel Differenzierung, vor allem durch Arbeitsteilung und die damit einhergehende Trennung von Lebenssphären seit den frühesten Zivilisationen, was sich in der Moderne sehr beschleunigt hat. Dabei ist viel einfach weggeschlagen worden. Der Katholizismus und die Orthodoxie haben frühere Götter noch teilweise als Heilige integriert, die alte, zum Teil chaotisch anmutende Vielfalt in einer neuen Einheit aufgehen lassen. Aber wie viel von der Besonderheit der alten Kräfte, ihrer komplexen Widersprüchlichkeit (die antiken Götter waren eben nicht gut oder böse, sondern vielgesichtig) ist dabei getilgt worden? Hinzu kommt eine viel einschneidendere Differenzierung, die zwischen Gut und Böse, Gott und Teufel, Himmel und Hölle. Und im Protestantismus ist nur noch der eine, wenn auch dreifaltige Gott übrig. Selbst der weibliche Bereich in der Gestalt Marias spielt fast keine Rolle mehr – mit, wie mir scheint, weitreichenden Folgen bis heute. Für einen Großteil der heutigen Naturwissenschaftler – mutmaßlich die ganz überwiegende Mehrheit – spielt so etwas wie Gott überhaupt keine Rolle mehr; dieser Bereich ist schlicht verschwunden.

Das geht so weit, dass Ethnologen, die ja auch Wissenschaftler sind, zwar erleben, dass ein Schamane, auf den sie warten, wie aus dem Boden gestampft plötzlich auf einem Pferd wenige Meter von ihnen entfernt steht, aber sie sprechen nicht darüber, weil sie sich damit als Wissenschaftler unmöglich machen würden.[4]

Mein Eindruck ist, dass wir derzeit vor einer immensen Integrationsaufgabe stehen, weil wir in einer völlig überdifferenzierten Welt leben, in der sich die Lebensweise und die Erfahrungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen so sehr voneinander unterscheiden, dass eine Verständigung kaum noch möglich ist (etwa zwischen der wissenschaftlich geprägten Mehrheit und den Impfgegnern auf unterschiedlichsten Grundlagen jetzt in der Corona-Krise). Darauf aufmerksam zu machen, ist ein weiteres Verdienst von Wilber, Beck und Cowan. Aber es ist von einem bestimmten historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Standort aus gesehen und beschrieben, nicht von einem überragenden Aussichtsturm oder gar einer himmlischen Wolke aus.

Möglicherweise gibt es eine solche Fragmentierung in anderen Kulturkreisen nicht oder sie ist anders. Leider machen weder Wilber noch Beck und Cowan den Versuch, eine andere als eine europäische (nordamerikanische) Perspektive einzunehmen, obwohl das bei Wilbers asiatischem spirituellen Hintergrund durchaus naheläge. Peter Erlenwein, der mehrfach Artikel in den ip veröffentlicht hat, hat mir von Erfahrungen in Indien und Namibia erzählt. Da bucht eine Frau beispielsweise online einen Flug zu einer Konferenz nach London und ist zugleich in einer Verbindung zu ihren Ahnen, die völlig real wirkt.

In Japan und besonders in Indien scheinen Weltsichten und Wertesysteme völlig selbstverständlich nebeneinander existieren zu können, zum Teil wohl in ein und derselben Person, die sich für uns völlig ausschlössen, etwa ein vielfältiger Geisterglaube und moderne Wissenschaft. Inwieweit das wirkliche Integration ist, weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal, was wirkliche Integration sein könnte, da ich nur eine sehr vage Vorstellung davon habe, was zu integrieren wäre.

Zutreffender finde ich hier die Beschreibung von Beck und Cowan: Im Laufe unserer Entwicklung haben wir Älteres eher abgestoßen und fortgeworfen. In der ersten Ordnung (tier) prägt das jeweils dominierende Werte-Mem die Menschen so, dass sie ihre eigene Sicht für die beste überhaupt, wenn nicht für die einzig richtige halten.

Einig sind sich Wilber, Beck und Cowan wiederum in der zunehmenden Komplexität. Das stimmt für die physikalisch-biologische Reihe vom Atom zum Organismus und trifft auch auf die Reihe von einem Sammlerinnen- und Jäger-Stamm zu einem hoch technisierten Staatenverbund wie der EU zu. Schaue ich mir aber die Tätigkeiten und Fertigkeiten oder die Zusammensetzung der Nahrung eines einzelnen Menschen an, erhalte ich ein sehr unregelmäßiges Bild, mit den Sammlerinnen und Jägern als der komplexesten Stufe.[5] Ähnlich sieht es für das Verhältnis einer Gesellschaft zu ihrer natürlichen Umgebung aus: Die Traumpfade, die das Gebiet durchziehen, in dem ein Aborigine-Stamm lebt, ist von einer immensen Komplexität. Und die Entwicklung der Grammatik von Sprachen zeigt eher den umgekehrten Verlauf einer zunehmenden Vereinfachung.

Die These der wachsenden Komplexität wäre also von Fall zu Fall genau zu untersuchen. Ich vermute, dass die Summe sich letztlich nicht sehr unterscheidet, schon allein, weil unser Gehirn nur eine bestimmte Menge an Komplexität verarbeiten kann. Die lässt sich sicher durch Gebrauch steigern, aber nicht beliebig. Entscheidend scheint mir dabei auch zu sein, welchen Gesamtzusammenhang diese Komplexität bildet und wie intensiv mein Kontakt zu ihr ist. Beides ist in unseren hoch technisierten Gesellschaften durch die Differenzierungen stark zurückgegangen. Zudem haben wir mittlerweile einen Großteil der Komplexität in äußere Systeme (Computer und Roboter) ausgelagert, was augenfällig zu einer Verarmung unserer eigenen Fähigkeiten führt, etwa was Bewegungs- und Erinnerungsleistungen angeht.

Zwei andere Entwicklungsbewegungen: bei Thomas Mann und Moses

Tatsächlich scheint sich unsere europäische Entwicklung höchstens in Teilen holonisch (Wilber) oder in Wellen (Spiral Dynamics) vollzogen zu haben. Eine andere Bewegung beschreibt Thomas Mann im „Höllenfahrt“ genannten Vorspiel seiner Tetralogie Joseph und seine Brüder: einen Wechsel von Progression und Regression, und zwar Regression vor allem auf verschiedene Ursprünge.[6] Die Regression zeigt sich dabei als ein Rückgriff, eine Versicherung vom neu erreichten Standort aus, weil man sieht, dass man nicht aus der Klemme kommt; von der Gegenwart aus gesehen, hat sich das Alte verändert, andere Aspekte stehen nun im Vordergrund und werden nun für einen weiteren Schritt vorwärts genutzt.

Beispiele dafür sind die Hinwendung der Romantiker zum Mittelalter, im Versuch, Gegengewichte zur von ihnen als mangelhaft empfundenen Aufklärung zu finden; Komponisten auf dem Sprung in die Moderne, die im 19. und 20. Jahrhundert Anregungen in der Volksmusik suchten; die Wahl des ehemaligen Präsidenten des preußischen Staatsrats der Kaiserzeit Konrad Adenauer zum ersten Kanzler der Bundesrepublik.

Das wirft ein neues Licht auf Wilbers häufig geäußerte Kritik an einer Prä-Trans-Verwechslung, so richtig diese Unterscheidung selbst auch ist. Denn wenn Progression immer wieder auch auf Regression angewiesen ist, dann ist diese nicht einfach ein in die Irre führendes Zurück, sondern möglicherweise der Versuch, einem Mangelempfinden durch die Suche nach etwas Verlorenem (und eben nicht Integriertem) nachzugehen. Ich sehe viel davon in den diversen europäischen und nordamerikanischen Bewegungen, die sich animistischen oder polytheistischen Vorstellungen zuwenden.

Ein noch anderes Verständnis der menschlichen Entwicklung schlägt der Theologe Eugen Drewermann in Strukturen des Bösen[7] vor. Er folgt dabei der mythischen Geschichtsdarstellung zu Beginn des ersten Buchs Mose, der Genesis. Demnach handelt es sich zwar durchaus um einen unablässigen Fortschritt, aber einen im eigentlichen Wortsinn: fort von etwas. Nach ihm ist all unser zivilisatorisches Bemühen ein einziger verzweifelter und irrsinniger Versuch, den Verlust der Einheit mit Gott selbstständig auszugleichen, indem wir uns an seine Stelle setzen. Da das scheitern muss, sind wir gezwungen, unsere Bemühungen unablässig zu steigern. Was wir dabei zustande bringen, ist sehr beeindruckend, es hat die Kraft und Macht der alten Götter. Aber es vergrößert nur den grundlegenden Mangel. Diese Spirale ist tatsächlich nach oben offen. Sie wird einzig durch die Zerstörung begrenzt, in die sie zwangsläufig treibt.

Mir ist diese Sicht von allen am nächsten. Dass wir so grundlegendes Leid wie Armut (bei vorhandenem Reichtum), Krieg oder Versklavung und Ausbeutung in 5 000 Jahren Zivilisation nicht überwinden konnten, sondern immer nur verschoben haben – auf andere Menschengruppen, auf Tiere, auf die Erde selbst –, finde ich frappierend. Und gerade schicken sich etliche von uns an, uns in der gleichen Weise überflüssig zu machen, wie wir Gott überflüssig gemacht haben: indem wir göttliche Wesen schaffen, die alles (vermeintlich) besser als wir selbst können. Einige Forscher halten nicht das Artensterben oder die Klimaerwärmung für die größte Gefahr, sondern die Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Ihnen zufolge bleibt uns nur noch wenig Zeit, bis wir die Kontrolle unwiederbringlich verloren haben.[8]

In jedem Fall scheint mir Entwicklung weitaus vielgestaltiger abzulaufen, als irgendein Modell sie beschreiben kann. Bei allen, die ich kenne, wird weit mehr weggelassen als in den Blick genommen. Es erscheint mir dann stimmig, wohl weil mir klare, überschaubare Formen gefallen, vor allem da, wo ich Schwierigkeiten habe, die Zusammenhänge zu erkennen, ich sie aber zugleich sehr gerne erkennen möchte.

Wir können die Welt nicht anders als von einem Standort aus (und mit dem Blick, den er uns bietet) und aus einer Geschichte (und den Erfahrungen, die wir gemacht haben) sehen und von ihr sprechen.

Ich sehe als Weg derzeit nur ein dialogisches Vorgehen. Und weiß nicht, ob es gelingen kann. Eine Zusammenfassung aller Sichtweisen kann vielleicht ein Computer errechnen (aber dann fehlte die innere Seite), wir können es nicht. Vielleicht ist das aber auch nicht nötig. Wenn Entscheidungen so lokal (subsidiär) wie möglich getroffen werden (beispielsweise nicht von einer Konferenz der EU-Bildungsminister, sondern von jeder einzelnen Schule und jeder einzelnen Universität, und zwar mit einem Gespür für ihre Teilhabe, Teilgabe[9] und Teilnahme am Ganzen), bleibt es überschaubar.

Die Verwechslung der Landkarte mit der Wirklichkeit

Sowohl Wilber als auch Beck und Cowan sehen ihr jeweiliges Modell als Landkarte an. Und alle drei betonen immer wieder die immens vielfältigen, ja oft chaotischen Bewegungen innerhalb der Entwicklung. Wir haben es folglich mit einer Annäherung an und einer groben Vereinfachung der Wirklichkeit zu tun. Vor allem Wilber weist auch immer wieder darauf hin. Es fällt dann allerdings in der praktischen Anwendung, auch bei anderen integral geprägten Autoren, weitgehend unter den Tisch.

Mir scheint, das hat mit der Herangehensweise und bei Wilber mit der hierarchischen (holarchischen) Struktur zu tun. Wenn ich vom Modell so begeistert bin, dass ich es als die Orientierung in der Wirklichkeit betrachte, dann gehe ich an sie mit dem Modell heran, das heißt, ich suche nach Hinweisen, die das Modell bestätigen. Da das Modell sehr viele Aspekte einbezieht, werde ich mit ziemlicher Sicherheit Passendes finden. Damit bewege ich mich aber im Kreis, der mir tendenziell nur das Modell bestätigt.

Ich glaube, wir brauchen eine offene Herangehensweise an jedes Phänomen und jede Frage. Wir brauchen jede Menge Informationen, und zwar von möglichst verschiedenen Menschen und Gruppen. Und wir brauchen ihre Geschichten, also ihre innere Sicht, um überhaupt die Möglichkeit zu erhalten, uns in sie hineinzuversetzen. Vor allem Letzteres halte ich für unverzichtbar, denn erstens birgt das stets Überraschungen und zweitens ist regelmäßig eine der größten von ihnen, dass ich selbst am Zustandekommen dieser Sicht einen Anteil habe, das heißt, ich stehe nicht als unbeteiligter Beobachter draußen und schon gar nicht als Beurteiler darüber.

Erst indem wir einander unsere Geschichten erzählen und nachfragen, wo wir etwas nicht verstehen, bekommen wir ein annäherndes Bild der Wirklichkeit. Mit allen anderen Verfahren schmoren wir weitgehend im eigenen Saft.

Modelle, zumal solche, mit denen wir viel arbeiten, haben wir sicherlich trotzdem im Kopf, und sie beeinflussen unsere Wahrnehmung, aber es macht einen großen Unterschied, ob ich gleich nach ihnen suche oder ob ich erst einmal so viel ich kann von der Situation sammle. Ich finde hier C. Otto Scharmers Theorie U einen hilfreichen Ansatz. Es geht darin darum, das, was als Potenzial „in der Luft“ liegt, zu verwirklichen. Dafür nennt er als die ersten beiden von drei Schritten: „1) beobachte, beobachte, beobachte: öffne und verbinde dich mit dem, was draußen vor sich geht; 2) lass das innere Wissen entstehen: öffne und verbinde dich mit dem, was von innen heraus entsteht.“[10] Spiral Dynamics oder der integrale Ansatz haben Platz im zweiten, nicht im ersten Schritt. Und sie fließen da ein und werden nicht zur Anwendung gebracht. Das heißt, gesättigt mit Wirklichkeit ergibt sich, was passt. Das ist eine sehr andere Haltung: Statt aus einer Position des Überblicks anderen zu zeigen, wo es langgeht, höre ich zu und gewinne gemeinsam mit anderen ein Verständnis. Durch beides – die Öffnung für das, was außen und innen ist, sowie die Gruppe – entsteht ein Feld, das sehr gegenwartsbezogen und nicht starr ist.

Macht und Herrschaft

In Wilbers integralem Ansatz kommt vom Modell her noch etwas anderes hinzu. Indem er Komplexitätsabfolgen aus der Physik und der Biologie auf den soziologischen, kulturwissenschaftlichen, kulturanthropologischen und psychologischen Bereich überträgt, erhält er Bewertungskriterien:

Jede Stufe besitzt demnach all das, was die vorige Stufe ausmachte, aber noch etwas drüber hinaus (zum Beispiel mehr Integrationskraft), und dieses „darüber hinaus“ bedeutet einen Wertzuwachs gegenüber der vorausgegangenen Stufe.[11]

Die Grundstruktur seines Modells nennt er Holarchie – Herrschaft der Holons, wobei ein Holon ein Ganzes aus Teilen und zugleich Teil eines größeren Ganzen ist. Ich bin durch meine Forschungsarbeit zur Bedeutung von Mythen in den jugoslawischen Teilungskriegen sehr hellhörig geworden für die Bedeutung und Herkunft von Worten. Wilber spricht nicht von „Herrschaft“. Aber das Wort, das er benutzt, kommt vom altgriechischen „archein“, das „herrschen“ bedeutet.

Ich möchte erst einmal nur auf einen Aspekt dessen eingehen, warum mir dieser Ansatz sehr problematisch, ja gefährlich erscheint; auf einen weiteren werde ich später noch kommen. Ich habe zu zeigen versucht, wie stark die Menschheitsentwicklung zumindest in Europa und in europäisch geprägten Kulturen von Ausschließungen, also dem Gegenteil von Integration, geprägt ist. Wenn ich jetzt beispielsweise von einem grün geprägten ökologischen oder orange geprägten liberalen Standort aus rot geprägte Nationalisten beurteile, dann beinhaltet mein Standort wahrscheinlich eine komplexere Sicht – nur dass ich ziemlich sicher genau das ausgeblendet habe, was den Nationalisten umtreibt (ich versuche es mal in meine Worte zu übersetzen, was sicherlich ein fragwürdiges und zu überprüfendes Vorgehen ist): den Verlust von Heimat, des Gefühls, sich zu Hause und zugehörig zu fühlen, sich orientieren zu können und sich selbst innerhalb der Gesellschaft, der es an Gemeinschaft mangelt, als wertvoll zu erleben.

Ich kenne kaum jemanden, der, wenn er sich bedroht fühlt, nicht erst einmal andere dafür verantwortlich macht. So ist es auch bei dem Nationalisten, der die Bedrohung von den Ausländern im Allgemeinen, im Besonderen von den Flüchtlingen ausgehen sieht, die er ziemlich pauschal für Wirtschaftsflüchtlinge hält, sowie von obskuren Netzwerken, die angeblich im Hintergrund die Fäden ziehen.

Eine holarchische Sicht ist hier nicht nur nicht hilfreich, sondern kontraproduktiv, denn sie verhindert, dass ich dem Anderen mit offenen Sinnen, offenem Verstand und offenem Herzen zuhöre – ich habe ihn ja schon einsortiert.

Mir scheint daher noch der Anspruch einer Landkarte zu hoch gegriffen. Dazu sind beide Modelle zu fehlerhaft und zu fragwürdig. Ihr Wert liegt für mich vor allem darin, dass sie Hinweise auf ein paar sehr grundlegende Fragen geben: Was treibt eigentlich unsere kulturelle Entwicklung an? Wie verhalten sich sehr unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Sichtweisen zueinander, und ergibt jede von ihnen vielleicht in einem größeren Zusammenhang einen Sinn?

Die Gefahr des Totalitarismus

Die größte Gefahr beider Modelle sehe ich in dem Eindruck, mit ihnen könnte die Wirklichkeit erfasst werden. Titel wie Eine kurze Geschichte von allem und die vielen Tabellen, in denen alle möglichen Linien (Wirtschaft, gesellschaftliche Organisation, Religion, Bewusstseinsstand usw.) auf den Entwicklungsebenen ihren Platz finden, verstärken ihn. Mich selbst hat das anfangs begeistert: Endlich ergibt diese viel zu komplexe Welt mit ihrer viel zu komplexen Geschichte einen Sinn, ein zusammenhängendes Ganzes. Und: Alles hat seinen Platz und Wert.

Dass ich die Wirklichkeit bei eingehender Betrachtung immer wieder anders sah als im Modell, ließ mich schließlich auch über etwas anderes stolpern: den Verlust des Staunens. In meiner eigenen Forschung habe ich immer wieder Überraschungen erlebt – die Verhältnisse waren nicht so, wie ich angenommen hatte. Das waren nicht nur interessante Zusatzinformationen, sondern zum Teil erschütterten sie mein Weltbild. So hat mich zum Beispiel die Frage beschäftigt, wie sich Herrschaft von Menschen über Menschen entwickelt hat. Aufgrund meiner Erfahrungen mit Verbundenheit in Gruppen fragte ich mich, warum Menschen nicht mit aller Kraft deren Zerstörung oder Verlust verhindert hatten. Mir fiel nur eine Situation ein, in der eine gemeinschaftliche Beratung den Entscheidungen eines geschickten Einzelnen, eines Führers, unterlegen ist: der Krieg. Während die einen noch beratschlagen, hat der Anführer der anderen seine Leute bereits entscheidende Positionen besetzen lassen.[12] So war meine These, dass sich Herrschaft durch wiederholte Kriege entwickelt hatte – wobei weitere Elemente wie Rechtskonflikte oder ein Bewässerungssystem hinzugekommen waren und diese Entwicklung verstärkt hatten.

Die Forschungen, die ich hierzu fand, zeichnen aber ein anderes Bild: So hat es nach Marshall Sahlins und David Graeber (On Kings) praktisch keine menschliche Gesellschaft ohne Hierarchie gegeben. Hierarchie ist nicht gleich Herrschaft, kommt ihr aber nah. Das hat mich verblüfft, hatte ich doch von vielen egalitären Gesellschaften gelesen. Nur, dass diese offenbar zwischen Menschen und Tieren und Orten und Kräften nicht unterscheiden. Alle sind „Menschen“. Und da gibt es dann erheblich mächtigere als die Menschen im engeren Sinn. Jene haben Gewalt über die Menschen. Diese müssen ihnen nicht zwangsläufig gehorchen, sie können sie auch austricksen oder mit ihnen verhandeln, aber sie sind eindeutig die Schwächeren.

Soziale Hierarchien haben sich nun anscheinend über die größere Nähe Einzelner (Schamanen) zu diesen Kräften herausgebildet. Wurde die Gesellschaft größer und komplexer und entstanden damit Beziehungen, die immer weniger real gelebt wurden, gedanklich aber dennoch vorhanden waren, so tendierte diese herausgehobene Stellung dazu, zu institutionellen Apparaten zu werden. So finden sich in den frühen sumerischen Stadtstaaten keine Paläste, wohl aber Tempel mit einer überragenden ökonomischen Rolle.[13]

Mir wurde deutlich, dass das Verhältnis zu den anderen Kräften in der Welt, die ganz selbstverständlich alle ein Inneres hatten (also personenhaft waren), für alle Kulturen vor der Moderne wesentlich war.

Was heißt es für uns heute, dass diese Dimension gesellschaftlich nicht nur keine Rolle mehr spielt, sondern praktisch gar nicht mehr existent wirkt? Das, was über Jahrtausende Grundlage und Bezugsrahmen war, ist heute als Privatsache aus dem gesellschaftlichen Diskurs und Handeln verschwunden. Die Vermutung liegt nahe, dass unser Aus-der-Welt-gefallen-Sein, unsere Bezugslosigkeit und Maßlosigkeit ganz wesentlich damit zu tun haben. Aber so einfach ist es nicht. Maßlos sind Zivilisationen seit der Antike immer wieder gewesen, und auch massive Umweltzerstörungen sind nichts Neues.

So weit mein Beispiel, das ich angeführt habe, um zu zeigen, wie die kulturelle Wirklichkeit weit über jede Theorie hinausgeht. Lasse ich mich wirklich auf sie ein, werde ich Überraschungen erleben. Überrascht zu werden und mich überraschen zu lassen, halte ich nicht nur als Forschungshaltung für grundlegend, sondern ganz allgemein. Alles, was ist, ist über alle Maßen erstaunlich und unfassbar. Um das zu fühlen, muss ich meinen Betrachtungsstandort innerlich nur leicht verschieben: Ich trete heraus aus meinem begrifflichen Verständnis von allem – und betrachte einfach.

Dieses Staunen scheint mir die Grundlage von Spiritualität zu sein – diesseits aller erklärenden Geschichten und Konstruktionen. Und sie scheint mir auch eine notwendige Grundlage zu sein, damit wir uns heute aus unserer Nutzungshaltung gegenüber der Welt, die eigentlich eine Haltung der Ausbeutung ist, lösen.

Mit einer Herangehensweise wie dem integralen Ansatz oder Spiral Dynamics laufe ich Gefahr, immer schon Bescheid zu wissen, weil ich weiß, wie die Wirklichkeit tickt. Wahrscheinlich weiß ich dann auch recht schnell, was zu tun ist, um Schwierigkeiten zu beheben. Und das birgt die Gefahr, dass beide ins Gegenteil der Öffnung hin zu einer großen Wertschätzung und einem tiefen Verständnis aller anderen Sichtweisen umschlagen in ein totalitäres Weltverständnis und totalitäre Umgangsweisen.

Eine meditative Haltung

Dass das Spirituelle eine wesentliche Dimension unseres Seins ist und seine Verdrängung aus dem, was wir gesellschaftlich wichtig finden, einen wesentlichen Teil dessen bildet, woran die Moderne krankt, ist für mich ein weiterer wesentlicher Hinweis Wilbers gewesen, den er überdies durch die Entwicklung einer integralen Lebenspraxis auch praktisch konkret gemacht hat.

Für mich ist hier Meditation ganz wichtig. Sie gibt mir überhaupt erst die Möglichkeit, mich über kurze Momente der Selbsterkenntnis hinaus selbst wahrzunehmen. Wir leben ja in einer Kultur, die das Ich, seine Wünsche, Überzeugungen und Entscheidungen sehr betont. Im Meditieren bemerke ich, dass dieses vermeintliche Ich weitestgehend ein schier unablässiges Gebrodel von Gedanken und Emotionen ist. Es ist, als würden sich die Gehirnzellen das, was über die Sinneszellen hereinkommt, zuwerfen und dabei immer wieder ein bisschen anders kombinieren. Ein großes, wildes Spiel. Das läuft fast ganz ohne mein Zutun ab. Lediglich in der Position des Beobachters, dem diese Bewegungen bewusst sind, erlebe ich so etwas wie ein Ich. Je klarer ich im Beobachten bin, je weniger ich emotional in dem drinstecke, was ich beobachte, umso stärker ist mein Empfinden der Freiheit, dass ich eine Wahl habe: wem oder was ich mich zuwende, wen oder was ich hereinlasse – und damit den weiteren Fluss dessen, was ich aufnehme, und damit wiederum auch den Fluss dessen, was meine Zellen damit machen, steuere. Aber wie oft handle ich einfach aus einem momentanen Impuls heraus!

Nach meinem Eindruck verhält es sich gesellschaftlich kaum anders. Üblicherweise meinen wir, unsere Regierung (oder ein mächtiger kleiner Club hinter den Kulissen) träfe die Entscheidungen. Das ist in etwa das Verständnis, das Kinder von ihren Eltern haben. Tatsächlich ist das Ganze aber so immens groß und komplex, dass es niemand überschauen kann. Entscheidungen werden zudem häufig übereilt von denjenigen getroffen, die grade zugegen sind. Dabei spielt die Tagesform und die unmittelbare menschliche Umgebung (also mit wem man täglich zu tun hat und wer dabei wichtig für einen ist) wahrscheinlich eine größere Rolle als Sachfragen. Hinzu kommen hier wie überall Rivalitäten, auch zwischen Einzelpersonen, Abteilungen und Ministerien, nicht nur zwischen Parteien.

Für mich gewinnt hier durch Meditationserfahrungen – auch und gerade im Gesellschaftlichen, etwa durch den Dialog und eine dialogische Haltung insgesamt – eine Vision immer mehr Gestalt: Indem wir in kleinen Gruppen (ich vermute: bis etwa 20 Personen) wirklich persönlich und in die Tiefe gehend von dem sprechen, was uns gesellschaftlich bewegt und wichtig ist, schaffen wir ein Wir – eine Analogie zum beobachtenden Ich im Gesellschaftlichen. Wir bekommen einen Eindruck und ein Gespür für den energetischen „Körper“, der wir als Gruppe, auch als gesellschaftliche Großgruppe in einem viel größeren Gewebe sind. Wenn sich jede Gruppe in so einem Geist – und damit meine ich Bewusstsein – über Schwierigkeiten austauscht und Entscheidungen trifft, dann kann sie das unter Einbeziehung aller Faktoren, die in dieser Gruppe gerade bewusst werden, tun. Ich glaube nicht, dass sie dafür jedes Detail, das sich noch finden ließe, berücksichtigen muss. Wenn im Prozess (wie es die Soziokratie vorschlägt) systemisch konsensiert wird, fällt vermutlich nichts Wesentliches unter den Tisch, weil das, was wir spüren – und sei es als vages Unbehagen – viel umfassender ist als das, was wir denken.

Zurzeit ist Multiperspektivität so gut wie sonst nie zu üben, denn wir haben alle ein Thema. Aber wie unterschiedlich ist das Verständnis, sind die Erklärungen und Gefühle! Die Corona-Krise mit ihrer ungewöhnlich langen kollektiven Auszeit hat neue Erfahrungen ermöglicht, aus denen wir für die wohl weitaus größeren Krisen der näheren Zukunft lernen können.

Der Zug, in dem wir sitzen, scheint schon über die Kante zu rasen. Wir merken es noch nicht so richtig, weil er weiterhin mit enormer Geschwindigkeit wachstums- und fortschrittsgetrieben vorwärtsschießt. Nur dass er immer weniger Boden unter den Rädern hat. Wir haben 2007/08 erlebt, wie viel unserer Geldwerte Luftnummern waren. Daran hat sich im Wesentlichen nicht viel geändert.

Ich glaube, die integrale Bewegung wird sich vor allem daran bewähren, wie es ihr gelingt, auf diese grundlegende Dynamik zu antworten. Es gibt eine Menge, was wir gesellschaftlich wie persönlich noch nicht sehen. Die Arbeit, scheint mir, ist weiterhin zu einem sehr großen Teil Schattenarbeit.

 

Endnoten

[1] Siehe hierzu mein Buch Heil und Zerstörung.

[2] Den Hinweis auf den meist unbewussten Rahmen verdanke ich Ronald Hindmarsh.

[3] Über die Revolution, München: R. Piper & Co. 19742, S. 161 f.

[4] Åke Hultkrantz: ‚Ritual und Geheimnis: Über die Kunst der Medizinmänner, oder: Was der Professor verschwieg‘, in: Der Wissenschaftler und das Irrationale, Bd. 1: Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie, hg. v. Hans Peter Duerr, Frankfurt/M.: Syndikat 1981, S. 71–95.

[5] Noah Yuval Harai: Eine kurze Geschichte der Menschheit, S. 104.

[6] Siehe hierzu Wolfram Ette: Freiheit zum Ursprung. Mythos und Mythoskritik in Thomas Manns Josephs-Tetralogie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002.

[7] 3. Bd.: Die jahwistische Urgeschichte in philosophischer Sicht, Paderborn u. a.: Schöningh 19834, in den abschließenden Betrachtungen.

[8] Nicanor Perlas: ‚Artificial Intelligence and the Global Civil Society‘, interviewt v. Thomas Steininger, Radio evolve, 18.4.2019, im Internet auf www.evolve-magazin.de/radio/artificial-intelligence-and-the-global-civil-society/ (abgerufen am 29.5.2020).

[9] Auch dieses schöne Wort verdanke ich Ronald Hindmarsh.

[10] ‚Theorie U: Von der Zukunft her führen‘, Gesprächstherapie und Personenzentrierte Beratung 4/2007, S. 202–211, hier S. 207.

[11] Wilber: Eros, Kosmos, Logos, S 41.

[12] Auch das ist nicht zwangsläufig so, aber es führt hier zu weit.

[13] Vgl. etwa Werner Leuthäusser: Die Entwicklung staatlich organisierter Herrschaft in frühen Hochkulturen am Beispiel des Vorderen Orients, Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang 1998, der den damaligen Forschungsstand recht gut wiedergibt.

 

Polonyi CarlDr. Carl Polónyi ist Historiker und arbeitet als Lektor, Übersetzer und Publizist. Er forscht zu und experimentiert mit gemeinschaftlicher Gesellschaftsbildung. Von 2008 bis 2014 Koordinator der Fachgruppe integrale Politik innerhalb des Integralen Forums.

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