Logo Integrale Perspektiven

Plädoyer für einen sozialen (und politischen) Quantensprung

Klimakrise. COVID-19-Krise. Wirtschaftskrise. Krise der biologischen Vielfalt. Die Liste der Krisen scheint heutzutage endlos zu sein, wobei sich multiple Krisen überschneiden – ein sicheres Zeichen dafür, dass etwas Größeres im Gange ist. Etwas Systemisches, das die Dinge betrifft, die wir alle schätzen, einschließlich des Lebens selbst. Die Frage ist, wie können wir die Gesellschaft mit der Frequenz, in dem Ausmaß, der Geschwindigkeit und der Tiefe transformieren, die in diesem Augenblick erforderlich sind? Es ist nicht so sehr die Frage, ob wir das können, sondern wie. Und wie können wir es auf eine Weise tun, die zu gerechten und nachhaltigen Ergebnissen führt?

Die derzeitigen Ansätze im Blick auf transformative Veränderungen scheinen unzureichend zu sein. Es ist uns nicht gelungen, die Kurve der Treibhausgasemissionen abzuflachen, Armut und Ungerechtigkeit zu beenden, die biologische Vielfalt zu schützen und eine Welt zu schaffen, in der alles Leben gedeihen kann. Die Art und Weise, wie wir auf Veränderungen reagieren und an sie herangehen, spiegelt oft die individualistischen, deterministischen, reduktionistischen und materialistischen Auffassungen der klassischen Physik wider, was zu dem Schluss führt, dass die Lösungen für diese Probleme technische und Verhaltensänderungen sind. Bei vielen dieser Ansätze werden Menschen jedoch auf zu verändernde Objekte reduziert und nicht als Subjekte oder Agenten der Veränderung anerkannt. Infolgedessen fühlen sich viele frustriert, weil sie anscheinend so wenig gegen diese komplexen globalen Probleme tun können, und haben am Ende das Gefühl, dass sie nicht wichtig sind.

Das Narrativ von der Unvermeidbarkeit lenkt unsere Aufmerksamkeit von den umfassenderen und tieferen Veränderungen ab, die für die Transformation globaler Systeme erforderlich sind, und sie trivialisiert unsere Rolle in Transformationsprozessen. Aber könnte dieser Krisenmoment nicht auch eine Gelegenheit bieten, unseren Geist für andere Ansätze des sozialen Wandels zu öffnen? Was wäre, wenn wir das Problem durch eine andere Brille betrachten würden, ein alternatives Paradigma? Können wir die abstrakte Idee des „Wichtigseins und Einfluss Habens“ (engl. „Mattering“) in groß angelegte Systemveränderungen übersetzen, die nicht nur schnell, effektiv und bahnbrechend, sondern auch gerecht, ethisch und nachhaltig sind?

Ich habe das Buch geschrieben „You Matter More Than You Think”: Quantum Social Change in Response to a World in Crisis (sozialer Quantensprung) als Antwort auf eine Welt in der Krise, um eine alternative Perspektive auf sozialen Wandel zu erkunden. Insbesondere die Möglichkeit, dass die Quantenphysik nicht nur für die mikroskopische Welt, sondern auch für die soziale Welt von Bedeutung ist.

Dieses Buch erforscht eine Quantenperspektive auf Transformationen, die als „quantum social change” bezeichnet wird. Dieses Konzept stützt sich auf ein im Entstehen begriffenes Forschungsfeld, die "Quantensozialwissenschaft", die die Begriffe Verschränkung, Komplementarität, Unbestimmtheit und Potenzialität in unser Verständnis der sozialen Welt mit aufnimmt und integriert. Die Quantensozialwissenschaft umfasst Untersuchungen dessen, was wir für real halten, und sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen unseren Überzeugungen und (deren) Sinnhaftigkeit sowie zwischen Geist und Materie. Sie betont auch die Bedeutung der Metaphern und Geschichten, die wir über uns selbst, unsere Welt und unsere Zukunft erzählen. Vor allem eröffnet sie eine Untersuchung unseres individuellen und gemeinsamen Potenzials, die Bedingungen auf dem Planeten rasch so zu verändern, dass alles Leben gedeihen kann.

Die Quantensozialwissenschaft ist keine Wissenschaft, die das soziale Leben auf die Physik reduzieren will. Stattdessen erforscht sie die mehrdeutigen Implikationen der Quantenphysik für die Beziehung zwischen Geist, Materie und Sinn. Aus der Quantenperspektive des sozialen Wandels spielt jeder einzelne Mensch eine entscheidende Rolle dabei spielt, eine Welle des Wandels auszulösen, die Veränderungen mit einer Frequenz erzeugt, die wir uns kaum vorstellen können, und dies auf der Grundlage von Werten, wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Integrität, die sich jeglicher quantitativer Messung entziehen. Eine solche Forschung impliziert, unseren Geist für die Möglichkeit zu öffnen, dass die Quantenphysik nicht nur für die mikroskopische Welt, sondern auch für die soziale Welt von Bedeutung ist. 

Warum ist dies wichtig? Die Forschung sagt uns, dass wir nur ein sehr kurzes Zeitfenster haben, um eine Klimakrise zu vermeiden. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Internationalen Energieagentur sagt uns, dass die Chance, Nachhaltigkeit zu verwirklichen, genau jetzt besteht, und er weist auf das enorme Potenzial hin, auf die COVID-19- und die Wirtschaftskrise durch die Schaffung und den Bau sauberer und widerstandsfähigerer Energiesysteme zu reagieren. Die Pandemie hat die weltweite Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit gesunder und gut funktionierender Systeme sowie auf die Bedeutung von Gemeinschaften und Beziehungen gelenkt. Krisenzeiten werfen auch tiefgreifende Fragen darüber auf, was uns wichtig ist. Für viele Menschen geht es darum, lebendig zu sein, sich verbunden zu fühlen und zu spüren, dass wir wichtig sind und dass unser Leben eine Bedeutung hat. Wir teilen eine angeborene Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Würde, Mitgefühl und Liebe. 

Die Forschung über globale Umweltveränderungen unterstreicht die wichtige Rolle, die der Mensch in den Prozessen des Erdsystems spielt. Der Mensch ist nicht von den Systemen getrennt, und wenn wir uns dieser miteinander verschränkten Beziehungen bewusst sind, können wir sowohl auf die von uns geschaffenen Risiken reagieren als auch unser Potenzial zur Erschaffung von Alternativen nutzen. Aus dieser Perspektive sind die Menschen selbst die mächtigste Lösung für den Klimawandel. Dies ist eine der wichtigsten Botschaften im Zusammenhang mit der unlängst neu ausgerufenen geologischen Epoche, die als das Anthropozän bezeichnet wird, einem Begriff, der der Tatsache Rechnung trägt, dass der Mensch zu einer mächtigen Kraft geworden ist, die die Zukunft des Planeten gestaltet. Uns selbst als Teil eines größeren Systems zu sehen erinnert uns daran, dass wir miteinander verbunden sind, sowohl durch physische Prozesse als auch durch Emotionen, Geschichten und Sinngebung. Unsere Beziehungen sind nicht trivial, und wir sind nicht trivial. Die gegenwärtigen Krisen zwingen uns, unsere Beziehungen gegenüber den großen, globalen Systemen zu überdenken und zu erkennen, dass wir tatsächlich die Fähigkeit haben, sie zu verändern. 

Die Idee eines sozialen Quantensprungs gründet auf der Erkenntnis, dass das Individuum das Kollektive ist, und dass wir die Systeme sind, die wir verändern müssen – sie sind nicht von uns getrennt. Diese Perspektive konzentriert sich auf unser individuelles und gemeinsames Potential, die Bedingungen auf dem Planeten rasch so zu verändern, dass alles Leben gedeihen kann.

Dieses Jahrzehnt ist die Zeit, unseren Geist für neue Möglichkeiten und Potenziale zu öffnen. Unabhängig davon, ob wir die Idee eines sozialen Quantensprungs als einen tatsächlichen Prozess oder als Metapher interpretieren, lädt er uns ein, darüber nachzudenken, wie jeder von uns sowohl unsere individuelle als auch unsere gemeinsame Realität beeinflussen kann und dies auch tut. Das Buch You Matter More Than You Think zielt darauf ab, uns zum Nachdenken über unser Potenzial anzuregen wie auch über unsere Handlungsmacht, die uns erlauben, rechtzeitig zu agieren, um einen tatsächlich etwas zu bewirken. Wenn wir das tun, wird uns vielleicht klar, dass wir viel wichtiger sind, als wir denken.

Ein Entwurf des Buches ist als pdf-Datei verfügbar. Er enthält wunderschöne Kunstwerke der norwegischen Künstlerin Tone Bjordam. Unser Ziel ist es, ein tieferes Gespräch über transformativen Wandel zu eröffnen und die Menschen in die Quantensprung-Initiative einzubinden.
Ein ausführliches Interview mit Karen O’Brien wird demnächst auf der LiFT-Webseite in der Rubrik „Porträts von Pionieren“ zugänglich gemacht, siehe: http://leadership-for-transition.eu/?page_id=998.

 

O Brien KarenKaren O'Brien ist norwegische Partnerin im LiFT Politics Projekt. Sie ist Professorin am Fachbereich Soziologie und Humangeographie an der Universität Oslo (Norwegen). Sie forscht seit über 30 Jahren über die soziale und menschliche Dimension des Klimawandels und dessen Auswirkungen auf die menschliche Sicherheit und ist Mitautorin mehrerer IPCC-Berichte. Ihr Hauptinteresse gilt der Rolle von Kreativität, Zusammenarbeit, Empowerment und der Arbeit mit Narrativen bei der Anpassung an den Klimawandel. Insbesondere forscht sie zur Bedeutung von Überzeugungen, Werten, Weltanschauungen und Paradigmen bei der Erzeugung bewusster sozialer Veränderungen. Hierzu gehört auch die Frage nach den Potenzialen für einen sozialen Quantensprung. Karen ist außerdem Mitbegründerin von cCHANGE, einem Unternehmen, das Transformationen im Kontext des Klimawandels unterstützt.

Logo LiFT EU

 

  

Die Medieninhalte und alle weiteren Beiträge dieser Homepage finanzieren sich über Euch, unsere Leser:innen.

Bitte unterstützt uns nach Euren Möglichkeiten – egal ob mit einer kleinen oder größeren Einzelspende oder einer monatlichen Dauerspende.


Inhaltsverzeichnis

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.